Mittwoch, 14. November 2012
Sich verzaubern lassen
Obwohl Roncalli ein Zirkus ist, spricht man bei dessen Besuch nicht von einem Zirkusbesuch, sondern man sagt, dass man „zu Roncalli“ geht. Und ganz bestimmt gibt es Unterschiede. Allerdings sind die höchstwahrscheinlich kleiner als man denkt. Wie dem auch sei, ich war am vergangenen Wochenende seit vielen Jahren mal wieder bei Roncalli. Und habe diesen Abend sehr genossen.

Obwohl ich Clowns oftmals nicht allzu lustig finde, kam irgendwann ein Moment, wo ich Tränen lachen musste. Und bei den Trapeznummern stocke mir der Atem. Man hat diese Darbietungen schon tausendmal im Fernsehen angeschaut, aber es ist eben etwas völlig anderes, wenn man diese halsbrecherischen Nummern aus nächster Nähe ansieht. Ich kam dabei mehr als einmal ins Staunen, was man seinem Körper alles abverlangen kann. Im Vergleich kommt man selbst sich dabei unglaublich steif und schlapp vor. Manchmal traut man seinen Augen nicht, wie zum Beispiel dann, wenn eine zierliche Frau in der Überkopfposition eine andere Frau nur mit den Halsmuskeln in die Höhe zieht.

Dann gab es noch vier sehr junge Artisten, die sich gegenseitig so heftig in der Luft herumwirbelten, dass man den Einzelnen gar nicht mehr richtig erkennen konnte. Was mir aber dabei besonders auffiel, war der Gesichtsausdruck der Artisten, der während der Darstellung hochkonzentriert und äußerst angestrengt wirkte und dann bei einsetzendem tobendem Applaus in strahlende Freude und Erleichterung wechselte.

Der Abend war ein Farbrausch und ein Schauspiel der Ästhetik. Während die ersten zwei Drittel der Vorführungen ungewohnt modern und lebhaft waren, kam dann im letzten Drittel auch die für Roncalli typische Poesie zum Vorschein. Ich bin alles andere als ein Opernfan, aber als eine wunderschöne Ballerina zu klassischer Musik im blassblauem Licht tanzte und dabei nach und nach von ebenso schönen Tänzerinnen in schillernden Phantasiekostümen umkreist wurde, verstand ich plötzlich zum ersten Mal, wieso manche Menschen in der Oper weinen.

Als sich die Vorstellung dem Ende zuneigte, hatte man das Gefühl, ein wenig verzaubert worden zu sein.



Samstag, 10. November 2012
Damals nach der DDR – Verlust einer Utopie
Ich habe noch nicht alle sechs Folgen der Dokumentation „Damals nach der DDR“ gesehen, sondern nur die ersten vier. Während die meisten großen geschichtlichen Ereignisse sich vor meiner Zeit abgespielt haben, habe ich den Mauerfall und den Zusammenbruch der DDR ganz bewusst erlebt. Am 9. November arbeitete ich als Kellnerin in einer Freizeitsauna. Kurz nach dem Mauerfall kamen dann auch schon die ersten DDR-Bürger, die von ihren Westverwandten eingeladen worden waren. Es waren Begegnungen, die von einer merkwürdigen Mischung aus Neugier und Scheu geprägt waren.

Ich empfand es spannend und bewegend, was sich in dieser Zeit tat. Als jemand, der für sein Leben gern reist, war es für mich immer ein Albtraum, hinter einer Mauer eingesperrt zu sein. Und genauso wichtig wie das Reisen ist für mich seit ich denken kann, das Recht auf freie Meinungsäußerung. Und so gab kein Land unter den vielen Ländern, die ich schon bereist habe, in dem ich mich so fremd wie in der DDR gefühlt habe. Als dann am 9. November im Fernsehen nonstop die Menschenmassen gezeigt wurden, die zum ersten Mal den Grenzübergang passierten, war dies etwas, was auch für mich etwas unbeschreiblich Befreiendes verkörperte.

Wenn man die mittlerweile dreiundzwanzig Jahre komprimiert in ein paar Stunden aus der Retrospektive ansieht, wirkt es sehr bedrückend, wie schnell sich die große Begeisterung in Ernüchterung gewandelt hat. Während Kohl kurz nach dem Mauerfall frenetisch bejubelt wurde, flogen kaum vier Jahre später Eier.

Was ich jetzt das erste Mal gesehen habe, waren die vielen Arbeitsorte, die kurze Zeit nach dem Mauerfall völlig verwaisten und schon bald verfielen. Ein Land, in dem jeder ein Recht auf Arbeit hat, ist binnen kürzester Zeit mit Massenarbeitslosigkeit konfrontiert. Noch heute habe einige Tränen in den Augen, wenn sie von dem plötzlichen Verlust ihres Arbeitsplatzes sprechen.

Ich hatte damals in einer grenzenlosen Naivität daran geglaubt, dass zwar die Mauer für immer und ewig abgerissen wird, aber die DDR trotzdem ein eigener Staat bleibt. Den Sozialismus mit der Freiheit verbinden, so hatte ich mir dies ganz arglos vorgestellt. Und manchmal frage ich mich, ob das wirklich nur naiv und blauäugig ist, oder ob es vielleicht doch eine Möglichkeit gewesen wäre.

Es hätte mit ziemlicher Sicherheit nicht geklappt. Der allseits präsenten Konsumwelt des Westens hätte die DDR nicht standgehalten. Andererseits liebten viele ihr Land und es wären nach dem Mauerfall vielleicht endlich einmal die wirklichen Sozialisten ans Ruder gekommen.

Manchmal frage ich mich immer noch, ob der Sozialismus eine Chance hätte, wenn man ihn nicht mit einer Diktatur verknüpft hätte. Wenn jeder frank und frei seine Gedanken hätte äußern dürfen und sich jederzeit an jeden Ort der Welt hätte begeben dürfen. Wenn das unsäglich dumpfe Schmähwort Konterrevolutionär mit einen heftigen Tritt in den marxistisch-leninistischen Hintern beantwortet worden wäre.

Wenn, wenn, wenn…..Nein, alles war wohl so oder so zum Scheitern verurteilt. Ein Traum, der nur so lange schön war, wie er noch geträumt und nicht in die Wirklichkeit umgesetzt wurde. Jetzt gibt es keine Träume mehr. Man muss sich wohl mit diesem elendigen menschenverheizenden Turbokapitalismus abfinden und das Beste draus machen. Wobei ich nicht weiß, was das Beste sein soll. Wenn mittlerweile selbst der soziale Bereich nicht mehr sozial, sondern gewinnorientiert ist, dann gibt es keine Nischen mehr für diejenigen, denen noch etwas anderes vorstrebt. Vielleicht sollte man Künstler werden? Aber das beruht nicht auf einer Entscheidung, sondern auf einer Berufung und die habe ich leider nicht. Bleibt noch das Reisen, das das kurzzeitige Begeben in Lebensräume ermöglicht, deren Weg in den mit Entfremdung verbundenen Fortschritt noch nicht so weit vorangeschritten ist wie bei uns. Aber das stellt immer nur eine kleine Auszeit dar.

Letztendlich muss man lernen, ohne Utopien zu leben. Schön ist das nicht. Und einfach auch nicht.



Freitag, 26. Oktober 2012
Sehnsucht nach Nacht, nach Blut, nach Barbarei
Vor ein paar Tagen habe ich mir endlich einmal die Verfilmung von „Herr der Fliegen“ angesehen. Die Geschichte der auf einer einsamen Insel gestrandeten Gruppe von Jungen, in der es schon nach kurzer Zeit zu tödlicher Rivalität kommt. Die Erzählung William Goldings hat bei ihrem Erscheinen hitzige Diskussionen ausgelöst. Ist der Mensch von Natur aus böse oder nicht? Eine Frage, die ebenso interessant wie auch müßig ist.

Ich kenne aus meinem Studium die Einstellung „Alles liegt am System“ zur Genüge. Eine Einstellung, die ich bis zu einem gewissen Grad auch teile. Dann nämlich, wenn es darum geht, für humanere und gerechtere Bedingungen zu kämpfen. Sich immer wieder von neuem zu fragen, ob es Möglichkeiten gibt, mit denen man Missstände bekämpfen kann. Und sich immer wieder die Mühe machen, nach den Ursachen für die jeweiligen Missstände zu fragen und danach, welche Strukturen man schaffen muss, um Gewalt und Ausbeutung entgegenzuwirken.

Aber dennoch ist es Augenwischerei, davon auszugehen, dass es ein abstraktes System ist, dem man für alles Übel dieser Welt die Schuld geben kann. Das wäre nur dann sinnvoll, wenn es irgendwo auf dieser Welt ein System ohne Gewalt und Ausbeutung geben würde - was jedoch nicht der Fall ist.

Gewalt, Ausbeutung und Unterdrückung zieht sich wie ein roter Faden durch die Menschheitsgeschichte. Zu keiner Zeit und an keinem Ort war die Erde frei davon. Im alten China haben Herrscher beim leisesten Verdacht auf Widerstand die Menschen vierteilen lassen. In England hat man Menschen vor der Hinrichtung die Eingeweide herausgerissen. In den ägyptischen Pyramiden hat man hunderte von Sklaven lebendig als Grabbeilage eines Pharaos eingemauert. Bei den Prärieindianern gab es den Tod der zwei Bäume, bei dem ein Mensch bei lebendigem Leib auseinandergerissen wurde und die Mayas haben Menschen ebenfalls bei lebendigem Leibe das Herz herausgerissen um es den Göttern zu opfern.

Völlig unabhängig von Regime und Religion wurde gemordet, zerstört und unterworfen. Und immer wieder gab es Bewegungen, die dies ändern wollten und daran scheiterten, dass sie letztendlich genau so wurden wie ihre Kontrahenten. Christen haben Nächstenliebe propagiert und gleichzeitig Hexenverbrennungen und blutige Kreuzzüge begangen. Kommunisten haben Gerechtigkeit propagiert und gleichzeitig grausame Massaker angeordnet und hunderttausende von Menschen in Zwangslagern umkommen lassen.

Unsere Menschheitsgeschichte ist die Geschichte von Völkerschlachten, Genoziden und Verknechtung. Das Gute und Humane gab es immer als Idee. Das war’s dann aber auch schon, denn als Realität hatte es kaum je eine wirkliche Chance. Vielleicht ist es das, was Albert Camus mit seinem Mythos von Sisyphos meinte.

Aber nochmals zurück zum Film. Was so beeindruckt, ist nicht die Tatsache, dass aus den vormals zivilisierten Jungen in erstaunlich kurzer Zeit wilde Kämpfer werden. Viel mehr verblüfft es, welch unbändige Freude sie dabei zu empfinden scheinen. Wild und ursprünglich zu sein macht anscheinend viel mehr Spaß, als zivilisiert und wohl temperiert. Sich auszuleben ist erheblich lustvoller, als sich einzuschränken, weil Rücksichtsnahe und Nachdenklichkeit sehr anstrengend und mühevoll sein kann.

Humanismus ist ein hartes Stück Arbeit. Und das liegt mitnichten allein an irgendwelchen Systemen. Sondern es liegt an den Menschen, die diese Systeme entwickeln. Die Wurzel des Übels liegt im Menschen selbst. Und allein dort liegt auch die Chance auf Veränderung. Somit ist diese Ansicht auch nicht ausschließlich pessimistisch, denn die Möglichkeit einer Veränderung wird eingeräumt.

Schönheit der Träume, holde Spielerei,
So hingehaucht, so reinlich abgestimmt,
Tief unter deiner heiteren Fläche glimmt
Sehnsucht nach Nacht, nach Blut, nach Barbarei.

(„Dem wir geopfert Sein und Gegenwart“ von Hermann Hesse, 1877-1962)