Das ewig gleiche Gesicht der Gewalt
Heute fand auf unserem Rathausplatz in Harburg eine Kundgebung statt zum Thema Gewalt. Der Anlass war der Mord an einem jungen Mann, der nichts anderes getan hatte, als seine Freundin zu beschützen, die belästigt wurde. Vor einiger Zeit wurde ebenfalls grundlos ein Mann ermordet und der jugendliche Mörder wurde vor kurzem aufgrund einer Panne in der Justiz aus der U-Haft entlassen. Bis gestern befand er sich auf freiem Fuß und befindet sich jetzt ledglich deswegen in Haft, weil er gestern seine Freundin krankenhausreif schlug. Aber es geht nicht nur um diese zwei traurigen Fälle, sondern darum, dass schon seit einiger Zeit in unserem Stadtteil die Gewalttaten immer häufiger und immer brutaler werden..

Ich war schon lange nicht mehr auf einer Demo oder Kundgebung und als ich dann gemeinsam mit etwa 1500 Menschen auf dem Rathausplatz stand, kam mir plötzlich die Absurdität der Situation zu Bewusstsein. In den 80er Jahren habe ich gegen Wiederaufrüstung und den Nato-Doppelbeschluss demonstriert. Der Feind war außerhalb. Klare Fronten bedingten eine klare Zugehörigkeit. Heute aber war es anders. Gewalt wird nicht mehr in abstrakter Form von oben durch Politik und Bundeswehr repräsentiert. Die Gewalt ist mitten unter uns. Der ideologische Kalte Krieg ist beendet aber stattdessen gibt es jetzt eine ganz konkrete und ganz nahe Bedrohung, die jederzeit und überall gegenwärtig ist.

Und die Fronten sind heute alles andere als klar. Jetzt ist es nicht mehr der Staat oder diejenigen, die damals so gern als „die Herrschenden“ (diesen Ausdruck habe ich damals schon als unsäglich dämlich empfunden) bezeichnet wurden – nein jetzt sind es diejenigen, die am Rande der Gesellschaft stehen. Und weil dies so ist, müssen wir – ob wir wollen oder nicht – Verständnis aufbringen.

Es ist heute nicht mehr so schön einfach. Damals war man sich einig darin, dass Krieg, Aufrüstung und Gewalt zu den Abscheulichkeiten des Lebens zählen und eine gehörige Portion Hass war durchaus legitim. Institutionen und Machtstrukturen darf man hassen. Menschen nicht. Der jugendliche Totschläger oder der arbeitslose Mörder gehört zu einer benachteiligten Randgruppe und dies ist ein mildernder Umstand, der manchmal schon fast zum Freispruch führt.

Aber wenn ich ehrlich bin: in meinem tiefsten Innersten spüre ich den Unterschied nicht zwischen denjenigen, die auf der Straße jemanden zu Tode treten und denjenigen, die ihr Geld mit Waffen verdienen oder die sich erst dann sicher fühlen, wenn zu ihrem Land eine gut ausgerüstete Armee gehört.

Ich spüre diesen Unterschied nicht. Ist dies so, weil ich zu undifferenziert denke oder ist dies so, weil es vielleicht tatsächlich auch gar keinen Unterschied gibt? Der GI, der in Vietnam einen Vietkong erschoss, der Jugendliche, der in Hamburg einen Wehrlosen ersticht – mir gelingt es nicht, einen wirklich wesentlichen Unterschied zu entdecken.




Beides...
...hat meiner Auffassung nach mit Macht zu tun, und mit Machtlosigkeit (der eigenen, gefühlten, die es zu kompensieren gilt).

Dabei hat die Macht der "Herrschenden" einen anderen Charakter. Wenn Du schreibst, eine Portion Hass auf Institutionen sei legitim, dann ist das sicherlich auch deshalb so, weil sich diese Institutionen uns gegenüber zu legitimieren hatten und haben mit dem, was sie tun. "Die da oben" waren und sind ja auf eine Art dort oben hingekommen, die ohne die Legitimation anderer so nicht vonstatten gegangen wäre. So kann man den Machtmissbrauch auch auf moralischer Ebene verurteilen, weil diejenigen, denen man die Macht verliehen (!) hat, Rechenschaft schulden. Ich betrachte diese Verurteilung von Machtmissbrauch sogar als Pflicht.

Über die individuellen Motive der Machtmissbraucher "oben" mag man indessen rätseln, und ich denke, sie zu fassen ist deshalb so schwierig, weil sie zweischichtig funktionieren - sowohl individuell (ohne eine gewisse Machtgier kommt man an die einflussreichen Posten nicht heran, man muss das schon auch wollen) als auch systemimmanent. Es gibt auch Posten, die sich zum Ge- und Missbrauch von Macht und zur Ausübung von Gewalt besonders eignen, zum Beispiel im Militär. Wie haarsträubend die Begründungen zur Durchsetzung der eigenen Machtinteressen gegenüber der Öffentlichkeit dann ausfallen, sah man ja jüngst im Irak ("...weapons of mass destruction...").

Was die individuellen Beweggründe der Menschen zur Ausübung von Macht und Gewalt anbetrifft, denke ich ähnlich wie Du, dass sie so verschieden gar nicht sind. Nur die Wege dorthin werden für viele Menschen kürzer, die Hemmschwellen niedriger. Man braucht sich heute nicht mehr zum Militär zu melden, um seine Gewaltphantasien ein Stück weit ausleben zu können (das wäre noch viel zu kompliziert, zu viele Regeln...). Heute kann man das gefühlte Machtvakuum, die Hilflosigkeit im eigenen Innern dadurch füllen, dass man sich auf U-Bahn-Steigen in einen Rausch prügelt.

Ich denke, dass das so viel öfter geschieht als früher (so ist zumindest mein subjektiver Eindruck - vielleicht leide ich ja auch unter der "früher-war-alles-besser"-Krankheit) liegt zum einen daran, dass tatsächlich die Hilflosigkeit in den Menschen (insbesondere jungen Männern, aber auch Mädchen) zunimmt und nach einem Ausgleich sucht. Aber es liegt sicher auch daran, dass Gewalt (innerhalb der Gruppe, der man zugehört) weniger negativ besetzt ist und dazu dient, sich zu definieren und einzusortieren - auch das sorgt für die Sicherheit, die andernorts fehlt. Drittens glaube ich, dass es an alternativen Strategien fehlt. Es fehlen für viele junge Menschen identitätsstiftende, erlebbare (!) Vorbilder im engen Umfeld, die nicht den beiden extremen Polen von Standardkarriere (Wiege-Schule-Arbeit-Rente-Kiste) oder Null-Bock-Null-Aussicht entsprechen. Sinnsuche ohne Sinnstifter gestaltet sich schwierig, was folgt ist kaum berechenbare Halt-, Hilf- und Machtlosigkeit und im Endeffekt - Gewalt... Es wundert kaum, dass das Mitgefühl auf der Strecke bleibt.

Der Unterschied besteht möglicherweise im Bewusstsein über die eigenen Motive. Nur so ein Gedanke...

Sorry, ist bisschen lang geworden.

Dein Beitrag ist lang, aber auf keinen Fall zu lang (hier wird ja nicht getwittert). Du hast den Aspekt Macht angesprochen. Aus Ohnmachtsgefühlen heraus zur Gewalt greifen, um sich das Gefühl von Macht zu verschaffen. Das ist sicher richtig, aber es erklärt eben nicht alles, denn es gibt auch unzählige Menschen, die keine Macht haben und die ihr Leben in der Position von Anweisungen anderer befolgenden Untergebenen leben. Trotzdem greifen sie nicht zwangsläufig zur Gewalt.

Ich glaube, dass die Einstellung zur Gewalt erlernt wird. Wenn Gewalt als ein völlig normales Mittel zur Auseinandersetzung akzeptiert – ja oftmals sogar gefordert! – wird, dann werden friedliche Formen des Miteinanders regelrecht verlernt. Und wenn das familiäre Umfeld Ducken und Kuschen vor den Eltern abverlangt, dann bekommt die Gesellschaft das ab, was zwangsläufig an Frust und Demütigung in der Familie runtergeschluckt werden muss. Die wiederum ist erleichtert, dass es innerhalb der Häuslichkeit friedlich läuft. Und all dies ist eben nicht neu, denn das Aufkommen der Antiautoritären Erziehung und der Antipädagogik ist ja der Einsicht in diesen Mechanismus zu verdanken. Man hat die verheerenden Auswirkungen übertriebener Einengung, Disziplin und Rollenvorschriften erkannt und diese verurteilt. Auch wenn ich der Meinung bin, dass so einiges an dem antiautoritären Konzept falsch ist, so war dieses Konzept dennoch nötig, damit sich unsere traurige Geschichte nicht wiederholt. Damit überhaupt Raum für Entwicklung entstehen konnte.

Und deswegen sehe ich die Gewalttäter, die nicht zu den „Herrschenden“ gehören eben nicht als Opfer. Sie repräsentieren für mich vielmehr eine Zeit, die längst vorbei sein sollte, die aber bewusst und beabsichtigt gewählt wurde. Ich fühle mich wie auf einer Zeitreise ins Mittelalter, in dem alles durch strenge Hierarchien und dumpfe Glaubensregeln bestimmt war und das Denken nur von einigen wenigen Gebildeten praktiziert wurde.

Und deswegen widert mich die Zunahme von Gewalt im doppelten Maß an – zum einen, weil sie mich bedroht und zum anderen, weil so ziemlich alles zunichte gemacht wird, was mühsam erkämpft wurde und was mir persönlich unendlich viel bedeutet hat. Ich lese sehr gern etwas über das Mittelalter, aber leben möchte ich auf keinen Fall darin. Und in Hamburg-Harburg und Hamburg-Wilhelmsburg fühle ich mich immer mehr wie im Mittelalter. Faustrecht und unsäglich rigorose Rollenvorschriften bestimmen hier den Alltag.

Ich weiß, ich als Sozialpädagogin müsste mehr Verständnis haben. Vielleicht hätte ich dies auch, wenn ich in Blankenese oder in einem Studentenviertel leben würde. Aber ich glaube, ich bin einfach zu dicht dran. Und Verständnis gedeiht besser in der Ferne.

Das was Du als die „Früher-war-alles-besser“-Krankheit bezeichnest, könnte ja auch einfach die „Früher-war-manches-besser“-Einstellung sein. Hört sich immer noch ein bisschen nach unseren Eltern an, aber ist vielleicht trotzdem nicht ganz falsch.