Ein Film, der unter die Haut geht – Armut und Würde
„Durch Armut, das heißt durch ein einfaches Leben und wenig Zwischenfälle, festige und kristallisiere ich mich wie Dunst oder Flüssigkeit durch Kälte. Es ist eine einzigartige Konzentration von Kraft, Energie und Aroma. Enthaltsamkeit ist ein ständiges Bekenntnis zum All. Mein zerstreutes, nebelhaftes Leben wird wie die Eisblumen und Frostnadeln, die an einem Wintermorgen an den Kräutern und Stoppeln wie Edelsteine glitzern. Ihr glaubt, daß ich mich selbst arm mache, indem ich mich von den Menschen zurückziehe, aber in meiner Einsamkeit habe ich mir ein seidenes Gewebe wie eine Schmetterlingspuppe gesponnen, und gleich einer Nymphe werde ich in Bälde als ein vollkommeneres Wesen hervorgehen, einer höheren Gesellschaft würdig. Durch Einfachheit, gewöhnlich Armut genannt, ist mein Leben konzentriert und damit organisiert, ein Kosmos, während es vorher unorganisch und knotig war.
Henry David Thoreau (1817 - 1862)

In dem Film „Die Summe meiner einzelnen Teile“ geht es um jemanden, der mehr oder weniger schlagartig aus der gesellschaftlichen Normalität hinausgedrängt wird und sich plötzlich am Rande der Gesellschaft wiederfindet. Der junge Mathematiklehrer Martin verliert durch eine psychische Erkrankung seine Arbeit, seine Beziehung und schließlich auch seine Wohnung. Obdachlos campiert er in leerstehenden Häusern, wo er den Jungen Viktor trifft, der vor kurzem seine Mutter verloren hat und der ebenfalls kein Zuhause mehr hat. Die beiden freunden sich an und wohnen schließlich gemeinsam im Wald in einer selbstgebauten Hütte.

Den Anfang des Films empfand ich als extrem bedrückend. Jemand wird in relativ stabilem Zustand aus stationärer psychiatrischer Behandlung entlassen und hat den Wunsch, seine Arbeit wieder aufzunehmen, was jedoch daran scheitert, dass der Chef ihn nicht mehr weiterbeschäftigen will. Als die Freundin die Beziehung beendet, verfällt Martin in Apathie und kümmert sich um nichts mehr, so dass die Miete nicht mehr bezahlt wird und er die Wohnungskündigung erhält. Dies endet damit, dass morgens der Gerichtsvollzieher die Tür aufbrechen lässt und gewaltsam in seine Wohnung eindringt um ihm zu eröffnen, dass diese jetzt geräumt wird. Man kann sich eigentlich kaum etwas Schrecklicheres vorstellen, als morgens in aller Frühe von einem Rollkommando überfallen zu werden und mit einem Schlag sein Zuhause und alles, was dazugehört zu verlieren.

Was dann geschieht, hat bei mir eine merkwürdige Mischung von Gefühlen ausgelöst, denn zum einen verursacht das durch den Arbeits- und Wohnungsverlust entstandene Elend Entsetzen und Mitleid und zum anderen wird genau hinter diesem Elend eine sonderbare Form der Freiheit und Autonomie deutlich. Freiheit, die nur dann entstehen kann, wenn es nichts mehr zu verlieren gibt und man keinen Zwängen mehr unterliegt. Ein bisschen erinnert mich die Situation auch an unsere Hamburger Bauwagengruppe, die aus Menschen besteht, die auf fließend Wasser und Strom verzichten und in Bauwagen campieren. Das Leben in einem Bauwagencamp bietet diesen Menschen ganz offensichtlich Vorteile, die Leben auf wenigen Quadratmetern mit Plumsklo und Ofenheizung aufwiegen.

Es ist ein äußerst heikles Thema, wenn Armut in irgendeiner Form idealisiert wird und Menschen, die im Überfluss leben, sollten damit mehr als vorsichtig sein. Zu leicht bagatellisiert man die vielen Probleme, die mit Armut und dem Leben am Rande der Gesellschaft verbunden sind. Dennoch kann man nicht die Augen davor verschließen, dass Armut den Menschen zurückwirft auf sein eigentliches Sein. Es geht nicht mehr um ein gepflegtes Erscheinungsbild, nicht mehr um die einwandfreie Rasur und das akkurat gebügelte Hemd, sondern es geht ums reine Überleben. Um die Existenz.

Der Film wirft die Frage auf, ob Armut grundsätzlich mit entwürdigenden Lebensbedingungen verbunden sein muss, oder ob nicht gerade die radikale Abkehr von allen gesellschaftlichen Abhängigkeiten eine Form der Würde beinhalten kann, die gerade darin begründet ist, dass man einen Zustand der Autonomie erreicht hat, der innerhalb der gesellschaftlichen Zwänge gar nicht mehr möglich ist. Wobei man einräumen muss, dass es kaum noch Nischen gibt, die frei von Zwängen sind. Im Film wird daher auch irgendwann die selbstgebaute Hütte abgerissen und Martin erneut in die Psychiatrie eingewiesen. Und auch das von mir erwähnte Bauwagencamp muss ständig eine Zwangsräumung fürchten.

Sehr berührend ist die Freundschaft zwischen Martin und Viktor. Zwei verlorene Seelen, die beide sehr viel Leid erlebt haben, geben sich gegenseitig Halt. Viktor spricht kein Deutsch, so dass Sprache als Kommunikationsmittel ausgeschlossen ist. Trotzdem tut dies der tiefen Freundschaft keinen Abbruch, denn es sind nicht Worte, über die Verbindung hergestellt wird, sondern die gegenseitige Fürsorge ist das Ausschlaggebende. Fürsorge ist übrigens ein veraltetes und mittlerweile verachtetes Wort, wie mir gerade einfällt und trotzdem möchte ich kein anderes verwenden, denn es ist eben genau das Füreinander-Sorge-Tragen, was das Besondere der Beziehung der beiden darstellt.

Als ich diesen beeindruckenden Film nachklingen ließ, fiele mir der Ausspruch Thoreaus ein: „Ich ging in die Wälder, denn ich wollte wohlüberlegt leben; intensiv leben wollte ich. Das Mark des Lebens in mich aufsaugen, um alles auszurotten was nicht Leben war. Damit ich nicht in der Todesstunde inne würde, daß ich gar nicht gelebt hatte.“ Als ich dann ein wenig mehr von Thoreau las, fand ich die eingangs zitierten Worte, die für mich beeindruckend beschreiben, dass Armut auch noch eine andere Seite haben kann, als die des Elends. Auch wenn es ein großer Unterschied ist, ob Armut freiwillig gewählt wurde, wie es bei Thoreau der Fall war, oder ob Armut unfreiwillig durch einen Schicksalsschlag verursacht wird, wie hier im Film dargestellt – Armut kann ein bewusstes und würdevolles Nein zu allem Überflüssigen und zu entfremdeten Wertmaßstäben darstellen.




Ich kann Thoreaus Sehnsucht verstehen -- Dinge beschweren; wenig brauchen heißt, weniger abhängig zu sein. (Aber das ist natürlich die Sicht einer reichen Person.)
Für den Filmhinweis herzlichen Dank.

Diese Sehnsucht gab es wohl schon immer – man denke nur an Diogenes – und sie stellte immer den Gegenpol zur Sehnsucht nach Bequemlichkeit und Wohlstand dar. Aber wie Sie richtig bemerken – dies ist die Sicht von reichen Personen und man kann nicht vorsichtig genug sein, wenn wohlhabende Menschen arme Menschen dazu auffordern: „Nun fühl doch endlich mal wohl in deiner Armut.“ Der entscheidende Schritt ist die Freiwilligkeit des Entschlusses zur Armut. Im Film war die nicht gegeben, aber dennoch wurde von dem Protagonisten die Armut letztendlich nicht nur als etwas Zerstörerisches empfunden, denn in ihm keimte die Idee eines Lebens im Ausland jenseits von sozialstaatlicher Unterstützung auf. Ich will aber nicht zuviel verraten, denn ich fasse Ihren Dank für den Filmhinweis so auf, dass Sie sich den Film vielleicht auch ansehen werden.

Ein toller Filmtipp und eine schön differenzierte Auseinandersetzung
Vielen Dank für den differenzierten Filmtipp - daraufhin habe ich mir den Film, den ich sonst wahrscheinlich nicht wahrgenommen hätte, gleich an einem der nächsten Tage angesehen. Er ist wirklich berührend und hinterlässt neben Traurigkeit auch Raum für eigenes Hinterfragen - und liebevolleres Wahrnehmen von Menschen am Rand unserer Gesellschaft. Ich finde, der Film lässt einigen Freiraum der Interpretation, z.B. was die Wirklichkeit des Jungen Viktor angeht oder auch, ob ihnen tatsächlich die Reise nach Portugal gelingt. Aber die Vorstellung, dass es den beiden, bzw. den dreien mit der jungen Zahnarzthelferin, dort endlich gut gehen darf, ist wunderschön und zaubert ein Lächeln, auch wenn der Film schon zu Ende ist.

Vielen Dank. Ich werde Ihren Blog weiter verfolgen, Ihr Titel und die interessanten Betrachtungen haben mich angesprochen.

Miriam Rosendahl, Nachrichten vom Rand der Gesellschaft.

Sehr mutig
Gerade habe ich mir einiges aus Ihrem Blog gelesen und bin beeindruckt darüber, wie offen Sie über Ihr turbolentes Leben schreiben. Sie haben nicht aufgegeben und das ist das Wichtigste.

Ich sinniere gerade darüber nach, ob es wirklich der „Rand der Gesellschaft“ ist, an dem Sie leben. Sollte dies tatsächlich so sein, so handelt es sich um einen wirklich sehr dicken Rand, denn auch wenn die Glamourwelt der Wohlhabenden in den Medien präsenter ist als die Welt der Armen, so stellen diejenigen, die mit ihrem Lebensunterhalt gerade so über die Runden kommen, mittlerweile mehr als ein Viertel der Gesellschaft dar (wurde gerade in der Diskussionsrunde „Hart aber Fair“ zum Thema „Im Land von Gier und Neid“ ausgesagt).

Für mich ist es in meinem Beruf als Sozialpädagogin unvermeidbar, mich mit Armut zu beschäftigen. Insbesondere, wenn es um Familien mit Kindern geht oder um Menschen, die ihr Leben lang hart geschuftet haben, geht es mir immer mehr an die Nieren. Was für mich in den letzten Jahren so schockierend war, ist der Umstand, dass es selbst im sozialen Bereich Menschen gibt, denen die Notlage, in der sich die ihnen anvertrauten Menschen befinden, schnurz-piepe-egal ist. Dass sich Banker oder Versicherungskaufleute einen Dreck um Armut scheren, würde ich gar nicht anders erwarten, aber dass dies auch bei denjenigen er Fall ist, die sich für die Arbeit mit am Rande des Existenzminimums lebenden Menschen entschieden haben, entsetzt mich zutiefst.

Wie gesagt, ich bewundere Ihren Mut, Ihre Situation so offen und mit ihrem vollen Namen zu beschreiben. Ich hoffe, dass Sie dadurch keine Nachteile erleiden, so wie es bei mir der Fall war. Ich wurde mit übelsten Beschimpfungen – zum Teil in Fäkalsprache – konfrontiert und durfte mir dann noch im beruflichen Umfeld anhören, dass ich daran selbst Schuld sei. Das war alles andere als schön, wenngleich dies für mich auch eine Erfahrung darstellte, aus der ich gelernt habe.

Ich werde sicher noch des Öfteren in Ihren Blog hineinschauen. Und ich würde auch gern noch öfter über die Vielschichtigkeit des Themas Armut mit Ihnen diskutieren.