Freitag, 14. Oktober 2011
Vierländerurlaub
So richtig Sinn macht es nicht, wenn man ein Reisetagebuch erst nach der Reise schreibt. Aber es gab in diesem Urlaub kaum Internetcafés, weil mittlerweile jeder seinen Laptop mit auf Reisen nimmt und da ich dies nicht gemacht habe – weil es mir verboten wurde, damit ich nicht auch noch im Urlaub arbeite – mache ich jetzt nachträglich ein paar Notizen.

Angefangen mit einer Woche in Bayern – ganz ohne Essen! – in einer F.X.Maier-Fasten-Pension, wo wir viel gewandert sind. Zuvor eine Übernachtung in Homberg im "Lutherischen Jugendgästehaus", einem 500 Jahre alten Gebäude, in dem wir die ruhigste Nacht des ganzen Urlaubs verbracht haben. Als Norddeutsche kann ich mich an den Bergen nicht sattsehen. Abtrieb in der Schweiz Und was ich bisher nur aus dem Fernsehen kenne, habe ich jetzt das erste Mal live gesehen – einen sogenannten Abtrieb, also das Heruntertreiben der Kühe. In Oberstaufen mit einem großen Fest gefeiert. Jede Menge Maß Bier, Lederhosen, Weißwürste (die wir leider nur riechen durften) und Volksmusik.

Dann weiter nach Norditalien, wo eine Autopanne unsere Reisepläne erstmal völlig durcheinander geworfen hat. Statt in einem idyllischen Platz auf dem Lande mussten wir mitten im Industriegebiet Halt machen, wo wir für drei Hotelübernachtungen soviel gezahlt haben, wie sonst noch nie in unserem Leben (und bestimmt auch in Zukunft nicht, es sei denn, ich gewinne im Lotto). Glück im Unglück, denn da es sich um ein Industriegebiet mit jeder Menge Autofabriken handelte, haben wir auch eine Fordwerkstatt gefunden und die Reparatur dauerte nicht länger als anderhalb Tage. Die Stadt Rho haben wir erst beim zweiten Blick schätzen gelernt. Außendrum alles potthässlich, aber mittendrin eine kleine hübsche Altstadt. Aufgrund der mangelnden touristischen Attraktivität waren wir die einzigen Deutschen und konnten dadurch ein bisschen mehr von Italien mitbekommen, als an Urlaubsorten. Was mir auffiel, war, wie oft sich jüngere Menschen um alte Menschen kümmerten, denn man sah immer wieder junge Menschen oder Menschen mittleren Alters, die mit alten Menschen spazieren gingen und sich dabei rührend um die Alten kümmerten.

Eine weitere Besonderheit in Italien waren für mich die überaus üppig ausgestatteten barocken Kirchen, Kircheninnereswobei gar nicht so die üppige Ausstattung das eigentlich Besondere war, sondern die Tatsache, dass sehr viele Menschen in der Kirche beteten. Bei uns handelt es sich bei Kirchen meist entweder um einfache und schlichte Gebäude, die nur zum Gottesdienst besucht werden oder aber es handelt sich um historisch interessante Kirchen, die hauptsächlich von Touristenscharen zum Zweck des Fotografierens aufgesucht werden.Der Anblick von andächtig betenden Gläubigen ist mir bisher eigentlich mehr aus buddhistischen oder hinduistischen Tempeln vertraut.

Mit dem endlich wieder funktionsfähigem Auto ging es dann weiter nach Verona, wo wir den schönen "Castel San Pietro"-Campingplatz gefunden haben, von dem man einen Blick über die ganze Stadt hatte. Blick auf VeronaVerona war ein wenig so, wie ich mir Rom – das ich noch nie besucht habe – vorstelle. Das Colosseum löste bei mir eigentümliche Assoziationen aus, denn ich hatte mir als Reiselektüre ein Geo-Epoche-Heft über das römische Reich mitgenommen, in dem auch über den Alltag der Gladiatoren geschrieben wurde. Da am Abend ein Konzert von George Michael stattfand, machte man im Colosseum einen Soundcheck, bei dem ich an die lauten Fanfaren dachte, die das Auftreten der Gladiatoren ankündigten. Und irgendwie fühlte ich mich dann an dem Ort überhaupt nicht mehr wohl, denn ich musste an das unendlich grausame und unmenschliche Spektakel denken, bei dem sich die reichen Veroner zum Zeitvertreib das in Szene gesetzte Töten ansahen.

Nach zwei Tagen ging es dann weiter nach Chioggia, das in Italien auch „Kleines Venedig“ genannt wird, wo wir auf einem Campingplatz einen Caravan mieteten. Chioggia war sehr schön, aber unser eigentliches Ziel war Venedig, zu dem wir uns um die Parkplatzsuche zu vermeiden, mit endlos vielen Bussen und Schiffen aufmachten. Venedig
So touristisch Venedig auch sein mag – es gibt doch etwas an dieser zauberhaften Stadt, was dem Tourismus trotzt. Ich glaube, es ist einfach eine Entscheidung, ob man Venedig als einen Ort der touristischen Vermarktung ansieht oder ob man diesen Aspekt ausblendet und sich von dieser Stadt in den Bann einer anderen Zeit ziehen lässt. Wenn zum Beispiel der Gondoliere – wir sind natürlich auch Gondel gefahren – stolz auf Häuser hinweist, in denen angeblich Casanova oder Marco Polo gewohnt haben, dann kann man dies stirnrunzelnd als Lüge werten oder aber schmunzelnd als liebevolle Hochstapelei.

Die Rückfahrt traten wir dann über Österreich an, wo wir in dem kleinen Ort Vomp übernachteten und man sich beim Blick aus dem Fenster an Heidi-Filme erinnert fühlte. Das war beim nächsten Ort, dem bayrischen Schliersee, nicht viel anders und als wir dort das riesige Markus Wasmeier Museum
Freilichtmuseum „Markus Wasmeier“ ansahen, fühlte man sich durch die uralten Bauernhäuser und Bauerngärten erst recht an eine andere Zeit erinnert.

Ich hatte mir gewünscht, den Rückweg entlang der romantischen Straße zu fahren und unsere erste Station war die kleine Fachwerkstadt Harburg, in der wir laut französischem Reiseführer die angeblich „plus grand, plus ancien, mieux conservé“ Burg Südbayerns ansahen. Ich mag Burgen, weil mich das Mittelalter interessiert und mich die Vorstellung fasziniert, in den gleichen Räumen zu wandeln, in denen Ritter, Prinzessinnen und Herzöge wohnten.

Am nächsten Tag ging es dann über Würzburg nach Augsburg, wo ich mir unbedingt die Fuggerei ansehen wollte. Der reiche Kaufmann Jakob Fugger hatte im Jahr 1521 für bedürftige Bürger eine Wohnsiedlung gebaut, die gern als älteste Sozialsiedlung der Welt bezeichnet wird. Die Monatsmiete beträgt tatsächlich noch den gleichen Preis wie vor rund 500 Jahren, nämlich den Gegenwert eines rheinischen Guldens, der heute umgerechnet 0,88 Euro beträgt. FuggereiWas ich aber viel bemerkenswerter finde, ist die Tatsache, dass die Bürger neben dieser auch damals schon sehr geringen Miete noch eine andere Leistung für den Stifter erbringen mussten: nämlich täglich drei Gebete! Wenn man jetzt man den Oberlehrer-Standpunkt außer Acht lässt, demzufolge sowieso jeder Gläubige ein hirnloser Idiot ist, dann kann man sich über die Weise, wie sich ein schwerreicher Geschäftsmann seinen Platz im Himmelreich sichern will, nur wundern. Eine clevere Art, neben dem durch den Ablasshandel von der Kirche garantierten Platz im Himmel auch noch das gemeine Volk für das Seelenheil einzuspannen. Das bestärkt einmal mehr meine Ansicht, dass Geschäftsmänner eisern die Regel befolgen, niemals etwas umsonst zu tun.

Nächste Station war Rotenburg ob der Tauber. Die ganze Stadt, die von einer riesigen Stadtmauer umgeben ist, könnte ohne viel Umgestaltung als Filmkulisse für im Mittelalter spielende Filme genutzt werden. Wie es aber nun mal so ist mit schönen Orten, finden auch viele andere diese Orte sehenswert und so ist man zwangsläufig nie allein, sondern befindet sich immer in einer Menschenmenge. Eine Entscheidung, die wir ein wenig bereut haben, war der Besuch des Kriminalmuseums. Kriminalmuseum Es gab dort so viele Folterwerkzeuge und Bilddokumente von Folterungen, dass es einem aufs Gemüt schlägt und man froh ist, wieder draußen zu sein. Wenn man bedenkt, wie unendlich viel Leid die Daumenschrauben, Eiserne Jungfrauen und Streckbänke verursacht haben, dann läuft es einem nicht nur kalt den Rücken herunter, sondern man ist auch fassungslos, dass sich Menschen imstande sind, sich derartige Perversitäten auszudenken.

Nachdem wir in Fulda übernachtet haben, in dem es mitten in der Woche fast unmöglich war, ein Hotelzimmer zu finden, machten wir noch eine letzte Rast in Hannoversch Münden. Wir hatten den ganzen Urlaub über immer wieder auch Kirchen und Kathedralen besichtigt und als ich dort eine kleine sehr alte Kirche sah, wollte ich mir dann ein letztes Mail das Kircheninnere ansehen. Ich war aber irritiert, denn vor dem Eingang stand ein Schild, in dem Kuchen und Café angepriesen wurden. Als ich dann hineinging, befand ich mich gar nicht in einer Kirche, sondern in einem Café. Aegidienkirche Die Kirche war zugegebenermaßen sehr geschmackvoll umgestaltet worden. Aber irgendetwas kam mir merkwürdig vor. An diesem Ort, an dem Taufen, Konfirmationen, Kommunionen, Trauungen und Trauergottesdienste stattgefunden hatten, wurde jetzt Kuchen gegessen und Latte Macciato serviert. Die Fresken, die ja immerhin schon Hunderte von Jahren alt waren, waren übermalt worden. Für viele wird die Wandlung von Sakralem in Profanes sicherlich freudig als Fortschritt und Befreiung von religiöser Infantilität begrüßt, wobei es allerdings für Angehörige anderer Kulturen, wie Buddhisten, Hindus, Juden und Muslime wiederum höchstwahrscheinlich völlig unvorstellbar wäre, sakrale Orte in Cafés umzuwandeln. Aber wer weiß, vielleicht folgen bald auch andere Kulturen unserem Beispiel und man kann dann demnächst in der blauen Moschee oder im Borobudur irgendwann auch Kaffee und Kuchen essen.

Warum der Beitrag Vierländerurlaub heißt? Wir waren auch in Liechtenstein, aber darüber gibt es absolut nichts zu schreiben.



Samstag, 8. Oktober 2011
Das weiße Band II – Erziehung zum Selbsthass
„Erwachsen sein heißt: Vergessen, wie untröstlich wir als Kinder oft gewesen sind.“
Heinrich Böll

Als ich diesen Ausspruch Heinrich Bölls las, hatte ich sofort die Szenen des kürzlich gesehenen Films „Das weiße Band“ vor Augen, in denen der Pastor seinem ältesten Sohn erklärt, wie schlimm und schädlich Masturbation ist. Eine Szene, die so eindrucksvoll ist, dass es fast schon schmerzt. Mit subtiler Zielstrebigkeit lenkt der Vater das Gespräch auf das Thema Masturbation, indem er von einem Jungen erzählt, der infolge seines Masturbierens erst schwach und krank wurde und dann letztendlich qualvoll starb. Während der Sohn zuerst noch selbstbewusst verneint, in der Geschichte irgendeinen Zusammenhang zu sich selbst zu sehen, gesteht er dann am Ende des Gesprächs schließlich mit tränenerstickter Stimme, dass er weiß, was der Vater damit sagen will. Im Verlauf des Films sieht man dann, wie der Sohn nachts mit gefesselten Händen im Bett liegt.

Man fragt sich, wie so ein Kind mit dieser unendlich großen Last von schlechtem Gewissen und Angst später als Erwachsener überhaupt noch in der Lage sein wird, Sexualität lustvoll zu erleben. Aber eigentlich muss man sich dies gar nicht fragen, denn mit Sicherheit wird es einem so drangsalierten Menschen nicht mehr möglich sein. Was das Tragische an der Sexualerziehung der schwarzen Pädagogik ist, ist die Tatsache, dass die Folgen sich nicht nur auf die Sexualität erstrecken, sondern auf die ganze Person. Wer dazu erzogen wird, seine Sexualität zu hassen, wird dazu erzogen, sich selbst zu hassen. Denn Sexualität ist zu stark, um sich unterdrücken zu lassen, da mag die Erziehung noch so drastisch oder noch so subtil sein. Aber sie lässt sich deformieren. Ein Kind, für das das eigene sexuelle Erleben unweigerlich mit Schuld und Scham verbunden ist, wird auch als Erwachsener dieses Szenarium von Schuld und Scham suchen. Der Weg zur einer freien und sinnlichen Sexualität mag verbaut sein, aber für einen von Schuldgefühlen und Scham geprägten Menschen kann Sexualität immer noch als lustvoll empfunden werden, wenn sie die Elemente der Scham, des Zwangs und der Unterwerfung enthält.

Die Verbindung von Sexualität und Selbsthass ist auch der Grund dafür, warum Gewaltverbrechen so oft mit Sexualität verknüpft sind. Ob es um die Vergewaltigungen in Kriegen geht, ob es um Folterlager wiel Guantanamo oder um die Konzentrationslager des Dritten Reichs geht – immer wieder finden sich in der Gewalt auch sexuelle Elemente.

In meiner beruflichen Laufbahn habe ich auch eine kurze Zeit lang mit drogenabhängigen minderjährigen Prostituierten gearbeitet. Und während ich vor Beginn dieser Arbeit noch dachte, dass die Arbeit als Prostituierte von einer gewissen äußerlichen, den Normen entsprechende Attraktivität, abhängig ist, wurde ich dann eines Besseren belehrt. Viele der Mädchen und jungen Frauen hatten durch die Drogensucht ihre Zähne verloren und waren extrem abgemagert. Der hygienische Zustand war bei einigen katastrophal. Viele hatten vereiterte Wunden, die nicht nur sehr abstoßend aussahen, sondern manchmal auch bestialisch rochen.

Wer jetzt denkt, dass diese Prostituierten nur von Freiern frequentiert wurden, die ausschließlich aufgrund des niedrigen Preises (damals 30,00 DM) zur Drogenprostituierten gehen, der irrt gewaltig. Auf meinen Arbeitsweg sah ich jede Menge Mercedes und BMWs und jede Menge Männer vom Typ Geschäftsmann im Maßanzug, der ohne weiteres auch sogenannte Edelprostituierte bezahlen könnte. Aber diese Männer wollen gar nicht zu gutaussehenden, frisch geduschten und durchgestylten Frauen gehen – die haben sie nämlich zu Hause. Nein, diese Männer fühlen sich durch den Dreck des Drogenstrichs angezogen und wollen suhlen. Ein wichtiger Punkt ist dabei Macht. Eine Drogenprostituierte, die unter dem Druck ihrer Sucht zu jeder Demütigung bereit ist und kaum noch Selbstachtung besitzt, bietet etwas sehr Entscheidendes: Überlegenheitsgefühl.

Auf den ersten Blick wirkt es paradox, dass genau jene Männer, die eine hohe und angesehene gesellschaftliche Rolle innehaben, sich in der Sexualität anscheinend erst dann auf Augenhöhe befinden, wenn die Frau tief unten im Dreck liegt. Setzt man sich mit Prinzipien der schwarzen Pädagogik auseinander, wird wiederum manches verständlich.

Keiner hat die Auswirkungen der Sexualerziehung in der schwarzen Pädagogik so treffend beschrieben wie Alice Miller. Besonders in ihrem Buch „Am Anfang war Erziehung“ widmet sie sich ausgiebig dem Drama der Zerstörung der kindlichen Psyche, die nicht anders auf die zugefügten Traumen reagieren kann, als durch einen Wiederholungszwang, durch den die Gefühle auf das Szenario der Kindheit fixiert bleiben womit der Weg zu einer freien Sexualität versperrt ist.

Vor diesem Hintergrund wird verständlich, warum auch die sogenannte sexuelle Revolution keine Wunder bewirken konnte. Die Befreiung von äußeren Fesseln mag gelingen, aber mit den inneren ist es da schon schwieriger. Sich davon zu befreien gelingt nur nach intensiver Auseinandersetzung mit der eigenen Biographie. Und selbst dann – Therapieerfahrene können dies bestätigen – stößt man immer wieder an Grenzen. Auch wenn so mancher ewig Besserwissende sich darin gefällt, die kritische Auseinandersetzung mit der sexuellen Revolution mit der dumpfen Plattitüde einer beschränkten christlichen Sichtweise zu interpretieren, bleibt es eine Tatsache, dass unsere Gesellschaft nach wie vor nicht frei ist von Vergewaltigung, Missbrauch und sexuellen Übergriffen.

Abschließend möchte ich hiermit nochmals betonen, dass es mir nicht darum geht, ein Urteil über all diejenigen zu fällen, die durch die Folgen der schwarzen Pädagogik geprägt wurden und diese Prägung weitergeben. Es geht mir weder darum, Freier oder Prostituierte anzuprangern noch irgendwelche anderen Formen der Sexualität. Mir geht es um die Auseinandersetzung mit Mechanismen, denen wir alle mehr oder weniger unterworfen waren und sind und die es gilt zu erkennen. Die Thematik ist so komplex, dass man weder ursächlich Schuldige festmachen könnte, noch eine Patentlösung präsentieren kann.

Wenn ich darüber nachdenke, ob es vielleicht doch etwas gibt, was ich moralisch verurteilte, dann ist es eine Haltung, die eine Auseinandersetzung mit dieser Thematik verbietet oder durch platte Deutungen zum Scheitern verurteilt. Vielleicht ist es das, worum es mir geht: die Bekämpfung der Akzeptanz und des Festhaltens von Machtstrukturen, die Menschen schädigen.



Donnerstag, 6. Oktober 2011
Dinge, die gut tun
Vor zwei Tagen habe ich wieder an einem Seminar teilgenommen und profitiere immer noch von der dort herrschenden Atmosphäre. Immer wieder bin ich erstaunt, wie viele Menschen es gibt, die sich sozial engagieren. Ich selbst schaffe dies neben meiner Arbeit nicht und bin überrascht, wie es manchen Menschen gelingt, so viel Zeit und Energie aufzubringen.

Erstaunt bin ich auch über den Umgang mit dem Alter. So nahm an dem Seminar auch eine 79jährige Frau teil, die sich vorgenommen hat, im kommenden Jahr nach Indien zu fahren. Ich selbst war zwar auch schon in Indien, aber „nur“ im Himalaya. Mit dem „nur“ ist keine Abwertung gemeint, sondern die Tatsache, dass die Himalayaregion – genauer gesagt Dharamsala – relativ bequem zu bereisen ist, was man von den übrigen Teilen Indiens nicht gerade sagen kann. Wenn sich jemand so eine Reise im Alter von 80 Jahren noch zutraut, dann ermutigt mich dies, mich so einer Herausforderung auch zu stellen.

Eine andere Teilnehmerin hatte ihr drei Monate altes Baby mitgebracht. Trotz der Tatsache, dass ein Kind in diesem Alter natürlich ständig Aufmerksamkeit braucht, hat die Mutter sich mit viel Interesse dem Seminar gewidmet. Auch das war eine angenehme Erfahrung.

Obwohl kaum Zeit für private Unterhaltung war, hat mich das, was ich aus dem privaten Leben der anderen erfahren habe, oftmals fasziniert. Bei manchen war es die Zielstrebigkeit, mit der Lebenspläne verfolgt wurden. Bei anderen wieder die Nachdenklichkeit, mit der die bisherige Lebensplanung in Frage gestellt wurde und mit der nach neuen Wegen gesucht wurde. Manche der Teilnehmrinnen befinden sich auch in massiven Lebenskrisen, für die nach Lösungen gesucht wurde. Was allen gemein war, war ein tiefer Respekt vor der Individualität der anderen. Ein Respekt jenseits jeglicher Dogmatik, die vorgibt, zu wissen, was richtig und was falsch ist. Eine weitere Gemeinsamkeit, die ich ausnahmslos bei jeder Teilnehmerin wahrgenommen habe, ist der Wunsch nach Entwicklung.

Ein Ort innerhalb des Seminars, der mich immer wieder gefangen nimmt, ist die Bibliothek. Ich empfinde auch bei Bekannten und Freunden die Bücherregale als etwas, das Auskunft über den Besitzer gibt. Man bekommt einen kleinen Einblick in die Vorstellungswelt des anderen. Im Falle dieser Bibliothek ist es so, dass es so viele interessante Bücher dort gibt, dass man sich kaum entscheiden kann.

Das Seminarhaus liegt direkt an einem Wald, so dass man jederzeit Spaziergänge machen kann, wozu die sonnigen Spätherbsttage auch ermuntert haben. Der einzige Wermutstropfen ist die Nähe zur Autobahn, aufgrund der es immer einen Geräuschpegel im Hintergrund gibt.

Es war nicht das erste Mal, dass ich an einem der Seminare teilgenommen habe und inzwischen fühle ich mich bei der Ankunft schon fast wie zuhause. Wahrscheinlich hat fast jeder Mensch einen Ort, an dem er sich besonders wohl fühlt. Und für jeden gibt es die ihm eigenen Kriterien, von denen dieses Wohlfühlen abhängig ist. Für mich ist ein ausschlaggebendes Kriterium das des Umgangs miteinander. Und genauso wichtig ist Authentizität. Man darf sich allerdings nicht vormachen, dass es Orte gibt, die frei von Disharmonie sind. Auch im Seminar gibt es immer wieder Kleinigkeiten, die für manchmal ein Ärgernis darstellen. Aber das, was verbindet, lässt dann meist darüber hinwegsehen.

Das Wort Ver-bundenheit gefällt mir. Zu manchen Menschen gibt es so etwas wie ein Band. Ein Band, das nicht ankettet und trotzdem eine Art Halt gibt. Und den braucht man, um in der Welt zu bestehen.



Rabenschwarze Pädagogik und was daraus entsteht
Vorgestern habe ich mir den Film „Das weiße Band“ angesehen. Die bedrückende Atmosphäre des Films hallt noch lange nach. Mein Kollege, mit dem ich mich über den Film unterhielt, sagte mir, dass er schlecht geschlafen hatte, weil ihn der Film noch im Traum beschäftigte.

Ein weißes Band, das den Kindern ins Haar oder um den Arm gebunden wird, damit sie durch die weiße Farbe immer an Unschuld und Reinheit erinnert erinnern werden. Und die gerade dadurch ihre Unschuld und Reinheit verlieren. Das Leben als Kampf gegen die überall gewähnte Versuchung, der jede Sekunde widerstanden werden muss. Für Lachen, Spaß und Lebensfreude ist da kein Platz mehr. Nur noch für Angst und Hass.

In dem Film braut sich langsam eine Art Verschwörung zusammen. Die gepeinigten und gedemütigten Kinder schlagen zurück. Einem uralten Prinzip folgend, lauern sie im Hinterhalt und richten ihren Hass vorzugsweise gegen Schwächere. Man kann Schritt für Schritt verfolgen, wie aus Opfern Täter werden. Das Grausame an der schwarzen Pädagogik ist, dass sie sich fortpflanzt. Wer gedemütigt und misshandelt wird, gibt die Demütigung und den Hass weiter.

Vor ein paar Tagen habe ich mit meiner Tante telefoniert, mit der ich mich bisher kaum unterhalten habe, weil sie in Amerika wohnt. Sie erzählte mir, dass meine Oma sie so lange mit einem Bügelbrett geschlagen hatte, bis sie blutete und eine Nachbarin eingriff. Grund war die Tatsache, dass sie zu spät nach Hause kam und meine Oma vermutete, dass meine Tante mit ihrem Freund – ihrem jetzigen Ehemann – Zärtlichkeiten ausgetauscht hatte. Wie viel Selbsthass muss jemand in sich tragen, um ein Kind blutig zu schlagen? Und so zu demütigen, dass das Kind vor Scham in den Boden versinkt?

Da eigentlich Dramatische an der schwarzen Pädagogik ist die Angst, die sie erzeugt. Erst diese Angst macht es möglich, dass Macht missbraucht wird. Menschen, die Angst haben, sind für alles instrumentalisierbar. Sie können wie Marionetten gesteuert werden. Auch wenn aus dem Kind längst ein erwachsener Mensch geworden ist, handelt der Mensch immer noch so, als wäre er noch immer ein Kind, das sich nicht wehren darf oder kann.

Und während ich mir kurz nach dem Film noch sicher war, dass die schwarze Pädagogik in dieser extremen Form endgültig vorüber ist, kam mir nach einiger Zeit Bedenken. Hat die schwarze Pädagogik wirklich keine Spätfolgen mehr und ist mittlerweile in den Folgegenerationen quasi so ausgedünnt, dass nichts mehr weitergegeben wird?

Wenn ich mich so umschaue, dann haben einige Menschen in meinem Umfeld auf erschreckende Art Ähnlichkeit mit den drangsalierten Kindern aus dem Film. Menschen, die trotz ihres Erwachsenseins ängstlich ducken und auch dann nicht widersprechen, wenn es dringend erforderlich wäre. Die Kritik nur hinter vorgehaltener Hand und grundsätzlich niemals direkt äußern. So wie die Kinder in dem Film nie auf die Idee kommen würden, sich gegen ihre Peiniger aufzulehnen, sondern stattdessen alles tun, um den Anschein von Wohlverhalten zu erwecken. In dem gleichen Maß, in dem diese Menschen nett und freundlich gegenüber denjenigen sind, vor denen sie Angst haben, zeigen sie Respektlosigkeit und Abfälligkeit gegenüber all denjenigen, die ihnen gegenüber nicht in einer überlegenen Situation befinden. Ein Verhalten, dass treffend mit dem Ausspruch „nach unten treten – nach oben ducken“ charakterisiert wird.

Ich glaube nicht, dass die schwarze Pädagogik völlig verschwunden ist. Sie bildet noch immer einen Nährboden der Angst, auf dem Menschen heranwachsen, die grinsend mit ansehen, wie anderen Menschen Unrecht getan wird. Die auch ohne Knute ängstlich stramm stehen vor denjenigen, die sich wie Oberfeldwebel aufführen. Die feige schweigen, wenn Menschen um ihr hart verdientes Geld betrogen werden oder wenn Menschen von jemandem – wie im Film von Ulrich Tulkur als Baron treffend dargestellt – nur als Einkommensquelle angesehen werden. Und die gern auf diejenigen, die am Rande der Gesellschaft stehen, verächtlich herabblicken.

Man beginnt mit dem Thema schwarze Pädagogik und landet auf irgendeine Weise immer – bei der Feigheit!