Sonntag, 27. April 2014
Ein Film, der unter die Haut geht – Armut und Würde
„Durch Armut, das heißt durch ein einfaches Leben und wenig Zwischenfälle, festige und kristallisiere ich mich wie Dunst oder Flüssigkeit durch Kälte. Es ist eine einzigartige Konzentration von Kraft, Energie und Aroma. Enthaltsamkeit ist ein ständiges Bekenntnis zum All. Mein zerstreutes, nebelhaftes Leben wird wie die Eisblumen und Frostnadeln, die an einem Wintermorgen an den Kräutern und Stoppeln wie Edelsteine glitzern. Ihr glaubt, daß ich mich selbst arm mache, indem ich mich von den Menschen zurückziehe, aber in meiner Einsamkeit habe ich mir ein seidenes Gewebe wie eine Schmetterlingspuppe gesponnen, und gleich einer Nymphe werde ich in Bälde als ein vollkommeneres Wesen hervorgehen, einer höheren Gesellschaft würdig. Durch Einfachheit, gewöhnlich Armut genannt, ist mein Leben konzentriert und damit organisiert, ein Kosmos, während es vorher unorganisch und knotig war.
Henry David Thoreau (1817 - 1862)

In dem Film „Die Summe meiner einzelnen Teile“ geht es um jemanden, der mehr oder weniger schlagartig aus der gesellschaftlichen Normalität hinausgedrängt wird und sich plötzlich am Rande der Gesellschaft wiederfindet. Der junge Mathematiklehrer Martin verliert durch eine psychische Erkrankung seine Arbeit, seine Beziehung und schließlich auch seine Wohnung. Obdachlos campiert er in leerstehenden Häusern, wo er den Jungen Viktor trifft, der vor kurzem seine Mutter verloren hat und der ebenfalls kein Zuhause mehr hat. Die beiden freunden sich an und wohnen schließlich gemeinsam im Wald in einer selbstgebauten Hütte.

Den Anfang des Films empfand ich als extrem bedrückend. Jemand wird in relativ stabilem Zustand aus stationärer psychiatrischer Behandlung entlassen und hat den Wunsch, seine Arbeit wieder aufzunehmen, was jedoch daran scheitert, dass der Chef ihn nicht mehr weiterbeschäftigen will. Als die Freundin die Beziehung beendet, verfällt Martin in Apathie und kümmert sich um nichts mehr, so dass die Miete nicht mehr bezahlt wird und er die Wohnungskündigung erhält. Dies endet damit, dass morgens der Gerichtsvollzieher die Tür aufbrechen lässt und gewaltsam in seine Wohnung eindringt um ihm zu eröffnen, dass diese jetzt geräumt wird. Man kann sich eigentlich kaum etwas Schrecklicheres vorstellen, als morgens in aller Frühe von einem Rollkommando überfallen zu werden und mit einem Schlag sein Zuhause und alles, was dazugehört zu verlieren.

Was dann geschieht, hat bei mir eine merkwürdige Mischung von Gefühlen ausgelöst, denn zum einen verursacht das durch den Arbeits- und Wohnungsverlust entstandene Elend Entsetzen und Mitleid und zum anderen wird genau hinter diesem Elend eine sonderbare Form der Freiheit und Autonomie deutlich. Freiheit, die nur dann entstehen kann, wenn es nichts mehr zu verlieren gibt und man keinen Zwängen mehr unterliegt. Ein bisschen erinnert mich die Situation auch an unsere Hamburger Bauwagengruppe, die aus Menschen besteht, die auf fließend Wasser und Strom verzichten und in Bauwagen campieren. Das Leben in einem Bauwagencamp bietet diesen Menschen ganz offensichtlich Vorteile, die Leben auf wenigen Quadratmetern mit Plumsklo und Ofenheizung aufwiegen.

Es ist ein äußerst heikles Thema, wenn Armut in irgendeiner Form idealisiert wird und Menschen, die im Überfluss leben, sollten damit mehr als vorsichtig sein. Zu leicht bagatellisiert man die vielen Probleme, die mit Armut und dem Leben am Rande der Gesellschaft verbunden sind. Dennoch kann man nicht die Augen davor verschließen, dass Armut den Menschen zurückwirft auf sein eigentliches Sein. Es geht nicht mehr um ein gepflegtes Erscheinungsbild, nicht mehr um die einwandfreie Rasur und das akkurat gebügelte Hemd, sondern es geht ums reine Überleben. Um die Existenz.

Der Film wirft die Frage auf, ob Armut grundsätzlich mit entwürdigenden Lebensbedingungen verbunden sein muss, oder ob nicht gerade die radikale Abkehr von allen gesellschaftlichen Abhängigkeiten eine Form der Würde beinhalten kann, die gerade darin begründet ist, dass man einen Zustand der Autonomie erreicht hat, der innerhalb der gesellschaftlichen Zwänge gar nicht mehr möglich ist. Wobei man einräumen muss, dass es kaum noch Nischen gibt, die frei von Zwängen sind. Im Film wird daher auch irgendwann die selbstgebaute Hütte abgerissen und Martin erneut in die Psychiatrie eingewiesen. Und auch das von mir erwähnte Bauwagencamp muss ständig eine Zwangsräumung fürchten.

Sehr berührend ist die Freundschaft zwischen Martin und Viktor. Zwei verlorene Seelen, die beide sehr viel Leid erlebt haben, geben sich gegenseitig Halt. Viktor spricht kein Deutsch, so dass Sprache als Kommunikationsmittel ausgeschlossen ist. Trotzdem tut dies der tiefen Freundschaft keinen Abbruch, denn es sind nicht Worte, über die Verbindung hergestellt wird, sondern die gegenseitige Fürsorge ist das Ausschlaggebende. Fürsorge ist übrigens ein veraltetes und mittlerweile verachtetes Wort, wie mir gerade einfällt und trotzdem möchte ich kein anderes verwenden, denn es ist eben genau das Füreinander-Sorge-Tragen, was das Besondere der Beziehung der beiden darstellt.

Als ich diesen beeindruckenden Film nachklingen ließ, fiele mir der Ausspruch Thoreaus ein: „Ich ging in die Wälder, denn ich wollte wohlüberlegt leben; intensiv leben wollte ich. Das Mark des Lebens in mich aufsaugen, um alles auszurotten was nicht Leben war. Damit ich nicht in der Todesstunde inne würde, daß ich gar nicht gelebt hatte.“ Als ich dann ein wenig mehr von Thoreau las, fand ich die eingangs zitierten Worte, die für mich beeindruckend beschreiben, dass Armut auch noch eine andere Seite haben kann, als die des Elends. Auch wenn es ein großer Unterschied ist, ob Armut freiwillig gewählt wurde, wie es bei Thoreau der Fall war, oder ob Armut unfreiwillig durch einen Schicksalsschlag verursacht wird, wie hier im Film dargestellt – Armut kann ein bewusstes und würdevolles Nein zu allem Überflüssigen und zu entfremdeten Wertmaßstäben darstellen.



Freitag, 11. April 2014
Not a boygroup – eine Überraschung auf St. Pauli
Es ist ungeheuer selten, dass ich mich nach St. Pauli verirre, da es mir dort einfach nicht mehr gefällt. Aber durch unsere Urlaubsbekanntschaft habe ich Anstöße zum Thema vegane Ernährung erhalten und auf St. Pauli gibt es einen veganen Imbiss. Den haben wir gestern aufgesucht, das Ergebnis war – sagen wir mal – zufriedenstellend. Dann bummelten wir noch und als wir schon fast beim Auto angelangt waren, hörte ich plötzlich altbekannte Töne aus einer Eckkneipe. Was sind altbekannte Töne? Für mich ein Gitarrensolo, ein echtes Schlagzeug (kein lächerlicher Drumcomputer) und Blues-Mundharmonika. Wenn dann noch eine tiefe ausdrucksvolle Bluesstimme dazukommt, die weit entfernt ist vom Gepiepse auf DSDS-Niveau – dann muss man einfach reingehen. Der Eintritt war mit 25,00 € relativ teuer, aber da das Konzert schon am Laufen war, wurde großzügig ermäßigt.

Und dann die Überraschung, als ich mir das Poster genau ansah – der Leadgitarrist Mick Ralphs stammte von Mott the Hoople. Die wird garantiert kein Leser kennen und ich kenne die Gruppe eigentlich auch nicht. Aber ich erinnerte mich an den Namen, weil der damalige Freund meiner Schwester viele Platten von Mott the Hoople hatte und die Gruppe damals eine anerkannte Größe in der Musikszene war.

Es war einfach nur gut und ein wirklicher Genuss nach langer Zeit mal wieder Musiker zu sehen, die einfach grandios spielen. Eine lange Zeitspanne liegt zwischen dem letztmaligen Hören der Platte und dem gestrigen Liveauftritt. Aber besser spät als nie – es hat sich auf jeden Fall gelohnt.



Donnerstag, 10. April 2014
Sich an fremden Orten wie zuhause fühlen
Obwohl ich ja eigentlich gar nicht mehr soviel in andere Blogs gucken will, habe ich gerade eine sehr lesenswerte Umfrage im Blog von Sturmfrau gelesen. Das Thema des Beitrags lautet Heimat. Und obwohl Reisen im Grunde das Gegenteil von Heimat ist, fiel mir beim nochmaligen Lesen nicht mein Heimatort, sondern meine Reisen nach Griechenland ein.

Ich bin sehr heimatverbunden, aber mit Anfang zwanzig verliebte ich mich in Griechenland. Es war keine Liebe auf den ersten Blick, denn der erste Urlaub gefiel mir nur mittelmäßig, mir war das Land viel zu heiß und die Landschaft viel zu karg und ausgedörrt. Aber beim zweiten Urlaub funkte es. Plötzlich war mir Griechenland so vertraut, dass ich mich dort sofort wie zuhause fühlte. Ich liebte die Musik – Rembetiko und Tsifteteli – , das Essen, die weißen Häuser mit den daran hochrankenden Bougainvillea, die Tavernen und überhaupt alles. Ich begann Griechisch zu lernen und verbrachte jeden Urlaub in Griechenland.

Das Merkwürdige war, dass ich, wenn ich in einem griechischen Dorf in einer Taverne oder einer Ouzerie saß, sofort zu einer Gelassenheit und Ruhe fand, die ich hier in Deutschland so noch nie empfunden habe. Einfach nur da zu sitzen und zu gucken – ohne Erwartung, ohne konkrete Ziele und Pläne – das war mir in der Form nur in Griechenland möglich.

Ich glaube nicht an frühere Leben. Aber wenn ich dran glauben würde, dann wäre ich mir sicher, dass zumindest eines meiner früheren Leben sich in Griechenland abspielte.

Ich stelle mir gerade eine typische Situation vor: eine Taverne zur Mittagszeit. Man hört nur das Zirpen der Grillen und sonst nichts. Es riecht nach Thymian und Zitronenmelisse. Alles ist überaus einfach, aber nichts fehlt. Neben mir alte Männer, die schweigend ihren Kaffee aus winzigen Tassen schlürfen. Es passiert überhaupt nichts und es muss auch überhaupt nichts passieren. Es ist perfekt.

Wieso kann man in einem fremden Land mehr zur Ruhe kommen als im eigenen?


„Die Seele findet in Griechenland ihren Hafen, denn es lässt kein Begehren ungestillt.“
Johannes Gaitanides