Ausdruck der Seele
Ich kann mir keinen Zustand denken, der mir unerträglicher und schauerlicher wäre, als bei lebendiger und schmerzerfüllter Seele der Fähigkeit beraubt zu sein, ihr Ausdruck zu verleihen.

Michel de Montaigne (1533-1592)

Es bleibt vieldeutig, was Montaigne mit «Ausdruck der Seele» meinen könnte. Vielleicht meint er die Verletztheit, die eine Seele empfinden kann, vielleicht auch die Wut oder die Angst. Vielleicht auch die Liebe zu jemandem oder die Abneigung gegen jemanden. Aber zu einer lebendigen Seele gehört für Montaigne die Fähigkeit, Gefühle nicht nur zu haben, sondern diese auch auszudrücken.

Und obwohl Montaigne vor über 400 Jahren gelebt hat, deckt sich seine Erkenntnis mit der heutiger Psychologie. Es macht krank, sich verstellen zu müssen. Wenngleich genau dies meist von der Gesellschaft gefordert wird. Und zwar zu allen Zeiten und in allen Kulturen. Obrigkeiten akzeptieren, gesellschaftliche Rollen erfüllen, Verantwortung tragen – all dies ist mit dem Gebot verbunden, seine Gefühle unterdrücken zu müssen. Und wenn dies sich erst einmal verfestigt hat, geht auch die Fähigkeit des Ausdrucks verloren. Dann ist aus einer Entscheidung ein Zustand geworden.

Aber man kann gegen dieses Gebot auch rebellieren. Auch das ist zu jeder Zeit und überall geschehen. Rebellion gegen selbsternannte unfähige Autoritäten. Gegen absurde Rollenvorschriften. Gegen zuviel Verantwortung. Gegen Ungerechtigkeit. Und es ist diese Rebellion, die die Seele braucht. Durch die sie ihre Lebendigkeit bewahrt. Und durch die sie ihr Menschsein lebt. Denn genau dies ist der Gegensatz zur leblosen Maschine, die sich einfach nur steuern und bedienen läßt ohne sich selbst Ausdruck zu schaffen.

Das klare und laute Nein gegen all das, was eine Seele krank macht.