Donnerstag, 11. März 2010
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Dass der Mensch nur im Umkreis seines durch den Sinnanspruch bestimmten Wesens, und nicht im Hinblick auf sein Vorkommen, Handeln und Leisten innerhalb des Seienden zur Seinsgeschichte gehört, bedeut eine Einschränkung eigener Art. Sie kann als Auszeichnung offenbar werden , sooft das Sein selbst zu wissen gibt, was sich ereignet, wenn der Mensch sein Wesen wagen darf, das ihm durch den Vorrang des Seienden in die Vergessenheit versunken ist.
(Martin Heidegger (1889-1976)

Gibt es jemanden, der das versteht? Ich jedenfalls nicht. Aber ich bin über das „wenn der Mensch sein Wesen wagen darf“ gestolpert . Sein Wesen wagen dürfen – das hört sich nach Abenteuer und Experiment an. Nach Geheimnisvollem, das man sich zu eigen machen kann – wenn man eben nur den Mut dazu hat. Sich das nehmen, was einem eigentlich ja schon in ureigenster Form gehört. Und das ist nicht etwa etwas ganz Alltägliches. Nein – das ist ein Wagnis. Und irgendwie wird Neugier auf etwas geweckt.



Freitag, 5. März 2010
Der Umgang mit dem Unveränderlichen
Ich, der ich nichts mehr liebe,
Als die Unzufriedenheit mit dem Änderbaren
Hasse auch nichts mehr als
Die tiefe Unzufriedenheit mit dem Unveränderlichen.


Zum Teufel mit der Perle,
ich ziehe die gesunde Auster vor.

Berthold Brecht

Brecht hat sein Leben der „Unzufriedenheit mit dem Änderbaren“ gewidmet und der Nachwelt damit unvergleichliche und wichtige Werke hinterlassen, die nie ihre Aktualität einbüßen werden. Und dennoch – ein bißchen einfach ist sie schon, diese Philosophie, deren Maxime lautet: „Mit Problemen, die wir nicht ändern können, beschäftigen wir uns gar nicht erst“. Der Ausspruch über die Auster ist eine Absage an eine Sichtweise, die im Leid auch noch eine andere Seite als die des Schmerzes sieht. Für die Leid auch die Möglichkeit des Schaffens darstellt – analog der aus einem schmerzlichen Prozeß entstandenen Perle.

Naturkatastrophen und klassengeschichtlich bedingte Katastrophen werden abstrakt auf die gleiche Stufe gestellt, auf diese Weise wird der bürgerlich-dekadenten Stimmung der „Unentrinnbarkeit vor dem Abgründigen und Bodenlosen“ entsprochen und das alte Liedchen mitgesungen, daß Einsamkeit, Melancholie, Nihilismus und Schuldgefühl nicht Symptome einer zerfallenen bürgerlichen Gesellschaft seien, sondern „es sie immer gegeben hat“.
Leo Kofler

Für Kofler sind Einsamkeit, Melancholie, Nihilismus und Schuldgefühle also Symptome einer zerfallenen bürgerlichen Gesellschaft. Mit anderen Worten: der Marxismus kennt kein Unglück, da Unglück ja nur durch ungerechte Gesellschaftsformen entstehen kann. Keinen Liebeskummer, keine Angst vorm Tod, keine schmerzhaften Krankheiten – Marxismus als absolutes Allheilmittel.

Ist die Trauer jemals aufzuheben? Ist sie nicht immanent den Phänomenen des menschlich-individuellen Daseins, des irdischen, todgeweihten, vergänglichen Daseins überhaupt? Ist die Einsamkeit der Individuation, das gnadenlose Getrenntsein des Menschen vom Nächsten – der immer zugleich der Fernste ist - , wegzuschaffen durch die sozialistische Umorganisation? Ist das Bewußtsein für Vergänglichkeit und Einsamkeit nur die dekadente Stimmung spätbürgerlicher Generationen? (...) Wenn von den „heilbaren“ Schmerzen die ärgsten geheilt sind (...) dann werden die „unheilbaren“ Schmerzen sich wieder zum Worte melden, um jedes Kunstwerk wird ihre Stimme sein.
Klaus Mann

Leid und menschliches Dasein sind voneinander nicht zu trennen und werden auch nicht durch gerechtere Gesellschaftsformen behoben. Klaus Manns trauriges Resümee der menschlichen Existenz – aber ein realistisches. Es gibt keine Allheilmittel gegen menschliches Leid.

Die Schwermut ist etwas zu Schmerzliches, und sie reicht zu tief in die Wurzeln unseres menschlichen Daseins hinab, als daß wir sie den Psychiatern überlassen dürften (...) Und zwar glaube ich, daß wir die Schwermut als etwas verstehen müssen, in welchem der kritische Punkt unserer menschlichen Situation überhaupt deutlich wird.
Romano Guardini

Guardini wendet sich auch gegen die Pathologisierung des Leidens. Allerdings nicht als Folge einer marxistischen Sichweise. Vielmehr als Herausforderung des menschlichen Daseins, der man sich stellen muß.

Und mein ganz persönliches Resümee lautet: durch gesellschaftliche Mißstände bedingtes Leiden muß bekämpft werden – immer und überall und mit aller Kraft. Aber es gibt keinen Grund, das von den gesellschaftlichen Verhältnissen unabhängig existierende Leiden zu ignorieren. Und obwohl ich im tiefsten Herzen grenzenlos pessimistisch bin, glaube ich fest daran, daß das sogenannte Unveränderliche zwar selbst nicht verändert werden kann – wir können nicht Tod und Alter abschaffen – aber es kann vielleicht in uns Veränderungen hervorrufen. Diese Veränderungen sind viel subtiler und vielschichtiger als die gesellschaftlichen. Aber sie sind möglich.



Samstag, 6. Februar 2010
Paul Ricæur - Das Rätsel der Vergangenheit. Erinnern-Vergessen-Verzeihen
Gestern habe ich einen hochinteressanten Artikel des französischen Philosophen Paul Ricæur (1913-2005) gelesen, in dem es um das Verzeihen geht. Was mich an dem Artikel so beeindruckt, ist nicht nur die Tatsache, daß jemand sich die Mühe macht, diesen Begriff philosophisch zu durchleuchten, sondern vielmehr das kritische Hinterfragen eines Begriffs, der normalerweise grundsätzlich positiv besetzt wird. Sich dem fast schon heiligen Begriff des Verzeihens kritisch zu nähern, stellt etwas höchst Ungewöhnliches dar. Paul Ricæur geht nicht nur kritisch mit dem Begriff des Verzeihens um, sondern er spricht sogar von der Leichtfertigkeit im Umgang mit Verzeihen oder von der pervertierten Form des Verzeihens und er mahnt ausdrücklich vor dem leichten Verzeihen.

Der Artikel ist schwierig zu lesen, was vielleicht auch an der deutschen Übersetzung liegen mag. Ich mußte ihn mindestens viermal lesen und es gibt immer noch Passagen, die sich mir nicht erschließen.

Ricæur definiert das Verzeihen als eine Form des aktiven Vergessens, das er scharf abgrenzt gegen das passive Vergessen. Er schafft analog zum passiven Vergessen den Begriff eskapistisches Verzeihen (escape = flüchten, fliehen) mit dem er das Verzeihen als Flucht vor der eigentlichen Auseinandersetzung meint. Dem eskapistischen Verzeihen wirft er vor, zwar nicht das Ereignis an sich zu vergessen, aber dessen Bedeutung und ihren Ort im Sinne der Dialektik des geschichtlichen Bewußtseins.

Ricæur schafft weitere Kategorien, so das Verzeihen aus Selbstgefälligkeit, dem er vorwirft, sich damit die Pflicht der Erinnerung zu ersparen. Eine weitere Kategorie ist die des Verzeihens aus Wohlwollen, das sich einfach nur der Gerechtigkeit entziehen will und insgeheim nur jemandem Straffreiheit verschaffen möchte. Ein Teil der theologischen Tradition ist für Ricæur das Verzeihen aus Nachsicht, das für ihn Freispruch durch Vergebung bedeutet.

Endlich kommt aber auch ein Begriff des Verzeihens, der dem Ideal entspricht. Dies ist für Ricæur das schwere Verzeihen. Diese Form des Verzeihens nimmt die Tragik des Handelns ernst und zielt auf die Quelle der Konflikte und der Verfehlungen, die der Vergebung bedürfen. Es handelt sich darum, die Knoten unauflöslicher Konflikte zu lösen und nicht einfach nur auf der Ebene einer berechenbaren Bilanz ein Sollsaldo zu löschen. Als ersten Knoten bezeichnet Ricæur eben diese unauflöslichen Konflikte, als zweiten zu lösenden Knoten bezeichnet er die nicht wiedergutzumachenden Schäden und Verbrechen.

Für Ricæur muß an der Schuld selbst Trauerarbeit geleistet werden. Und dann zieht er eine Parallele, die normalerweise übersehen wird: das eskapistische Vergessen und die endlose Verfolgung der Schuldigen haben ihren Grund in derselben Problematik. Dies heißt, es muß eine Grenze gezogen werden zwischen Amnesie und unendlicher Schuld.

Ziel des Verzeihens muß sein, daß das Vergangene aufhören muß, die Gegenwart zu verfolgen um so zu verhindern, daß es eine Vergangenheit gibt die "nicht gehen will“.

Wenn ich hier mal den Bogen spanne zu Ricarda Huchs Gedicht Mein Herz mein Löwe, dann stellt Ricæurs Theorie für mich eine Art Versöhnungsversuch dar. Das Recht auf Haß einerseits – und die Chance des Verzeihens anderseits. Ein Verzeihen, daß entideologisiert ist vom rein Guten. Ein Verzeihen, das harte Arbeit bedeutet – für den, der verzeiht sowie für den, dem verziehen wird.



Mittwoch, 20. Januar 2010
Ausdruck der Seele
Ich kann mir keinen Zustand denken, der mir unerträglicher und schauerlicher wäre, als bei lebendiger und schmerzerfüllter Seele der Fähigkeit beraubt zu sein, ihr Ausdruck zu verleihen.

Michel de Montaigne (1533-1592)

Es bleibt vieldeutig, was Montaigne mit «Ausdruck der Seele» meinen könnte. Vielleicht meint er die Verletztheit, die eine Seele empfinden kann, vielleicht auch die Wut oder die Angst. Vielleicht auch die Liebe zu jemandem oder die Abneigung gegen jemanden. Aber zu einer lebendigen Seele gehört für Montaigne die Fähigkeit, Gefühle nicht nur zu haben, sondern diese auch auszudrücken.

Und obwohl Montaigne vor über 400 Jahren gelebt hat, deckt sich seine Erkenntnis mit der heutiger Psychologie. Es macht krank, sich verstellen zu müssen. Wenngleich genau dies meist von der Gesellschaft gefordert wird. Und zwar zu allen Zeiten und in allen Kulturen. Obrigkeiten akzeptieren, gesellschaftliche Rollen erfüllen, Verantwortung tragen – all dies ist mit dem Gebot verbunden, seine Gefühle unterdrücken zu müssen. Und wenn dies sich erst einmal verfestigt hat, geht auch die Fähigkeit des Ausdrucks verloren. Dann ist aus einer Entscheidung ein Zustand geworden.

Aber man kann gegen dieses Gebot auch rebellieren. Auch das ist zu jeder Zeit und überall geschehen. Rebellion gegen selbsternannte unfähige Autoritäten. Gegen absurde Rollenvorschriften. Gegen zuviel Verantwortung. Gegen Ungerechtigkeit. Und es ist diese Rebellion, die die Seele braucht. Durch die sie ihre Lebendigkeit bewahrt. Und durch die sie ihr Menschsein lebt. Denn genau dies ist der Gegensatz zur leblosen Maschine, die sich einfach nur steuern und bedienen läßt ohne sich selbst Ausdruck zu schaffen.

Das klare und laute Nein gegen all das, was eine Seele krank macht.



Samstag, 19. Dezember 2009
Vielen Dank Herr Kant (und Herr Nietzsche)
Er (der Mensch von melancholischer Gemütsverfassung) hat ein hohes Gefühl von der Würde der menschlichen Natur. Er schätzet sich selbst und hält einen Menschen vor ein Geschöpf, das da Achtung verdienet. Er erduldet keine verworfene Untertänigkeit und atmet Freiheit in einem edlen Busen. Alle Ketten, von denen vergoldeten an, die man am Hofe trägt, bis zu dem schweren Eisen des Galeerensklaven sind ihm abscheulich. Er ist ein strenger Richter seiner selbst und anderer, und nicht selten seiner so wohl als der Welt überdrüssig.

Immanuel Kant

Eine nicht sehr weit verbreitete Ansicht, daß die Melancholie - heute sagt man Depression - aufs Engste mit Freiheitsdrang und Würde verwoben ist. Wer seine Würde geachtet wissen will und wer nicht in Ketten leben will, kann eigentlich nur depressiv werden. Jemand, der nicht treten will und auch nicht getreten werden will - was hat der schon für eine Chance im Leben?

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Beim Lesen eines Nietzsche Gedichtbands stieß ich auf sehr ähnliche Zeilen:

Der Einsame

Verhaßt ist mir das Folgen und das Führen.
Gehorchen? Nein! und aber nein - Regieren!
Wer sich nicht schrecklich ist, macht niemand Schrecken:

und nur wer Schrecken macht, kann andere führen.
Verhaßt ist mir's schon , selber mich zu führen!
Ich liebe es, gleich Wald- und Meerstieren,
mich für ein gutes Weilchen zu verlieren,
in holder Irrnis grüblerisch zu hocken,
von ferne her mich endlich heimzulocken,
mich selbst zu mir selber - zu verführen.


Der Titel spannt den Bogen zu dem Ausspruch Kants. Die Verweigerung des Führens und Folgens ist nicht lediglich eine Lebenseinstellung oder eine Charaktereigenschaft. Es macht den Menschen eben auch einsam. Denn im menschlichen Miteinander ist wenig Platz für solche Individualisten. Und die Einsamkeit ist immer auch der Schritt hin zur Melancholie.

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Und Else Lasker Schüler hat dies anders ausgedrückt. Nicht mit Melancholie oder Einsamkeit. Sondern mit Aufbegehren und Leidenschaft. Ihre Zeilen brennen wie Feuer:

Mein Tanzlied

Aus mir braust finst're Nachtmusik
Meine Seele kracht in tausend Stücken!
Der Teufel holt sich mein Missgeschick
Um es ans brandige Herz zu drücken.
Die Rosen fliegen mir aus dem Haar
Und mein Leben saust nach allen Seiten,
So tanz' ich schon seit tausend Jahr,
Seit meiner ersten Ewigkeiten


Else Lasker-Schüler (1889 – 1945)

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Leben jenseits fetter Behäbigkeit. Da muß es auch geben. Sogar zwingend. Sonst ersticken wir irgendwann.



Sonntag, 18. Oktober 2009
Das Dumme an der Dummheit
Ich werde von einigen Freunden immer mal wieder darauf angesprochen, warum ich mich denn so oft über Dummheit aufrege und schnell fällt dann der Vorwurf der Arroganz. Erstes stimmt, letzteres nicht. Ich lebe nicht in dem Glauben, intelligenter als andere zu sein. Wenn ich versuche, mich mit philosophischen Texten zu befassen, brauche ich oftmals Stunden für nur ein- bis zwei Seiten und ich stoße schnell an meine geistigen Grenzen. Obwohl ich Rilke liebe, gibt es viele Gedichte von ihm, deren Sinn mir nicht aufgeht. Die Quantenphysik wird mir trotz großem Interesse immer ein Rätsel bleiben. Das, was mich – zugegebenermaßen – so oft zutiefst aufregt, ist nicht die Dummheit als Gegensatz der Intelligenz. Das wäre in der Tat arrogant. Das Charakteristische an der Dummheit ist nicht das Nicht-Wissen. Das Charakteristische an der Dummheit ist das Nicht-Wissen-Wollen. Gewissermaßen das Zelebrieren des Verharrens im Nicht-Denken. Dummheit ist die kategorische Ablehnung des Wortes Warum. Die strikte Verweigerung des Suchens nach Ursachen.

Dummheit ist keine Eigenschaft. Dummheit ist ein freiwillig erwählter Zustand. Eine Entscheidung für das Verblöden und gegen die Weiterentwicklung. Und Dummheit ist gefährlich. Sogar extrem gefährlich. Kommandos werden oft von intelligenten Menschen gegeben – befolgt werden sie aber meist von dummen. Die Atombombe ist von höchst intelligenten Menschen entwickelt worden. Gezündet wurde sie von weniger intelligenten Menschen.

Das eigentlich Dumme an der Dummheit ist jedoch ihre Dominanz. Wenn Dummheit und Intelligenz zusammentreffen, dann hat grundsätzlich die Dummheit die Oberhand. Denn die Intelligenz ist gezwungen, sich auf das Niveau der Dummheit zu begeben – der umgekehrte Weg ist naturgemäß nicht möglich. Dummheit setzt da einen Punkt, wo eigentlich noch Vieles folgen müßte. Wo ein Für-und-Wider und ein Nachdenken unentbehrlich wäre. Dummheit setzt Grenzen, an denen sich andere den Kopf einrennen. Und Dummheit kann zu einer gefährlichen Waffe werden, mit der man auf andere einschlägt.

Nein, liebe Freunde; Wut auf Dummheit ist kein Zeichen von Arroganz. Vielmehr ein Zeichen von Leiden. Dummheit kann nämlich wehtun – zumindest den anderen.



Dienstag, 22. September 2009
Das Spiel ist aus
In dem Werk "Das Spiel ist aus" beschreibt Jean-Paul Sartre die Welt des Todes als parallel zur Welt der Lebenden existierend. Allerdings für alle Lebenden unsichtbar. Wer stirbt, tritt ein in eine Welt der Verstorbenen. Dies beschreibt Sartre auch sehr plastisch, indem er einige Personen der Geschichte aufzählt und beschreibt, wie z.B. auch einen in der Zeit der französischen Revolution Guillotinierten, der mit seinem Kopf unter dem Arm herumläuft.

Sartre war überzeugter Atheist und hat dieses Szenario nur als dramaturgisches Mittel eingesetzt um die Konfrontation mit dem Tod zu beschreiben, bzw. die Aufgabe des Menschen, seiner Existenz gemäß zu leben. Die Aufgabe, sein Leben nicht an falsche Ziele zu verschenken.

Dennoch lohnt es sich, sich in die Vorstellung zu vertiefen, alles Vergangene plötzlich wieder um sich zu haben. Die Menschen, die man geliebt hat genauso wie die Menschen, die man gehaßt hat. Man würde bei Spazierengehen ebenso seiner Urgroßmutter und Rilke begegnen können wie seinen geldgeiernden Verwandten oder Goebbels. Liebe Freunde wären da, denen man erzählen könnte, wie es der Welt seit deren Tod ergangen ist. Und miese Zeitgenossen, über deren Tod eigentlich niemand wirklich traurig war und die nun wieder Schaden anrichten können.

Das Reich der Toten wäre nicht nur ein enorm übervölkerter Ort, sondern auch ein ständig wachsender. Wie eine Trabantenstadt. Ein Ort, der auf merkwürdige Weise geschichtslos wäre. Die die Geschichte gestaltenden Personen wären zwar präsent, aber nicht mehr in ihrer Zeit. Hitler würde genauso den Millionen getöteter Juden wiederbegegnen wie auch den Siegermächten. Große Naturwissenschaftler würden erleben, wie sich ihre Theorien bewahrheitet haben - oder eben auch nicht. Und buddhistische Reinkarnierte würde tatsächlich ihrem früheren Ich begegnen können - oder aber die Erfahrung machen, daß es dieses doch nicht existiert.

Es wäre wohl kaum erträglich, in einer Sphäre der Zeitlosigkeit der Vergangenheit ausgesetzt zu sein. Sämtlichen Fehlern, die die Menschen als Gesamtheit und der Mensch als Individuum begangen haben, ins Auge schauen zu müssen.

Gut zu wissen, daß es so nicht sein wird.

Obwohl die Möglichkeit eines Gesprächs mit Diogenes und Hesse sehr verlockend wäre. Für ersteren würde ich sogar meine geringen Griechischkenntnisse vertiefen....



Samstag, 8. August 2009
Armut
Armut hat ein häßliches Gesicht.

Armut ist das Nicht-Schöne.
Armut ist das Nicht-Einfache.
Armut ist das Nicht-Haben.
Armut ist die Nicht-Möglichkeit.
Armut ist das Nicht-Wählen-dürfen.

Eine häßliche Wohnung.
Ein häßlicher Stadtteil.
Eine dreckige, laute Arbeit.

Ein Zutrittsverbot.
Ein Ausschlussverfahren.
Ein Nicht-Dabeisein.
Ein Nichts-abbekommen.


Warum regt das außer mir eigentlich niemanden auf?



Freitag, 31. Juli 2009
Ehrgeiz – oder was haben Rubens, Storm und Farinelli gemeinsam?
Gerade habe ich in einem Artikel über Rubens gelesen, daß dieser auch als Diplomat tätig war. Er wurde während des dreißigjährigen Krieges von der Infantin Isabella von Brüssel ihrem Bruder Philipp IV von Spanien als Mittler zwischen England und Spanien empfohlen. Rubens kam dieser Mission auch nach und er erreichte es auch tatsächlich, den englischen Karl I für den Frieden mit Spanien zu gewinnen. Die freiheitsliebenden Niederländer jedoch ließen sich allerdings davon nicht beeinflussen und führten ihren Freiheitskampf weiter. Als Rubens dann der Posten des stellvertretenden Botschafters in London angeboten wird, flehte er Isabella an, ihn von allen diplomatischen Missionen zu befreien. Und jetzt kommt der Ausspruch Rubens’, aufgrund dessen ich diesen Artikel hier wiedergebe:

„Ich habe beschlossen, meine Freiheit wiederzugewinnen, indem ich den goldenen Knoten des Ehrgeizes durchschneide“.

Mir war Rubens nur als Maler bekannt und ich bin beeindruckt von dessen Sprachgewandtheit. Ehrgeiz als „goldenen Knoten“ zu bezeichnen, kann so auch nur von einem Künstler, einem außergewöhnlichem Menschen formuliert werden. Ein Knoten, der etwas einengt, festhält und behindert. Genau das ist Ehrgeiz. Nicht für jeden, aber für Menschen, die zu Höherem berufen sind. Denn Ehrgeiz fördert meist nicht das Beste eines Menschen sondern nur das Erfolgreichste. Und das reicht bei weitem nicht immer an das Beste heran.

In Dichterkreisen ist diese Sichtweise nicht neu und immer wieder Gegenstand der Dichtung:

„Was du immer kannst, zu werden,
Arbeit scheue nicht und Wachen;
Aber hüte deine Seele
Vor dem Karrieremachen.

Wenn der Pöbel aller Sorte
Tanzet um die goldenen Kälber,
Halte fest: du hast vom Leben
Doch am Ende nur dich selber“


Theodor Storm (1817- 1888)

Um den Kreis der Künstler zu schließen, füge ich jetzt noch einen Ausschnitt aus dem Film „Farinelli“ von Gérard Corbiau an. Im Film geht es um den im 18. Jahrhundert berühmt gewordenen Sänger Farinelli, der schon als Kind über eine außergewöhnlicher Stimme und Gesangstalent verfügte. Um diese wunderschöne Stimme zu erhalten, entscheidet die ehrgeizige Familie des Jungen seine Kastration. In der hier gezeigten Szene wird Farinellis Erinnerung daran dargestellt. Auf der Bühne ein gefeierter Opernsänger, aber abseits der Oper ein durch die Verstümmelung traumatisierter, um seine Männlichkeit Trauernder. Dazu die wundervolle Musik von Händel, den Farinelli sehr verehrte, ohne daß diese Verehrung erwidert wurde. Lascia chio Pianga, es lohnt sich, bis zum Ende zu sehen (und zu hören):



Als Information über das Leben Farinellis:
http://www.dradio.de/dlr/sendungen/kalender/339392/



Mittwoch, 29. Juli 2009
Wenn Sisyphos’ Stein nicht mehr rollt
Hat man schon mal darüber nachgedacht, was passieren würde, wenn Sisyphos von seinem Fluch erlöst werden würde? Wenn der Stein endlich auf dem Berge liegen bleiben und Sisyphos sich ausruhen dürfte?

Das Zu-Ende-bringen einer Aufgabe. Das Erreichen eines Ziels. Die Umsetzung einer Idee. Stillstand. Ruhe. Raum für Neues.

Das Beenden mühevoller Wege. So wie bei Reformen. Umstürzen. Revolutionen. Was folgte, nachdem das Ziel erreicht war, war niemals das Erwartete. Der Stillstand hat nicht die Erlösung gebracht, die so sehnlichst gewünscht wurde. Rußland, China, Iran. Auch wenn man nicht in die Ferne schaut, kann man sehen, daß das Stillstehen des Steins den Menschen nicht das erhoffte Glück gebracht hat. Menschen können träge werden. Und ein Zuviel kann unzufriedener machen als ein Zuwenig.

Anscheinend hat Camus erkannt, daß der Fluch des Sisyphos der eigentliche Segen der Menschen ist. Die Bewegung auf ein Ziel hin. Das Sich-Anstrengen für eine Sache. Das Wollen. Das In-Anspruch-genommen-Sein von etwas.

Sisyphos ist ein Verfluchter. Aber sein Fluch schützt ihn vor noch Schlimmeren.