Mittwoch, 14. Juli 2010
Der kleine und der große Betrug – wirklich kein Unterschied?
Wenn man sich das Recht herausnimmt, andere zu kritisieren, dann muss man sich unweigerlich das Argument anhören, dass man selbst doch auch nicht ohne Fehler ist. Was dabei ein immer wiederkehrender Streitpunkt ist, ist die rigorose Gleichsetzung aller Fehler und allen Fehlverhaltens. Und so ganz falsch ist dies ja auch nicht. Wenn manche Menschen beispielsweise das Beklauen von Freunden für eine Schweinerei halten, aber das Klauen im Supermarkt für einen verzeihlichen Kavaliersdelikt, ist das nur bedingt nachvollziehbar. Irgendwie wird es wahrscheinlich jeder tatsächlich als weniger schlimm empfinden, wenn „nur“ der Supermarkt und nicht der Freund bestohlen wird. Aber irgendwie ist das natürlich auch Augenwischerei, denn die Klaurate im Supermarkt schlägt sich nun mal in erhöhten Preisen nieder und die muss dann auch derjenige mittragen, der nicht klaut.

Mit Betrug ist es das Gleiche. Ein bisschen Schwarzarbeit werden die meisten als weniger schlimm beurteilen, als den Betrug an einem gutgläubigen Rentner. Und wieder ist das im Grunde Augenwischerei, da ja auch die Schwarzarbeit gesellschaftsschädigend ist. Und trotzdem kann die – an sich grundsätzlich nicht falsche – Gleichsetzerei geradezu als Waffe eingesetzt werden, indem die Maxime errichtet wird „Niemand, der auch nur den allerkleinsten Fehler macht, darf jemals einen Fehler bei anderen kritisieren“. Hierdurch wird auf fatalistische Weise jeder zum absoluten Hinnehmen von allem, was um ihn herum passiert, verurteilt. Was dabei herauskommt, ist die Wegguck-Gesellschaft, die alles durchgehen und somit alles beim Alten lässt.

Auch ich habe als Arbeitslose und als BAföG-Empfängerin ein bisschen schwarz dazuverdient, außerdem lange keine GEZ bezahlt und in der Pubertät zwei Schokoriegel geklaut. Ersteres und Zweites kam raus, letzteres glücklicherweise nicht. Und auch auf die Gegenwart bezogen bin ich nicht perfekt, ich würde z.B. nicht einsehen, dass mein Freund im Falle von Hartz-VI-Bezug seinen mir definitiv gezahlten Mietanteil nicht als eben diesen Mietanteil geltend machen kann, sondern ich mich plötzlich in der Situation eines unterhaltspflichtigen Ehepartners wiederfinde, der ich nun mal aber definitiv nicht bin. Folglich würde ich mich im Antrag auch nicht so darstellen lassen. Genau das wird mir vorgehalten, wenn ich mich gegen betrügerische Praktiken einiger Kollegen wende.

Und ich frage mich, ob ich es mir zu einfach mache, wenn ich daran festhalte, dass es nicht das Gleiche ist, ob man sich als Privatperson Schlupflöcher sucht oder ob man das einem verliehene Amt, das Machtbefugnisse und Abhängigkeitsverhältnisse beinhaltet, für einen Machtmissbrauch ausnutzt. Ist meine Unterscheidung wirklich nur sophistische Spitzfindigkeit um davon abzulenken, dass ich selbst auch betrüge? Mache ich es mir zu einfach, weil ich Unterschiede konstruiere, die in Wahrheit gar nicht vorhanden sind?

Der Hartz-IV-Empfänger, der ein paar Stunden schwarzarbeitet und der Geschäftsführer, der trotz seines guten Gehalts die von ihm abhängigen mittellosen Klienten abzockt – ich sehe immer noch einen großen Unterschied zwischen den beiden. Denn für mich ist es nicht das Gleiche, ob jemand Schwierigkeiten hat, mit dem Existenzminimum auszukommen oder ob jemand auch bei einem guten Einkommen einfach den Hals nicht vollkriegt. Wer sich mit viel Arbeit ein bisschen Geld erspart hat und dies im Falle eines Hartz-IV-Bezugs verschweigt, tut nicht das Gleiche wie der gutverdienende Berufsbetreuer, der sich Arbeit bezahlen lässt, die er überhaupt nicht verrichtet hat.

Ich kann es nicht ändern - ich habe Verständnis dafür, dass jemand mit dem lausigen Hartz-IV-Regelsatz nicht auskommt und sich deswegen etwas dazuverdient. Erst wenn dies gezielt zum Lebensplan nach der Devise „Hartz-IV + Schwarzarbeit ist besser als reguläre Arbeit“ wird, lebt jemand bewusst auf Kosten der Gesellschaft.

Die Aussage von Sturmfrau "So kann man den Machtmissbrauch auch auf moralischer Ebene verurteilen, weil diejenigen, denen man die Macht verliehen (!) hat, Rechenschaft schulden. " drückt es ein wenig aus, was ich empfinde, denn die vom Gericht erfolgte Bestellung zum Betreuer – der über hoheitliche Maßnahmen verfügen kann – ist etwas, was zur Rechenschaft verpflichtet. Und letztendlich werden wir von der Gesellschaft bezahlt, in der übrigens immer noch sehr viele Menschen erheblich weniger als wir Betreuer verdienen.

Das biblische „Wer ohne Schuld ist, werfe den ersten Stein“ soll eine Mahnung vor übereilter und selbstgerechter Selbstjustiz darstellen. Aber mit Sicherheit sollte es nicht auf absurde und verheerende Weise ins Gegenteil verkehrt werden zu einem „Wer schuldig ist, schweige für immer“.



Mittwoch, 7. Juli 2010
Das ewig gleiche Gesicht der Gewalt
Heute fand auf unserem Rathausplatz in Harburg eine Kundgebung statt zum Thema Gewalt. Der Anlass war der Mord an einem jungen Mann, der nichts anderes getan hatte, als seine Freundin zu beschützen, die belästigt wurde. Vor einiger Zeit wurde ebenfalls grundlos ein Mann ermordet und der jugendliche Mörder wurde vor kurzem aufgrund einer Panne in der Justiz aus der U-Haft entlassen. Bis gestern befand er sich auf freiem Fuß und befindet sich jetzt ledglich deswegen in Haft, weil er gestern seine Freundin krankenhausreif schlug. Aber es geht nicht nur um diese zwei traurigen Fälle, sondern darum, dass schon seit einiger Zeit in unserem Stadtteil die Gewalttaten immer häufiger und immer brutaler werden..

Ich war schon lange nicht mehr auf einer Demo oder Kundgebung und als ich dann gemeinsam mit etwa 1500 Menschen auf dem Rathausplatz stand, kam mir plötzlich die Absurdität der Situation zu Bewusstsein. In den 80er Jahren habe ich gegen Wiederaufrüstung und den Nato-Doppelbeschluss demonstriert. Der Feind war außerhalb. Klare Fronten bedingten eine klare Zugehörigkeit. Heute aber war es anders. Gewalt wird nicht mehr in abstrakter Form von oben durch Politik und Bundeswehr repräsentiert. Die Gewalt ist mitten unter uns. Der ideologische Kalte Krieg ist beendet aber stattdessen gibt es jetzt eine ganz konkrete und ganz nahe Bedrohung, die jederzeit und überall gegenwärtig ist.

Und die Fronten sind heute alles andere als klar. Jetzt ist es nicht mehr der Staat oder diejenigen, die damals so gern als „die Herrschenden“ (diesen Ausdruck habe ich damals schon als unsäglich dämlich empfunden) bezeichnet wurden – nein jetzt sind es diejenigen, die am Rande der Gesellschaft stehen. Und weil dies so ist, müssen wir – ob wir wollen oder nicht – Verständnis aufbringen.

Es ist heute nicht mehr so schön einfach. Damals war man sich einig darin, dass Krieg, Aufrüstung und Gewalt zu den Abscheulichkeiten des Lebens zählen und eine gehörige Portion Hass war durchaus legitim. Institutionen und Machtstrukturen darf man hassen. Menschen nicht. Der jugendliche Totschläger oder der arbeitslose Mörder gehört zu einer benachteiligten Randgruppe und dies ist ein mildernder Umstand, der manchmal schon fast zum Freispruch führt.

Aber wenn ich ehrlich bin: in meinem tiefsten Innersten spüre ich den Unterschied nicht zwischen denjenigen, die auf der Straße jemanden zu Tode treten und denjenigen, die ihr Geld mit Waffen verdienen oder die sich erst dann sicher fühlen, wenn zu ihrem Land eine gut ausgerüstete Armee gehört.

Ich spüre diesen Unterschied nicht. Ist dies so, weil ich zu undifferenziert denke oder ist dies so, weil es vielleicht tatsächlich auch gar keinen Unterschied gibt? Der GI, der in Vietnam einen Vietkong erschoss, der Jugendliche, der in Hamburg einen Wehrlosen ersticht – mir gelingt es nicht, einen wirklich wesentlichen Unterschied zu entdecken.



Samstag, 26. Juni 2010
Die hohe Kunst des Ignorierens
Etwas, das ich früher auf der ganzen Linie abgelehnt habe, ist das Ignorieren. Ich schaue nicht gern an Dingen vorbei und ich halte es für wichtig, nicht wegzusehen – zumal ich auch einen Beruf ergriffen habe, bei dem das genaue Hinsehen eine Grundvoraussetzung ist. Erst allmählich komme ich dahinter, dass das Ignorieren eine lebenswichtige Verhaltensweise darstellt. Worauf es ankommt, ist, das Ignorieren nicht zu einem Automatismus werden zu lassen, sondern sich bewusst dafür zu entscheiden. Die unabänderlichen Dinge – und leider gibt es derer viele – können das Leben unerträglich machen und letztendlich die Kraft verbrauchen, die man benötigt, um sich den veränderbaren Dingen zuzuwenden.

Fontane hat mal gesagt „Ignorieren ist noch keine Toleranz“ und das habe ich bisher nur in seiner negativen Bedeutung erfasst – nämlich die, dass jemand, der Dinge einfach ignoriert, sich nicht vormachen sollte, dass dies schon einen Wesenszug der Toleranz darstellt. Aber jetzt sehe ich auch die positive Bedeutung. Die Tatsache, dass ich etwas ignoriere, heißt noch nicht, dass ich damit einverstanden bin, sondern ich entziehe ihr lediglich meine Aufmerksamkeit. Und dies muss als Grund nicht Gleichgültigkeit haben, sondern stellt letztendlich einen Akt des Selbstschutzes dar. Sicher, die gefährliche Nähe zur dumpfen Gleichgültigkeit oder zur Feigheit ist immer vorhanden und sollte nicht unterschätzt werden - Wachsamkeit ist geboten.

In der Meditation ist das Ignorieren gewissermaßen die Grundidee. Das, was bei allen Übungen immer wieder Thema ist, ist der Umgang mit Gedanken. Man kämpft lange Zeit gegen die Gedanken an, da man sie als Störenfriede empfindet – was sie ja in gewisser Weise auch sind, weil sie die innere Ruhe und Gelassenheit stören. Und irgendwann passiert es für kurze Zeit, dass man diese Gedanken einfach vorbeifließen lässt. Man kämpft nicht mehr gegen sie an aber man vertieft sich auch nicht mehr in sie. Und diese kurzen Momente werden häufiger. Meditationslehrer bezeichnen die Gedanken sogar als wichtige „Helfer“, was ich zuerst als völlig abwegig empfunden habe. Erst allmählich begreife ich, dass die Gedanken in ihrer Funktion das bedeuten, was im Kampfsport der Gegner darstellt: das Gegenüber, das die eigene Fähigkeit immer wieder herausfordert und somit stärkt.

Und in gewisser Weise ist das alltägliche Leben vergleichbar mit dem Meditationsprozess. Es ist ein enormer Kraftakt, sich in all die Unzulänglichkeiten, die man nicht ändern kann, zu vertiefen. Man muss sie vorbeiziehen lassen, wenn man seine Kraft nicht vergeuden will. Diese Kraft, die man so dringend benötigt, um zumindest ein wenig zu verändern. Vielleicht gilt das nicht für jeden, aber zumindest für diejenigen Menschen, die einen Beruf wie ich haben, der Verantwortung für Menschen mit sich bringt, die dringend Hilfe benötigen.

Das Problem beim Ignorieren ist das Wie und Wo. Wenn jemand meiner Betreuten sterbenskrank ist und ich genauestens abwägen muss, was zu veranlassen ist, muss ich so genau es nur irgend möglich ist hinsehen und mitfühlen. Wenn ich allerdings mitbekomme, dass irgendwo jemand abgezockt wird und Machtbefugnisse ausgenutzt werden, dann muss ich es ignorieren, denn – und das ist ein Erfahrungswert – allein kann ich nichts dagegen ausrichten. Vielleicht kommen auch mal Zeiten, in denen Menschen mit Rückgrat erscheinen – einen kleinen Lichtblick gab es ja schon vor kurzem – aber die Zeit ist anscheinend noch nicht gekommen (oder schon vorbei?).

Die Unzulänglichkeiten und Widerwärtigkeiten des Lebens. Beleidigungen, verbale Entgleisungen, dumpfe Projektionen, Alphagehabe, Feigheit, Verrat – glücklich, wer von Ihnen verschont bleibt. Und wer nicht soviel Glück hat, dem bleibt eben immerhin doch noch eine Chance: Ignorieren!