Der kleine und der große Betrug – wirklich kein Unterschied?
Wenn man sich das Recht herausnimmt, andere zu kritisieren, dann muss man sich unweigerlich das Argument anhören, dass man selbst doch auch nicht ohne Fehler ist. Was dabei ein immer wiederkehrender Streitpunkt ist, ist die rigorose Gleichsetzung aller Fehler und allen Fehlverhaltens. Und so ganz falsch ist dies ja auch nicht. Wenn manche Menschen beispielsweise das Beklauen von Freunden für eine Schweinerei halten, aber das Klauen im Supermarkt für einen verzeihlichen Kavaliersdelikt, ist das nur bedingt nachvollziehbar. Irgendwie wird es wahrscheinlich jeder tatsächlich als weniger schlimm empfinden, wenn „nur“ der Supermarkt und nicht der Freund bestohlen wird. Aber irgendwie ist das natürlich auch Augenwischerei, denn die Klaurate im Supermarkt schlägt sich nun mal in erhöhten Preisen nieder und die muss dann auch derjenige mittragen, der nicht klaut.

Mit Betrug ist es das Gleiche. Ein bisschen Schwarzarbeit werden die meisten als weniger schlimm beurteilen, als den Betrug an einem gutgläubigen Rentner. Und wieder ist das im Grunde Augenwischerei, da ja auch die Schwarzarbeit gesellschaftsschädigend ist. Und trotzdem kann die – an sich grundsätzlich nicht falsche – Gleichsetzerei geradezu als Waffe eingesetzt werden, indem die Maxime errichtet wird „Niemand, der auch nur den allerkleinsten Fehler macht, darf jemals einen Fehler bei anderen kritisieren“. Hierdurch wird auf fatalistische Weise jeder zum absoluten Hinnehmen von allem, was um ihn herum passiert, verurteilt. Was dabei herauskommt, ist die Wegguck-Gesellschaft, die alles durchgehen und somit alles beim Alten lässt.

Auch ich habe als Arbeitslose und als BAföG-Empfängerin ein bisschen schwarz dazuverdient, außerdem lange keine GEZ bezahlt und in der Pubertät zwei Schokoriegel geklaut. Ersteres und Zweites kam raus, letzteres glücklicherweise nicht. Und auch auf die Gegenwart bezogen bin ich nicht perfekt, ich würde z.B. nicht einsehen, dass mein Freund im Falle von Hartz-VI-Bezug seinen mir definitiv gezahlten Mietanteil nicht als eben diesen Mietanteil geltend machen kann, sondern ich mich plötzlich in der Situation eines unterhaltspflichtigen Ehepartners wiederfinde, der ich nun mal aber definitiv nicht bin. Folglich würde ich mich im Antrag auch nicht so darstellen lassen. Genau das wird mir vorgehalten, wenn ich mich gegen betrügerische Praktiken einiger Kollegen wende.

Und ich frage mich, ob ich es mir zu einfach mache, wenn ich daran festhalte, dass es nicht das Gleiche ist, ob man sich als Privatperson Schlupflöcher sucht oder ob man das einem verliehene Amt, das Machtbefugnisse und Abhängigkeitsverhältnisse beinhaltet, für einen Machtmissbrauch ausnutzt. Ist meine Unterscheidung wirklich nur sophistische Spitzfindigkeit um davon abzulenken, dass ich selbst auch betrüge? Mache ich es mir zu einfach, weil ich Unterschiede konstruiere, die in Wahrheit gar nicht vorhanden sind?

Der Hartz-IV-Empfänger, der ein paar Stunden schwarzarbeitet und der Geschäftsführer, der trotz seines guten Gehalts die von ihm abhängigen mittellosen Klienten abzockt – ich sehe immer noch einen großen Unterschied zwischen den beiden. Denn für mich ist es nicht das Gleiche, ob jemand Schwierigkeiten hat, mit dem Existenzminimum auszukommen oder ob jemand auch bei einem guten Einkommen einfach den Hals nicht vollkriegt. Wer sich mit viel Arbeit ein bisschen Geld erspart hat und dies im Falle eines Hartz-IV-Bezugs verschweigt, tut nicht das Gleiche wie der gutverdienende Berufsbetreuer, der sich Arbeit bezahlen lässt, die er überhaupt nicht verrichtet hat.

Ich kann es nicht ändern - ich habe Verständnis dafür, dass jemand mit dem lausigen Hartz-IV-Regelsatz nicht auskommt und sich deswegen etwas dazuverdient. Erst wenn dies gezielt zum Lebensplan nach der Devise „Hartz-IV + Schwarzarbeit ist besser als reguläre Arbeit“ wird, lebt jemand bewusst auf Kosten der Gesellschaft.

Die Aussage von Sturmfrau "So kann man den Machtmissbrauch auch auf moralischer Ebene verurteilen, weil diejenigen, denen man die Macht verliehen (!) hat, Rechenschaft schulden. " drückt es ein wenig aus, was ich empfinde, denn die vom Gericht erfolgte Bestellung zum Betreuer – der über hoheitliche Maßnahmen verfügen kann – ist etwas, was zur Rechenschaft verpflichtet. Und letztendlich werden wir von der Gesellschaft bezahlt, in der übrigens immer noch sehr viele Menschen erheblich weniger als wir Betreuer verdienen.

Das biblische „Wer ohne Schuld ist, werfe den ersten Stein“ soll eine Mahnung vor übereilter und selbstgerechter Selbstjustiz darstellen. Aber mit Sicherheit sollte es nicht auf absurde und verheerende Weise ins Gegenteil verkehrt werden zu einem „Wer schuldig ist, schweige für immer“.