Samstag, 18. Dezember 2010
Überschwänglichkeit oder lieber laues Mittelmaß? – Nachschlag zum Thema Überschwänglichkeit
Überschwänglichkeit verursacht in erster Linie Probleme, wenn sie sich im Negativen, also in der Kritik, äußert. Leicht nachzuempfinden, da begreiflicherweise niemand gern heftig und impulsiv kritisiert wird. Die andere Seite der Überschwänglichkeit ist die der überschäumenden Freunde an oder über etwas. Die Lust an der Erfüllung der Wünsche, am Erhalt des Ersehnten. Das kann nur der empfinden, der überhaupt Wünsche und Sehnsüchte hat. Wer die gar nicht kennt, fühlt sich durch Überschwänglichkeit befremdet und verunsichert.

Die Kritiker der Überschwänglichkeit sind Verfechter des Mittelmaßes. Kritik ist bei ihnen nie akut und heftig, sondern chronifiziert und leblos. Was allerdings nicht gleichbedeutend mit dem Zustand der Zufriedenheit ist. Wer sich die laute und heftige Kritik verbietet, ist noch lange nicht still. Jene Menschen, denen jegliche Leidenschaft für oder gegen etwas fehlt, sind Spezialisten für das kontinuierliche Nörgeln im Hintergrund. Unmut wird nie zum Thema gemacht, ist aber dennoch immer präsent. Hier eine abfällige Bemerkung über jemanden, dort ein geringschätziger Kommentar – und dies gern indirekt in Form von Anspielungen. Diskussionen sind auch gar nicht erwünscht, denn um Klärung oder gar Behebung eines Kritikpunktes geht es auch gar nicht.

So wie den Gegnern der Überschwänglichkeit jegliche Leidenschaft in der Kritik oder Ablehnung fehlt, so fehlt ihnen auf der anderen Seite auch jegliche Beigeisterung für das Schöne im Leben. Sie schwärmen nie von etwas, sie verehren nichts, sie haben in keiner Sache Herzblut – für sie liegt der Ausdruck der Zustimmung schon allein darin, sich negativer Kommentare zu enthalten.

Ein schönes Beispiel ist hierfür immer wieder ein Restaurantbesuch mit diesem Menschentyp. Die Anhänger der lauen Mittelmäßigkeit nutzen jede Gelegenheit um ein Essen, das nicht so wie gewohnt schmeckt, mit negativen Kommentaren zu bedenken. Schmeckt es ihnen hingegen gut, dann gibt es für sie nichts Abwegigeres, als dies zu äußern. Auf eine Nachfrage reagieren sie deswegen immer leicht erstaunt. „Wozu um Himmelswillen soll man denn etwas ausdrücklich loben?“. Soooo wichtig ist das ja nun auch nicht.

Der Anhänger der lauen Mittelmäßigkeit kämpft weder für noch gegen etwas. Zum einen fehlt ihm hierfür die Leidenschaft. Zum anderen ist es für ihn die Garantie dafür, selbst auch niemals bekämpft zu werden. Sein Unmut explodiert niemals, sondern plänkelt leise vor sich hin. Gefühlsausbrüchen oder Leidenschaft wird ein eiserner Riegel vorgeschoben. Der Nachteil dabei ist allerdings, dass dieser eiserne Riegel alle anderen Gefühle gleich mit einschließt.

Dem Anhänger der lauen Mittelmäßigkeit ist die Überschwänglichkeit ein Dorn im Auge, denn sie gefährdet seine wohltemperierte Balance. Und stellt einen unbequemen Appell an seine Gefühlsarmut dar. Der Anhänger der lauen Mittelmäßigkeit macht aus der Welt ein Sanatorium, in dem aus Rücksicht auf die anderen nur leise gesprochen werden darf. In dem es keine Hochs und keine Tiefs gibt, weil dies seine Ruhe gefährden würde – sein Ideal ist die lauwarme Zimmertemperatur. Aus der Perspektive seines wohlig warmen Zimmers sieht er dem Treiben der Welt zu, ohne sich daran zu beteiligen.

Es soll sich möglichst wenig bewegen in der kleinen überschaubaren Welt des Verfechters des lauen Mittelmaßes. Denn das ist es, was er liebt und braucht - den Stillstand.



Donnerstag, 18. November 2010
Was ist eigentlich ein Gutmensch?
Dieser Ausdruck wird erst seit einigen Jahren häufig verwendet und somit muss es sich um etwas handeln, das es früher nicht gab. Oder es muss sich um etwas handeln, dass es früher zwar gab, aber das damals so normal war, dass es keines speziellen Ausdrucks bedurfte. Aber das bringt mich in meiner Fragestellung auch nicht weiter. Ich fasse hier mal ein paar der gängigen Kriterien zusammen:

Jemand, der nicht ausschließlich an sich selbst denkt, sondern auch ab und zu auch mal an andere – ist ein Gutmensch?

Jemand, der sich von Zeit zu Zeit vor Augen hält, dass es vielen Menschen schlechter als ihm selbst geht – ist ein Gutmensch?

Jemand, der Solidarität und Authentizität für etwas Unverzichtbares hält – ist ein Gutmensch?

Jemand, der nicht einfach Abfall auf die Straße wirft und keine Eier aus Legebatterien kauft – ist ein Gutmensch?

Jemand, den es anwidert, wenn sich völlig undifferenziert und beleidigend über soziale Minderheiten geäußert wird – ist ein Gutmensch?

Jemand, dem es gegen den Strich geht, dass Menschen mit sehr viel Geld sich an Menschen mit sehr wenig Geld bereichern - ist ein Gutmensch?

Es gab einen Ausdruck, der dem des Gutmenschen vielleicht in etwa entspricht: „Moralapostel“ oder auch die Umschreibung „päpstlicher als der Papst sein“. Damit hat man jemanden bezeichnet, der es mit seiner Moral ein wenig übertrieb und dabei schon fast ins Asketische abdriftete. Aber ich glaube, dass trifft nicht den Kern des Begriffs des Gutmenschen.

Wieso kam man früher ohne diesen Ausdruck aus? Gab es all die dem Gutmenschen zugeschriebenen Einstellungen und Verhaltensweisen nicht? Oder wurden die einfach als etwas ganz Normales angesehen? Dann wäre der Gutmensch ein lebender Anachronismus, einer der die Zeichen der Zeit nicht mitbekommen hat. Dessen Horizont stehengeblieben ist. Der immer noch glaubt, die Erde sei eine Scheibe.

Ich glaube, Gutmenschen gab es schon immer und überall. Der Gutmensch war etwas Stinknormales – so stinknormal, dass es für ihn noch nicht einmal einen Ausdruck gab. Aber irgendwann wurde es unmodern, ein Gutmensch zu sein. Ein neuer Typus tauchte auf, der sich breitmachte. Und von dem Augenblick an wurde es erforderlich, dem Auslaufmodell einen Namen zu geben. Und so wurde der Ausdruck des Gutmenschen geboren.

Wozu braucht man eigentlich diesen Ausdruck? Man braucht ihn, um das Unzeitgemäße hervorzuheben. Das Zurückgebliebene. Das, was schon längst überholt ist. Man braucht diesen Begriff, um etwas, das grundsätzlich positiv bewertet wurde – Sozialverhalten, Solidarität, Umweltbewusstsein, Mitmenschlichkeit – endlich mal von seinem Podest herunterzuholen und der Lächerlichkeit preiszugeben.

Der Ausdruck des Gutmenschen ist unentbehrlich seit dem Richtungswechsel. Der Wechsel weg vom Sozialverhalten hin zum Egoismus. Der Begriff des Gutmenschen war überfällig und ist zwingend erforderlich. Um Egoismus aufzuwerten und gesellschaftsfähig zu machen.



Sonntag, 7. November 2010
Manchmal irren auch große Dichter
Es bleibt einem jeden immer noch so viel Kraft, das auszuführen, wovon er überzeugt ist.
Johann Wolfgang von Goethe (1749-1832)

Schön wär’s ja, aber leider ist das in der Realität nicht immer so.

In meiner Tageszeitung gibt es einen täglichen Aphorismus, und manche davon schreibe ich auf. So auch diesen hier. Obwohl der eigentlich gar nicht zutrifft.

Überzeugungen können schwinden. Oder sich langsam aufreiben. Die Ursachen hierfür sind vielfältig. Vielleicht resigniert der Mensch einfach irgendwann, wenn sich nie Erfolg einstellt. Vielleicht weiß man irgendwann einfach nicht mehr genau, wovon man eigentlich überzeugt ist. Oder zweifelt daran, ob der Aufwand lohnt.

Es gibt sicherlich Überzeugungen, für die die Kraft nie ausgeht. Wenn jemand überzeugt ist davon, einmal viel Geld zu verdienen. Oder wenn jemand davon überzeugt ist, seinen Vorteil durchzusetzen. Oder davon, sich durchzuboxen. Oder sich jedem und allem anzupassen. Dann ist der natürliche Egoismus die Kraftquelle. Und die ist somit unerschöpflich.

Bei Überzeugungen ideeller Art ist es aber schwieriger. Wer überzeugt davon ist, dass man gegen Ungerechtigkeit kämpfen sollte, braucht dafür viel Kraft. Und einen langen Atem. Aber manchmal geht die Puste aus. Man wird müde und muss sich ausruhen.

Manchmal braucht man auch eine Schulter, an die man sich lehnen kann. Aber Schultern werden seltener. Und selbst wenn sich doch eine findet, reicht auch das irgendwann nicht mehr. Und deswegen stimmt es nicht, was Goethe schreibt. Manchmal bleibt einfach nicht mehr genug Kraft, um das auszuführen, wovon man überzeugt ist. Der Mensch ist kein Pepetuum mobile und funktioniert nicht einfach aus sich heraus.



Samstag, 16. Oktober 2010
Sehnsucht
Alles beginnt mit der Sehnsucht, immer ist im Herzen Raum für mehr, für Schöneres, für Größeres.
Nelly Sachs (1891 – 1970)

Dieses Zitat stellt das Thema eines Seminars ignatianischer Exerzitien dar, in dem es darum geht, dem je eigenen Lebensweg nachzuspüren.

Und ich denke ein wenig über den Begriff Sehnsucht nach:

Leidet man eigentlich an Sehnsucht? Oder bezieht man aus der Sehnsucht Stärke?

Was passiert eigentlich mit nicht erfüllter Sehnsucht? Und was mit erfüllter?

Was folgt auf eine erfüllte Sehnsucht? Glück oder Gewöhnung?

Bedeutet erfüllte Sehnsucht Stillstand?

Ist die Sehnsucht immer etwas Ursprüngliches oder kann Sehnsucht auch nur ein fader Ersatz für etwas anderes sein?

Beginnt mit der Sehnsucht tatsächlich immer etwas Schöneres und Größeres? Kann Sehnsucht nicht auch etwas Hässlicheres und etwas Kleineres hervorbringen?

Haben individuelle und kollektive Sehnsucht die gleichen Wurzeln?



Montag, 23. August 2010
Töten, Seelenfrieden und Gotteskrieger
Vor vielen Jahren habe ich Wolfgang Borcherts „Draußen vor der Tür“ im Fernsehen als Theateraufführung gesehen. Gestern habe ich die Erzählung gelesen. Ich war auf der Suche nach dem Begriff des „Seelenfriedens“, den der Protagonist Beckmann vergeblich sucht. In der Erzählung allerdings wurde dieser Ausdruck nicht verwendet, sondern der Ausdruck der „Seelenruhe“. Nun ja, Ruhe und Frieden liegen ja nicht weit auseinander.

Mich hat damals bei dem Theaterstück das tiefe Schuldgefühl Beckmanns beeindruckt. Weder dumpfe Gleichgültigkeit gegenüber den Opfern, noch blinder Hass auf jene, durch deren Befehle er schuldig wurde. Ein tiefes Gefühl der Schuld, das durch nichts und durch niemanden weichen will.

Ich frage mich, ob es überhaupt noch so etwas wie Schuldgefühle gibt. Ich frage mich dies deswegen, weil ich in letzter Zeit viel über Gotteskrieger gelesen habe. Und ich sehe die Gotteskrieger vor mir, denen nicht nur jegliches Schuldgefühl fremd ist, sondern die beim Töten genau das Gegenteil fühlen – nämlich euphorischen Stolz.

Es klafft ein riesiger Abgrund zwischen den Gotteskriegern, die ihre Massaker als glorreiche Heldentaten feiern – bzw. im Falle von Selbstmordattentaten von ihren Angehörigen als Helden gefeiert werden – und denjenigen Menschen, die sich ihr ganzes Leben lang mit Selbstvorwürfen quälen, weil sie getötet haben. Dem Gotteskrieger winkt nach dem Töten das Paradies mit ewigen Jungfrauen und Flüssen von Wein. Dem Schuldigen winkt die ewige Gewissensqual und die ewige Insomnie.

In Borcherts Erzählung kann der Protagonist nicht mehr schlafen, weil er nachts die klagenden Stimmen der Mütter, Ehefrauen und Kinder der Getöteten hört. All jene, die ihn nach ihren Söhnen, Brüdern und Männern fragen. Gotteskrieger haben keine Schlafstörungen. Bei Gotteskriegern ist das Töten ins Gegenteil verkehrt – es wird zum Lebenselixier, das das Leben erst wertvoll macht. Der Seelenfrieden, der in Borcherts Erzählung durch das Töten verschwunden ist, wird für den Gotteskrieger durch das Töten erst möglich.

Es wird immer Gründe geben, aus denen heraus Menschen töten. Motive privater, materieller, nationaler, religiöser oder politischer Art. Töten als Mittel zum Zweck, um das, was man hasst, zu vernichten oder um das, was man will, zu bekommen. Aber Töten als Eintrittskarte in das Paradies ist eine Perversion menschlichen Denkens. Töten um des Töten willens, weil Töten etwas so Glorreiches und Gutes ist, das es nur mit dem Paradies als Allerhöchstem belohnt werden kann – das ist eine Philosophie, die an Grauenhaftigkeit kaum zu überbieten ist.

Und deswegen habe ich gestern „Draußen vor der Tür gelesen“. Ich wollte etwas über einen Menschen lesen, der noch fähig ist, an Schuld zu leiden. Vielleicht wollte ich auch einfach nur etwas über einen Menschen lesen. Und während ich es las, habe ich das erste Mal wirklich begriffen, was der Ausdruck „leidensfähig“ beinhaltet.



Mittwoch, 14. Juli 2010
Der kleine und der große Betrug – wirklich kein Unterschied?
Wenn man sich das Recht herausnimmt, andere zu kritisieren, dann muss man sich unweigerlich das Argument anhören, dass man selbst doch auch nicht ohne Fehler ist. Was dabei ein immer wiederkehrender Streitpunkt ist, ist die rigorose Gleichsetzung aller Fehler und allen Fehlverhaltens. Und so ganz falsch ist dies ja auch nicht. Wenn manche Menschen beispielsweise das Beklauen von Freunden für eine Schweinerei halten, aber das Klauen im Supermarkt für einen verzeihlichen Kavaliersdelikt, ist das nur bedingt nachvollziehbar. Irgendwie wird es wahrscheinlich jeder tatsächlich als weniger schlimm empfinden, wenn „nur“ der Supermarkt und nicht der Freund bestohlen wird. Aber irgendwie ist das natürlich auch Augenwischerei, denn die Klaurate im Supermarkt schlägt sich nun mal in erhöhten Preisen nieder und die muss dann auch derjenige mittragen, der nicht klaut.

Mit Betrug ist es das Gleiche. Ein bisschen Schwarzarbeit werden die meisten als weniger schlimm beurteilen, als den Betrug an einem gutgläubigen Rentner. Und wieder ist das im Grunde Augenwischerei, da ja auch die Schwarzarbeit gesellschaftsschädigend ist. Und trotzdem kann die – an sich grundsätzlich nicht falsche – Gleichsetzerei geradezu als Waffe eingesetzt werden, indem die Maxime errichtet wird „Niemand, der auch nur den allerkleinsten Fehler macht, darf jemals einen Fehler bei anderen kritisieren“. Hierdurch wird auf fatalistische Weise jeder zum absoluten Hinnehmen von allem, was um ihn herum passiert, verurteilt. Was dabei herauskommt, ist die Wegguck-Gesellschaft, die alles durchgehen und somit alles beim Alten lässt.

Auch ich habe als Arbeitslose und als BAföG-Empfängerin ein bisschen schwarz dazuverdient, außerdem lange keine GEZ bezahlt und in der Pubertät zwei Schokoriegel geklaut. Ersteres und Zweites kam raus, letzteres glücklicherweise nicht. Und auch auf die Gegenwart bezogen bin ich nicht perfekt, ich würde z.B. nicht einsehen, dass mein Freund im Falle von Hartz-VI-Bezug seinen mir definitiv gezahlten Mietanteil nicht als eben diesen Mietanteil geltend machen kann, sondern ich mich plötzlich in der Situation eines unterhaltspflichtigen Ehepartners wiederfinde, der ich nun mal aber definitiv nicht bin. Folglich würde ich mich im Antrag auch nicht so darstellen lassen. Genau das wird mir vorgehalten, wenn ich mich gegen betrügerische Praktiken einiger Kollegen wende.

Und ich frage mich, ob ich es mir zu einfach mache, wenn ich daran festhalte, dass es nicht das Gleiche ist, ob man sich als Privatperson Schlupflöcher sucht oder ob man das einem verliehene Amt, das Machtbefugnisse und Abhängigkeitsverhältnisse beinhaltet, für einen Machtmissbrauch ausnutzt. Ist meine Unterscheidung wirklich nur sophistische Spitzfindigkeit um davon abzulenken, dass ich selbst auch betrüge? Mache ich es mir zu einfach, weil ich Unterschiede konstruiere, die in Wahrheit gar nicht vorhanden sind?

Der Hartz-IV-Empfänger, der ein paar Stunden schwarzarbeitet und der Geschäftsführer, der trotz seines guten Gehalts die von ihm abhängigen mittellosen Klienten abzockt – ich sehe immer noch einen großen Unterschied zwischen den beiden. Denn für mich ist es nicht das Gleiche, ob jemand Schwierigkeiten hat, mit dem Existenzminimum auszukommen oder ob jemand auch bei einem guten Einkommen einfach den Hals nicht vollkriegt. Wer sich mit viel Arbeit ein bisschen Geld erspart hat und dies im Falle eines Hartz-IV-Bezugs verschweigt, tut nicht das Gleiche wie der gutverdienende Berufsbetreuer, der sich Arbeit bezahlen lässt, die er überhaupt nicht verrichtet hat.

Ich kann es nicht ändern - ich habe Verständnis dafür, dass jemand mit dem lausigen Hartz-IV-Regelsatz nicht auskommt und sich deswegen etwas dazuverdient. Erst wenn dies gezielt zum Lebensplan nach der Devise „Hartz-IV + Schwarzarbeit ist besser als reguläre Arbeit“ wird, lebt jemand bewusst auf Kosten der Gesellschaft.

Die Aussage von Sturmfrau "So kann man den Machtmissbrauch auch auf moralischer Ebene verurteilen, weil diejenigen, denen man die Macht verliehen (!) hat, Rechenschaft schulden. " drückt es ein wenig aus, was ich empfinde, denn die vom Gericht erfolgte Bestellung zum Betreuer – der über hoheitliche Maßnahmen verfügen kann – ist etwas, was zur Rechenschaft verpflichtet. Und letztendlich werden wir von der Gesellschaft bezahlt, in der übrigens immer noch sehr viele Menschen erheblich weniger als wir Betreuer verdienen.

Das biblische „Wer ohne Schuld ist, werfe den ersten Stein“ soll eine Mahnung vor übereilter und selbstgerechter Selbstjustiz darstellen. Aber mit Sicherheit sollte es nicht auf absurde und verheerende Weise ins Gegenteil verkehrt werden zu einem „Wer schuldig ist, schweige für immer“.



Samstag, 26. Juni 2010
Die hohe Kunst des Ignorierens
Etwas, das ich früher auf der ganzen Linie abgelehnt habe, ist das Ignorieren. Ich schaue nicht gern an Dingen vorbei und ich halte es für wichtig, nicht wegzusehen – zumal ich auch einen Beruf ergriffen habe, bei dem das genaue Hinsehen eine Grundvoraussetzung ist. Erst allmählich komme ich dahinter, dass das Ignorieren eine lebenswichtige Verhaltensweise darstellt. Worauf es ankommt, ist, das Ignorieren nicht zu einem Automatismus werden zu lassen, sondern sich bewusst dafür zu entscheiden. Die unabänderlichen Dinge – und leider gibt es derer viele – können das Leben unerträglich machen und letztendlich die Kraft verbrauchen, die man benötigt, um sich den veränderbaren Dingen zuzuwenden.

Fontane hat mal gesagt „Ignorieren ist noch keine Toleranz“ und das habe ich bisher nur in seiner negativen Bedeutung erfasst – nämlich die, dass jemand, der Dinge einfach ignoriert, sich nicht vormachen sollte, dass dies schon einen Wesenszug der Toleranz darstellt. Aber jetzt sehe ich auch die positive Bedeutung. Die Tatsache, dass ich etwas ignoriere, heißt noch nicht, dass ich damit einverstanden bin, sondern ich entziehe ihr lediglich meine Aufmerksamkeit. Und dies muss als Grund nicht Gleichgültigkeit haben, sondern stellt letztendlich einen Akt des Selbstschutzes dar. Sicher, die gefährliche Nähe zur dumpfen Gleichgültigkeit oder zur Feigheit ist immer vorhanden und sollte nicht unterschätzt werden - Wachsamkeit ist geboten.

In der Meditation ist das Ignorieren gewissermaßen die Grundidee. Das, was bei allen Übungen immer wieder Thema ist, ist der Umgang mit Gedanken. Man kämpft lange Zeit gegen die Gedanken an, da man sie als Störenfriede empfindet – was sie ja in gewisser Weise auch sind, weil sie die innere Ruhe und Gelassenheit stören. Und irgendwann passiert es für kurze Zeit, dass man diese Gedanken einfach vorbeifließen lässt. Man kämpft nicht mehr gegen sie an aber man vertieft sich auch nicht mehr in sie. Und diese kurzen Momente werden häufiger. Meditationslehrer bezeichnen die Gedanken sogar als wichtige „Helfer“, was ich zuerst als völlig abwegig empfunden habe. Erst allmählich begreife ich, dass die Gedanken in ihrer Funktion das bedeuten, was im Kampfsport der Gegner darstellt: das Gegenüber, das die eigene Fähigkeit immer wieder herausfordert und somit stärkt.

Und in gewisser Weise ist das alltägliche Leben vergleichbar mit dem Meditationsprozess. Es ist ein enormer Kraftakt, sich in all die Unzulänglichkeiten, die man nicht ändern kann, zu vertiefen. Man muss sie vorbeiziehen lassen, wenn man seine Kraft nicht vergeuden will. Diese Kraft, die man so dringend benötigt, um zumindest ein wenig zu verändern. Vielleicht gilt das nicht für jeden, aber zumindest für diejenigen Menschen, die einen Beruf wie ich haben, der Verantwortung für Menschen mit sich bringt, die dringend Hilfe benötigen.

Das Problem beim Ignorieren ist das Wie und Wo. Wenn jemand meiner Betreuten sterbenskrank ist und ich genauestens abwägen muss, was zu veranlassen ist, muss ich so genau es nur irgend möglich ist hinsehen und mitfühlen. Wenn ich allerdings mitbekomme, dass irgendwo jemand abgezockt wird und Machtbefugnisse ausgenutzt werden, dann muss ich es ignorieren, denn – und das ist ein Erfahrungswert – allein kann ich nichts dagegen ausrichten. Vielleicht kommen auch mal Zeiten, in denen Menschen mit Rückgrat erscheinen – einen kleinen Lichtblick gab es ja schon vor kurzem – aber die Zeit ist anscheinend noch nicht gekommen (oder schon vorbei?).

Die Unzulänglichkeiten und Widerwärtigkeiten des Lebens. Beleidigungen, verbale Entgleisungen, dumpfe Projektionen, Alphagehabe, Feigheit, Verrat – glücklich, wer von Ihnen verschont bleibt. Und wer nicht soviel Glück hat, dem bleibt eben immerhin doch noch eine Chance: Ignorieren!



Donnerstag, 22. April 2010
Kategorie blanker Unsinn
Beweisen lässt sich die Liebe nicht. Jeder liebt allein, wie man allein betet.
Rhel Antonie Friederike Varnhagen von Ense (1771-1833)

Das halte ich für blanken Unsinn. Liebe äußert sich in Taten. Liebe, die nicht Tat wird, ist keine Liebe. Jemanden lieben heißt nichts anderes, als denjenigen vor Leid bewahren zu wollen. Wer jemanden wirklich liebt, wird nie zulassen, dass derjenige leidet und er wird deswegen nie anders können, als immer und überall alles zu tun, um den geliebten Menschen vor Leid zu schützen.

Wer wirklich liebt, hat keine Wahl mehr. Ob er will oder nicht - er muss dem anderen beistehen, denn wer liebt, spürt das Leid es anderen, als wäre es sein eigenes, vielleicht sogar noch stärker. Wer tatenlos zusieht, wie jemandem Leid zugefügt wird, der liebt nicht. Weder allein noch sonstwie.

Liebe läßt sich lupenrein und zweifellos beweisen. In jeder Sekunde, in jeder Situation. Und Liebe läßt sich daher auch widerlegen. Wer jemanden nicht vor Leid bewahrt, liebt nicht. Vielleicht begehrt oder schwärmt er . Aber mit Liebe hat das nichts zu tun. Begehren kann man auch ein Stück Kuchen und Schwärmen kann man auch für ein Klavierkonzert. Wirkliche Liebe beweist und offenbart sich erst durch die Tat.

Eine unbequeme Wahrheit. Aber das sind Wahrheiten meist. Wer es bequem will, sollte es bei Torte und Klaviersonaten belassen. Und es nicht Liebe nennen.



Samstag, 20. März 2010
Der Begriff des Verzeihens bei Franz Jalics
Franz Jalics wurde 1927 in Ungarn geboren und ist Mitglied des Jesuitenordens. Seit vielen Jahren gibt er Unterweisungen in Kontemplativen Exerzitien. Jalics hat lange Zeit in Argentinien gelebt, wo er einen Lehrstuhl für Fundamentaltheologie innehatte. Als Mitglied eines religiösen Ordens hat für Jalics der Begriff des Verzeihens anders als bei Paul Ricæur eine klar religiöse Basis. Wer religiösen Glauben ablehnt, wird also mit den Ausführungen nicht viel anfangen können. Alle anderen um so mehr – insbesondere deswegen, weil für Jalics das Verzeihen kein rein theoretischer Begriff ist, denn ihm selbst wurde in seinem Leben großes Unrecht zugefügt.

Im Alter von 19 Jahren verlor er seinen Vater, der von der politischen Polizei Ungarns ermordet wurde. Sein Heimathaus wurde von den sowjetischen Besatzer vollständig verwüstet. Im Jahr 1976 wurde Jalics in Argentinien während des Bürgerkriegs von jemandem denunziert und von den Militärs entführt. Er wurde fünf Monate festgehalten während derer er die ganze Zeit gefesselt war und bis zur Befreiung waren ihm die Augen verbunden. Die ganzen Monate lang war er von seiner angekündigten Hinrichtung bedroht. Und diese Bedrohung war mehr als real, denn von den 6000 Menschen, die von den Militärs entführt wurden, haben nur Jalics und sein Mitbruder überlebt.

Nachdem Jalics freigekommen war ging er nach Nordamerika und versuchte zwei Jahre lang, die Tatsachen seiner Entführung öffentlich zu machen um eine Rehabilitierung zu erreichen. Er hatte hierfür mehr als 30 schriftliche Dokumente gesammelt. Allerdings war alles umsonst und obwohl die Anklage der Militärs, Jalics gehöre einer terroristischen Vereinigung an, sich als falsch erwiesen hatte, wurde er weder rehabilitiert noch wurde der für die Entführung verantwortliche Denunziant verurteilt. Nach anderthalb Jahren gab Jalics seine Absicht der Rückkehr nach Argentinien auf und kam nach Deutschland.

Und jetzt kommt die entscheidende Wende im Leben Jalics – er bat alle mit der Entführung Befassten, sich nicht mehr für die Aufklärung der Angelegenheit einzusetzen. Nach eigenen Aussagen hatte er es nicht mehr nötig. Die Distanz und die Tatsache, dass er keine Rehabilitation mehr brauchte, hat ihm bei Prozess des Verzeihens geholfen. Aber es folgt noch eine weitere entscheidende Wende in seinem Leben, die ihn mit dem erfahrenen Unrecht gänzlich abschließen lässt. Während einer Exerzitienzeit kam ihm die Einsicht, dass er zwar seinen Peinigern verziehen hatte, aber dennoch sämtliche Beweisdokumente in seinem Schrank hütete. Jalics wurde klar, dass er insgeheim immer noch darauf hoffte, diese Beweismittel einmal gegen die Entführer einsetzen zu können. Und er entschloss sich, diese wichtigen Dokumente zu vernichten. In einem kurze Zeit später darauf folgenden Gespräch mit dem Jesuitenoberen spürte Jalics den ganzen tiefen Schmerz seiner Peinigung noch einmal in all seiner Intensität. Und dieses Ereignis nennt Jalic den Zeitpunkt, an dem er sich zum ersten Mal wieder begann, sich wahrhaft frei zu fühlen.

Ich finde die Schilderungen Jalics deswegen so beeindruckend, weil es ausnahmsweise kein Beispiel für das lammfromme sofortige Verzeihen ist. Sein Verzeihen war von einem langen inneren Kampf begleitet. Und ich habe tiefen Respekt davor, dass er die Angelegenheit nicht einfach lächelnd beiseite legen wollte, sondern dass er ein starkes Bedürfnis nach Offenlegung und nach Genugtuung hatte. Unrecht darf man nicht einfach beiseite legen. Unrecht muss offengelegt werden. Und vor allem: Unrecht bleibt Unrecht – auch wenn man verziehen hat. Aber bei Franz Jalics setzte irgendwann der Zeitpunkt des Loslösens von der Bestätigung durch die Außenwelt ein. Dies hat für ihn einen klaren christlichen Bezug, denn er weist auf die Tatsache hin, dass auch Jesus niemals rehabilitiert wurde und in der Öffentlichkeit als Verbrecher galt, der für seine Verbrechen hingerichtet wurde. Nur seine Apostel erkannten die Wahrheit und glaubten weiter an ihn.

Die Botschaft dieses Gedanken ist eindeutig: es kommt auf den eigenen Glauben an und nicht auf die Bestätigung der Außenwelt. Jalic hat zwar seinen Peinigern verziehen, aber dennoch gibt es für ihn keinen Zweifel daran, dass ihm tiefstes Unrecht zugefügt wurde. Im Gegenteil – irgendwann war er sich darin so sicher, dass ihn auch die fehlende Rehabilitation durch die Außenwelt nicht mehr erschüttern konnte.

Ich persönlich bin von Jalic (noch?) meilenweit entfernt. Ich halte das Offenlegen von Unrecht nach wie vor für unverzichtbar. Zumal es ja auch Unrecht gibt, dass nicht der eigenen Person, sondern anderen zugefügt wurde. Dann geht es nicht mehr um die Genugtuung in eigener Sache, sondern um etwas, das auch für andere Menschen eine leidvolle Erfahrung war. Aber ich erkenne auch, dass man dem erlittenem Unrecht nicht die Macht der Zerstörung geben darf. Erst dies macht es unüberwindbar und lässt es zu einem Teil des eigenen Selbst werden. Vielleicht muss man einfach den Zeitpunkt erkennen, an dem es aussichtslos ist, gegen eine Übermacht zu kämpfen. Einfach aus Selbsterhaltung. Und vielleicht muss man dem inneren Gefühl dafür, was Unrecht ist und was nicht, mehr Bedeutung beimessen als der Reaktion der Außenwelt. Einer Außenwelt, die ohnehin oftmals Manipulationen erliegt und für die Werte wie Gerechtigkeit und Rückgrat immer mehr in den Hintergrund treten.



Freitag, 12. März 2010
Das kommt drauf an...
Die zwischenmenschliche Kommunikation hat höchste Bedeutung: denn nur durch den anderen kommt der Mensch zur Klarheit über sich selbst.
Carl Jaspers (1883 – 1969)

Dies habe ich zwar ausnahmsweise auf Anhieb verstanden, stimme aber nur bedingt zu. Denn die Rolle des anderen kann nicht nur zur Klarheit verhelfen, sondern kann – im Gegenteil – auch die Klarheit verschleiern. Bestes Beispiel sind die Kindheitserfahrungen vieler Menschen. Diese Erfahrungen waren oftmals alles andere als glücklich. Zum Beispiel dann, wenn Eltern ihr Kind in irgendeine Richtung drängen, in die es gar nicht will und auch überhaupt nicht paßt. Die vielen Eltern, die ihr Kind als Projektionsfläche sowohl für die eigenen Ideale als auch für ihre Verdrängungen benutzen. Psychoanalytiker finanzieren mit diesen Traumen ihren Lebensunterhalt.

Aber auch unter Erwachsenen kann die Kommunikation zur Falle werden. Dort ist Klarheit oftmals alles andere als erwünscht. Ein Mensch, dem es nur auf die Außenwirkung ankommt, wird jegliche Klarheit vermeiden. Ein Mensch, der sich jeder Auseinandersetzung entzieht, ebenfalls. Und dann gibt es da noch diese Menschen, die jegliches Nachdenken verweigern, die unsäglich und dumpf losplappern, bevor man überhaupt zuende gesprochen hat. All diese Menschen sind denkbar ungeeignet, um zu Klarheit über sich selbst zu gelangen, man entfernt sich von sich selbst anstatt sich zu nähern.

Aber Jaspers spricht vermutlich von einem Idealzustand. So wie es eigentlich sein sollte, damit der Mensch sich zu dem entwickeln kann, was ihm bestimmt ist. Für mich kann das aber nur heißen:

Nur durch die zwischenmenschliche Kommunikation mit den richtigen Menschen kommt der Mensch zur Klarheit über sich selbst. Das sind Menschen, die das Wesen eines anderen erfassen und widerspiegeln - mit seinen Stärken und Schwächen. Und die uns in die richtige Richtung lotsen können, wenn wir uns auf falsche Wege verirrt haben. Dann kann man allerdings erstaunliche Erkenntnisse erlangen. Wer jemals an einer wirklich guten Gruppentherapie teilgenommen hat, hat vielleicht die Möglichkeit gehabt, so eine Erfahrung zu machen. Und dies übrigens nicht nur in Bezug auf das Widerspiegeln durch die anderen, sondern vielmehr durch die Teilhabe am anderen. Denn was uns bei uns selbst die Sicht versperrt, ist für uns bei anderen klar erkennbar. Daraus ergibt sich ein Nehmen und Geben - aber eben nur bei den "richtigen" Menschen.