Die hohe Kunst des Ignorierens
Etwas, das ich früher auf der ganzen Linie abgelehnt habe, ist das Ignorieren. Ich schaue nicht gern an Dingen vorbei und ich halte es für wichtig, nicht wegzusehen – zumal ich auch einen Beruf ergriffen habe, bei dem das genaue Hinsehen eine Grundvoraussetzung ist. Erst allmählich komme ich dahinter, dass das Ignorieren eine lebenswichtige Verhaltensweise darstellt. Worauf es ankommt, ist, das Ignorieren nicht zu einem Automatismus werden zu lassen, sondern sich bewusst dafür zu entscheiden. Die unabänderlichen Dinge – und leider gibt es derer viele – können das Leben unerträglich machen und letztendlich die Kraft verbrauchen, die man benötigt, um sich den veränderbaren Dingen zuzuwenden.

Fontane hat mal gesagt „Ignorieren ist noch keine Toleranz“ und das habe ich bisher nur in seiner negativen Bedeutung erfasst – nämlich die, dass jemand, der Dinge einfach ignoriert, sich nicht vormachen sollte, dass dies schon einen Wesenszug der Toleranz darstellt. Aber jetzt sehe ich auch die positive Bedeutung. Die Tatsache, dass ich etwas ignoriere, heißt noch nicht, dass ich damit einverstanden bin, sondern ich entziehe ihr lediglich meine Aufmerksamkeit. Und dies muss als Grund nicht Gleichgültigkeit haben, sondern stellt letztendlich einen Akt des Selbstschutzes dar. Sicher, die gefährliche Nähe zur dumpfen Gleichgültigkeit oder zur Feigheit ist immer vorhanden und sollte nicht unterschätzt werden - Wachsamkeit ist geboten.

In der Meditation ist das Ignorieren gewissermaßen die Grundidee. Das, was bei allen Übungen immer wieder Thema ist, ist der Umgang mit Gedanken. Man kämpft lange Zeit gegen die Gedanken an, da man sie als Störenfriede empfindet – was sie ja in gewisser Weise auch sind, weil sie die innere Ruhe und Gelassenheit stören. Und irgendwann passiert es für kurze Zeit, dass man diese Gedanken einfach vorbeifließen lässt. Man kämpft nicht mehr gegen sie an aber man vertieft sich auch nicht mehr in sie. Und diese kurzen Momente werden häufiger. Meditationslehrer bezeichnen die Gedanken sogar als wichtige „Helfer“, was ich zuerst als völlig abwegig empfunden habe. Erst allmählich begreife ich, dass die Gedanken in ihrer Funktion das bedeuten, was im Kampfsport der Gegner darstellt: das Gegenüber, das die eigene Fähigkeit immer wieder herausfordert und somit stärkt.

Und in gewisser Weise ist das alltägliche Leben vergleichbar mit dem Meditationsprozess. Es ist ein enormer Kraftakt, sich in all die Unzulänglichkeiten, die man nicht ändern kann, zu vertiefen. Man muss sie vorbeiziehen lassen, wenn man seine Kraft nicht vergeuden will. Diese Kraft, die man so dringend benötigt, um zumindest ein wenig zu verändern. Vielleicht gilt das nicht für jeden, aber zumindest für diejenigen Menschen, die einen Beruf wie ich haben, der Verantwortung für Menschen mit sich bringt, die dringend Hilfe benötigen.

Das Problem beim Ignorieren ist das Wie und Wo. Wenn jemand meiner Betreuten sterbenskrank ist und ich genauestens abwägen muss, was zu veranlassen ist, muss ich so genau es nur irgend möglich ist hinsehen und mitfühlen. Wenn ich allerdings mitbekomme, dass irgendwo jemand abgezockt wird und Machtbefugnisse ausgenutzt werden, dann muss ich es ignorieren, denn – und das ist ein Erfahrungswert – allein kann ich nichts dagegen ausrichten. Vielleicht kommen auch mal Zeiten, in denen Menschen mit Rückgrat erscheinen – einen kleinen Lichtblick gab es ja schon vor kurzem – aber die Zeit ist anscheinend noch nicht gekommen (oder schon vorbei?).

Die Unzulänglichkeiten und Widerwärtigkeiten des Lebens. Beleidigungen, verbale Entgleisungen, dumpfe Projektionen, Alphagehabe, Feigheit, Verrat – glücklich, wer von Ihnen verschont bleibt. Und wer nicht soviel Glück hat, dem bleibt eben immerhin doch noch eine Chance: Ignorieren!




Der Gedankengang gefällt mir, umso mehr weil ich ihn selbst oft habe. Dazu fällt mir ein Zitat ein welches ich sehr schön finde:

God, grant me the serenity to accept the things I cannot change,
Courage to change the things I can,
And wisdom to know the difference.
von Niebuhr

Das Zitat kenne ich auch und ich glaube, wenn es gelingen würde, wirklich nach diesem Grundsatz zu leben, dann wäre dies ein großer Schritt in Richtung Gelassenheit.

Seit ich mit dem Meditieren begonnen habe, stieß ich auch immer wieder auf das "Problem" der sich ins Blickfeld schiebenden Gedanken. Wie schwer war der Schritt, sie einfach wahrzunehmen, ihre Effekte auf mein Leben wahrzunehmen, sie zu sehen, aber nicht gegen sie zu kämpfen oder auf sie zu reagieren. Die Situation des Meditierens ist in vielerlei Hinsicht auf das Leben übertragbar. Das habe ich immer wieder festgestellt.

Was ungeheuer hilfreich ist, ist die Möglichkeit, sich durch Beobachtung Distanz zu verschaffen, denn wer bewertet und verurteilt, ist einfach immer nah dran. Ich habe die Erfahrung gemacht, dass nicht nur die "störenden" Gedanken in der Meditation sondern auch die Begebenheiten im Alltagsleben mehr zu mir gehören, akzeptabler und bearbeitbarer für mich sind, wenn ich sie zunächst einmal nur zu sehen versuche und mit dieser gewissen Distanz den Gefühlen nachgehe, die sie in mir verursachen - ohne zu hadern, ändern zu wollen oder gar mich für meine Haltung zu den Ereignissen zu verurteilen.

Das ist sicher nicht nur Selbstschutz, aber letzterer ist enorm wichtig. Hat man die Erkenntnis gefunden, dass der eigene Einfluss auf und die eigene Verantwortung für den anderen aufgrund des eigenen Menschseins zwangsläufig begrenzt sind, entlastet man sich. Und so setzt sich letztlich auch Energie frei, um sich für andere bewusst einzusetzen an den Punkten, die man für sich als wesentlich begreift.

Obwohl ich mich schon lange mit Meditation beschäftige, habe ich diese Erkenntnis erst sehr spät entwickelt. Man muss eisern auf dem Weg bleiben, um die Erkenntnis nicht wieder verebben zu lassen. Aber es gibt eben auch immer wieder Menschen, die ein Beispiel dafür sind, dass es mögich ist.