Das weiße Band II – Erziehung zum Selbsthass
„Erwachsen sein heißt: Vergessen, wie untröstlich wir als Kinder oft gewesen sind.“
Heinrich Böll

Als ich diesen Ausspruch Heinrich Bölls las, hatte ich sofort die Szenen des kürzlich gesehenen Films „Das weiße Band“ vor Augen, in denen der Pastor seinem ältesten Sohn erklärt, wie schlimm und schädlich Masturbation ist. Eine Szene, die so eindrucksvoll ist, dass es fast schon schmerzt. Mit subtiler Zielstrebigkeit lenkt der Vater das Gespräch auf das Thema Masturbation, indem er von einem Jungen erzählt, der infolge seines Masturbierens erst schwach und krank wurde und dann letztendlich qualvoll starb. Während der Sohn zuerst noch selbstbewusst verneint, in der Geschichte irgendeinen Zusammenhang zu sich selbst zu sehen, gesteht er dann am Ende des Gesprächs schließlich mit tränenerstickter Stimme, dass er weiß, was der Vater damit sagen will. Im Verlauf des Films sieht man dann, wie der Sohn nachts mit gefesselten Händen im Bett liegt.

Man fragt sich, wie so ein Kind mit dieser unendlich großen Last von schlechtem Gewissen und Angst später als Erwachsener überhaupt noch in der Lage sein wird, Sexualität lustvoll zu erleben. Aber eigentlich muss man sich dies gar nicht fragen, denn mit Sicherheit wird es einem so drangsalierten Menschen nicht mehr möglich sein. Was das Tragische an der Sexualerziehung der schwarzen Pädagogik ist, ist die Tatsache, dass die Folgen sich nicht nur auf die Sexualität erstrecken, sondern auf die ganze Person. Wer dazu erzogen wird, seine Sexualität zu hassen, wird dazu erzogen, sich selbst zu hassen. Denn Sexualität ist zu stark, um sich unterdrücken zu lassen, da mag die Erziehung noch so drastisch oder noch so subtil sein. Aber sie lässt sich deformieren. Ein Kind, für das das eigene sexuelle Erleben unweigerlich mit Schuld und Scham verbunden ist, wird auch als Erwachsener dieses Szenarium von Schuld und Scham suchen. Der Weg zur einer freien und sinnlichen Sexualität mag verbaut sein, aber für einen von Schuldgefühlen und Scham geprägten Menschen kann Sexualität immer noch als lustvoll empfunden werden, wenn sie die Elemente der Scham, des Zwangs und der Unterwerfung enthält.

Die Verbindung von Sexualität und Selbsthass ist auch der Grund dafür, warum Gewaltverbrechen so oft mit Sexualität verknüpft sind. Ob es um die Vergewaltigungen in Kriegen geht, ob es um Folterlager wiel Guantanamo oder um die Konzentrationslager des Dritten Reichs geht – immer wieder finden sich in der Gewalt auch sexuelle Elemente.

In meiner beruflichen Laufbahn habe ich auch eine kurze Zeit lang mit drogenabhängigen minderjährigen Prostituierten gearbeitet. Und während ich vor Beginn dieser Arbeit noch dachte, dass die Arbeit als Prostituierte von einer gewissen äußerlichen, den Normen entsprechende Attraktivität, abhängig ist, wurde ich dann eines Besseren belehrt. Viele der Mädchen und jungen Frauen hatten durch die Drogensucht ihre Zähne verloren und waren extrem abgemagert. Der hygienische Zustand war bei einigen katastrophal. Viele hatten vereiterte Wunden, die nicht nur sehr abstoßend aussahen, sondern manchmal auch bestialisch rochen.

Wer jetzt denkt, dass diese Prostituierten nur von Freiern frequentiert wurden, die ausschließlich aufgrund des niedrigen Preises (damals 30,00 DM) zur Drogenprostituierten gehen, der irrt gewaltig. Auf meinen Arbeitsweg sah ich jede Menge Mercedes und BMWs und jede Menge Männer vom Typ Geschäftsmann im Maßanzug, der ohne weiteres auch sogenannte Edelprostituierte bezahlen könnte. Aber diese Männer wollen gar nicht zu gutaussehenden, frisch geduschten und durchgestylten Frauen gehen – die haben sie nämlich zu Hause. Nein, diese Männer fühlen sich durch den Dreck des Drogenstrichs angezogen und wollen suhlen. Ein wichtiger Punkt ist dabei Macht. Eine Drogenprostituierte, die unter dem Druck ihrer Sucht zu jeder Demütigung bereit ist und kaum noch Selbstachtung besitzt, bietet etwas sehr Entscheidendes: Überlegenheitsgefühl.

Auf den ersten Blick wirkt es paradox, dass genau jene Männer, die eine hohe und angesehene gesellschaftliche Rolle innehaben, sich in der Sexualität anscheinend erst dann auf Augenhöhe befinden, wenn die Frau tief unten im Dreck liegt. Setzt man sich mit Prinzipien der schwarzen Pädagogik auseinander, wird wiederum manches verständlich.

Keiner hat die Auswirkungen der Sexualerziehung in der schwarzen Pädagogik so treffend beschrieben wie Alice Miller. Besonders in ihrem Buch „Am Anfang war Erziehung“ widmet sie sich ausgiebig dem Drama der Zerstörung der kindlichen Psyche, die nicht anders auf die zugefügten Traumen reagieren kann, als durch einen Wiederholungszwang, durch den die Gefühle auf das Szenario der Kindheit fixiert bleiben womit der Weg zu einer freien Sexualität versperrt ist.

Vor diesem Hintergrund wird verständlich, warum auch die sogenannte sexuelle Revolution keine Wunder bewirken konnte. Die Befreiung von äußeren Fesseln mag gelingen, aber mit den inneren ist es da schon schwieriger. Sich davon zu befreien gelingt nur nach intensiver Auseinandersetzung mit der eigenen Biographie. Und selbst dann – Therapieerfahrene können dies bestätigen – stößt man immer wieder an Grenzen. Auch wenn so mancher ewig Besserwissende sich darin gefällt, die kritische Auseinandersetzung mit der sexuellen Revolution mit der dumpfen Plattitüde einer beschränkten christlichen Sichtweise zu interpretieren, bleibt es eine Tatsache, dass unsere Gesellschaft nach wie vor nicht frei ist von Vergewaltigung, Missbrauch und sexuellen Übergriffen.

Abschließend möchte ich hiermit nochmals betonen, dass es mir nicht darum geht, ein Urteil über all diejenigen zu fällen, die durch die Folgen der schwarzen Pädagogik geprägt wurden und diese Prägung weitergeben. Es geht mir weder darum, Freier oder Prostituierte anzuprangern noch irgendwelche anderen Formen der Sexualität. Mir geht es um die Auseinandersetzung mit Mechanismen, denen wir alle mehr oder weniger unterworfen waren und sind und die es gilt zu erkennen. Die Thematik ist so komplex, dass man weder ursächlich Schuldige festmachen könnte, noch eine Patentlösung präsentieren kann.

Wenn ich darüber nachdenke, ob es vielleicht doch etwas gibt, was ich moralisch verurteilte, dann ist es eine Haltung, die eine Auseinandersetzung mit dieser Thematik verbietet oder durch platte Deutungen zum Scheitern verurteilt. Vielleicht ist es das, worum es mir geht: die Bekämpfung der Akzeptanz und des Festhaltens von Machtstrukturen, die Menschen schädigen.




Das Böll-Zitat trifft wahrscheinlich auf die meisten 'Erwachsenen' zu. Leider. Meine persönliche Definition von Erwachsensein wäre eher: 'Erst wenn ich erwachsen bin wird mir bewußt welche Übermacht meine Eltern in Kindheitszeiten und weit darüber hinaus für mich darstellten, um gleichzeitig zu realisieren, dass dies nun nicht mehr so ist.'
Leider kommt für mich diese Erkenntnis einige Jahre zu spät, denn sicherlich wäre ich mit diesem Bewußtsein einiges in der Erziehung meines Sohnes behutsamer angegangen.
Allerdings darf ich doch sagen, dass er schwarze Pädagogik gottlob nie kennengelernt hat. Alice Miller ist mir schon lange ein Begriff ;-).

Ich empfinde es manchmal schon fast als unheimlich, wie ähnlich viele Menschen ihren Eltern sind. Und oftmals kritisieren diese Menschen genau diejenigen Eigenschaften oder Verhaltensweisen an den Eltern, die bei ihnen selbst auch ausgeprägt vorhanden sind. Menschen, die sich zum Beispiel beklagen, dass ein Elternteil sie nicht gegen die Gewalttätigkeit des anderen Elternteils beschützt hat, blenden in der Beziehung zu den Kindern ähnliches Eigenverhalten oftmals aus. Und manchmal wird später als Reaktion auf die Beziehung zu den Eltern das genau entgegengesetzte Verhalten in Bezug auf die eigenen Kinder angenommen. Menschen, die sich von den Eltern nicht genug beschützt gefühlt haben, neigen dann zum Beispiel zu einem zwanghaften Überbeschützen ihrer eigenen Kinder. Das Resultat einer zwanghaften Vermeidung des elterlichen Verhaltens ist dann für die eigenen Kinder oftmals genauso verheerend wie die kritiklose Übernahme des Verhaltens. Die Wiederholungsfalle ist trotz des Bemühens, sie zu vermeiden, nicht zu unterschätzen!

Kritiklose Übernahme ...das ist meines Erachtens genau der Vorwurf, den ich vielen vermeintlich Erwachsenen mache. Sie vermeiden - ja, vielleicht aus Feigheit - die Konfrontation mit der eigenen Kindheitsgeschichte. Vieles ist ihnen zu beschwerlich, zu schmerzhaft und sicherlich auch zu unbequem. Generell wohl ein Verhalten, das wir alle nachvollziehen können und sicherlich auch selbst an uns kennen. Nur viele sind Meister im Verdrängen oder nicht imstande die Kindheitstraumen anzugehen und beinflussen damit in nachhaltig negativer Art und Weise ihre Umgebung.

Das Schlimme an der von Dir erwähnten Vermeidung der Auseinandersetzung mit der eigenen Kindheitsgeschichte ist, dass auch diejenigen, die versuchen, ihr Verhalten zu reflektieren, dabei nicht völlig unabhängig sind von ihrem Umfeld. Wenn man sich in einer Szene aufhält, in der Reflexion und Auseinandersetzung etwas Normales ist, dann erfährt man dadurch Unterstützung. In einer Szene, in der jedes Nachdenken für überflüssig gehalten wird, ist es ungleich schwerer, sich weiterzuentwickeln. Ich will damit nicht die Verantwortung auf das Umfeld abschieben, sondern mir geht es darum, dass man mit seinem Bestreben nach Hinterfragen gebremst oder gefördert werden kann. Man ist eigenverantwortlich in der Frage, ob man sich die Orte sucht oder meidet, an denen man diejenigen Menschen antrifft, die einem helfen oder die einen blockieren.