Der Umgang mit dem Unveränderlichen
Ich, der ich nichts mehr liebe,
Als die Unzufriedenheit mit dem Änderbaren
Hasse auch nichts mehr als
Die tiefe Unzufriedenheit mit dem Unveränderlichen.


Zum Teufel mit der Perle,
ich ziehe die gesunde Auster vor.

Berthold Brecht

Brecht hat sein Leben der „Unzufriedenheit mit dem Änderbaren“ gewidmet und der Nachwelt damit unvergleichliche und wichtige Werke hinterlassen, die nie ihre Aktualität einbüßen werden. Und dennoch – ein bißchen einfach ist sie schon, diese Philosophie, deren Maxime lautet: „Mit Problemen, die wir nicht ändern können, beschäftigen wir uns gar nicht erst“. Der Ausspruch über die Auster ist eine Absage an eine Sichtweise, die im Leid auch noch eine andere Seite als die des Schmerzes sieht. Für die Leid auch die Möglichkeit des Schaffens darstellt – analog der aus einem schmerzlichen Prozeß entstandenen Perle.

Naturkatastrophen und klassengeschichtlich bedingte Katastrophen werden abstrakt auf die gleiche Stufe gestellt, auf diese Weise wird der bürgerlich-dekadenten Stimmung der „Unentrinnbarkeit vor dem Abgründigen und Bodenlosen“ entsprochen und das alte Liedchen mitgesungen, daß Einsamkeit, Melancholie, Nihilismus und Schuldgefühl nicht Symptome einer zerfallenen bürgerlichen Gesellschaft seien, sondern „es sie immer gegeben hat“.
Leo Kofler

Für Kofler sind Einsamkeit, Melancholie, Nihilismus und Schuldgefühle also Symptome einer zerfallenen bürgerlichen Gesellschaft. Mit anderen Worten: der Marxismus kennt kein Unglück, da Unglück ja nur durch ungerechte Gesellschaftsformen entstehen kann. Keinen Liebeskummer, keine Angst vorm Tod, keine schmerzhaften Krankheiten – Marxismus als absolutes Allheilmittel.

Ist die Trauer jemals aufzuheben? Ist sie nicht immanent den Phänomenen des menschlich-individuellen Daseins, des irdischen, todgeweihten, vergänglichen Daseins überhaupt? Ist die Einsamkeit der Individuation, das gnadenlose Getrenntsein des Menschen vom Nächsten – der immer zugleich der Fernste ist - , wegzuschaffen durch die sozialistische Umorganisation? Ist das Bewußtsein für Vergänglichkeit und Einsamkeit nur die dekadente Stimmung spätbürgerlicher Generationen? (...) Wenn von den „heilbaren“ Schmerzen die ärgsten geheilt sind (...) dann werden die „unheilbaren“ Schmerzen sich wieder zum Worte melden, um jedes Kunstwerk wird ihre Stimme sein.
Klaus Mann

Leid und menschliches Dasein sind voneinander nicht zu trennen und werden auch nicht durch gerechtere Gesellschaftsformen behoben. Klaus Manns trauriges Resümee der menschlichen Existenz – aber ein realistisches. Es gibt keine Allheilmittel gegen menschliches Leid.

Die Schwermut ist etwas zu Schmerzliches, und sie reicht zu tief in die Wurzeln unseres menschlichen Daseins hinab, als daß wir sie den Psychiatern überlassen dürften (...) Und zwar glaube ich, daß wir die Schwermut als etwas verstehen müssen, in welchem der kritische Punkt unserer menschlichen Situation überhaupt deutlich wird.
Romano Guardini

Guardini wendet sich auch gegen die Pathologisierung des Leidens. Allerdings nicht als Folge einer marxistischen Sichweise. Vielmehr als Herausforderung des menschlichen Daseins, der man sich stellen muß.

Und mein ganz persönliches Resümee lautet: durch gesellschaftliche Mißstände bedingtes Leiden muß bekämpft werden – immer und überall und mit aller Kraft. Aber es gibt keinen Grund, das von den gesellschaftlichen Verhältnissen unabhängig existierende Leiden zu ignorieren. Und obwohl ich im tiefsten Herzen grenzenlos pessimistisch bin, glaube ich fest daran, daß das sogenannte Unveränderliche zwar selbst nicht verändert werden kann – wir können nicht Tod und Alter abschaffen – aber es kann vielleicht in uns Veränderungen hervorrufen. Diese Veränderungen sind viel subtiler und vielschichtiger als die gesellschaftlichen. Aber sie sind möglich.