Sehnsucht nach Nacht, nach Blut, nach Barbarei
Vor ein paar Tagen habe ich mir endlich einmal die Verfilmung von „Herr der Fliegen“ angesehen. Die Geschichte der auf einer einsamen Insel gestrandeten Gruppe von Jungen, in der es schon nach kurzer Zeit zu tödlicher Rivalität kommt. Die Erzählung William Goldings hat bei ihrem Erscheinen hitzige Diskussionen ausgelöst. Ist der Mensch von Natur aus böse oder nicht? Eine Frage, die ebenso interessant wie auch müßig ist.

Ich kenne aus meinem Studium die Einstellung „Alles liegt am System“ zur Genüge. Eine Einstellung, die ich bis zu einem gewissen Grad auch teile. Dann nämlich, wenn es darum geht, für humanere und gerechtere Bedingungen zu kämpfen. Sich immer wieder von neuem zu fragen, ob es Möglichkeiten gibt, mit denen man Missstände bekämpfen kann. Und sich immer wieder die Mühe machen, nach den Ursachen für die jeweiligen Missstände zu fragen und danach, welche Strukturen man schaffen muss, um Gewalt und Ausbeutung entgegenzuwirken.

Aber dennoch ist es Augenwischerei, davon auszugehen, dass es ein abstraktes System ist, dem man für alles Übel dieser Welt die Schuld geben kann. Das wäre nur dann sinnvoll, wenn es irgendwo auf dieser Welt ein System ohne Gewalt und Ausbeutung geben würde - was jedoch nicht der Fall ist.

Gewalt, Ausbeutung und Unterdrückung zieht sich wie ein roter Faden durch die Menschheitsgeschichte. Zu keiner Zeit und an keinem Ort war die Erde frei davon. Im alten China haben Herrscher beim leisesten Verdacht auf Widerstand die Menschen vierteilen lassen. In England hat man Menschen vor der Hinrichtung die Eingeweide herausgerissen. In den ägyptischen Pyramiden hat man hunderte von Sklaven lebendig als Grabbeilage eines Pharaos eingemauert. Bei den Prärieindianern gab es den Tod der zwei Bäume, bei dem ein Mensch bei lebendigem Leib auseinandergerissen wurde und die Mayas haben Menschen ebenfalls bei lebendigem Leibe das Herz herausgerissen um es den Göttern zu opfern.

Völlig unabhängig von Regime und Religion wurde gemordet, zerstört und unterworfen. Und immer wieder gab es Bewegungen, die dies ändern wollten und daran scheiterten, dass sie letztendlich genau so wurden wie ihre Kontrahenten. Christen haben Nächstenliebe propagiert und gleichzeitig Hexenverbrennungen und blutige Kreuzzüge begangen. Kommunisten haben Gerechtigkeit propagiert und gleichzeitig grausame Massaker angeordnet und hunderttausende von Menschen in Zwangslagern umkommen lassen.

Unsere Menschheitsgeschichte ist die Geschichte von Völkerschlachten, Genoziden und Verknechtung. Das Gute und Humane gab es immer als Idee. Das war’s dann aber auch schon, denn als Realität hatte es kaum je eine wirkliche Chance. Vielleicht ist es das, was Albert Camus mit seinem Mythos von Sisyphos meinte.

Aber nochmals zurück zum Film. Was so beeindruckt, ist nicht die Tatsache, dass aus den vormals zivilisierten Jungen in erstaunlich kurzer Zeit wilde Kämpfer werden. Viel mehr verblüfft es, welch unbändige Freude sie dabei zu empfinden scheinen. Wild und ursprünglich zu sein macht anscheinend viel mehr Spaß, als zivilisiert und wohl temperiert. Sich auszuleben ist erheblich lustvoller, als sich einzuschränken, weil Rücksichtsnahe und Nachdenklichkeit sehr anstrengend und mühevoll sein kann.

Humanismus ist ein hartes Stück Arbeit. Und das liegt mitnichten allein an irgendwelchen Systemen. Sondern es liegt an den Menschen, die diese Systeme entwickeln. Die Wurzel des Übels liegt im Menschen selbst. Und allein dort liegt auch die Chance auf Veränderung. Somit ist diese Ansicht auch nicht ausschließlich pessimistisch, denn die Möglichkeit einer Veränderung wird eingeräumt.

Schönheit der Träume, holde Spielerei,
So hingehaucht, so reinlich abgestimmt,
Tief unter deiner heiteren Fläche glimmt
Sehnsucht nach Nacht, nach Blut, nach Barbarei.

(„Dem wir geopfert Sein und Gegenwart“ von Hermann Hesse, 1877-1962)




Als ich ein Teenager war, habe ich den Film gesehen und anschließend das Buch gelesen - viele, viele Male. Mein Exemplar ist ganz zerlesen. Es hat mich tage- und nächtelang beschäftigt.

Meine Lieblingsfigur damals war die des Simon, der in diesem Gefecht um Macht und Zivilisiertheit außerhalb steht und als einziger (abgesehen von Piggy vielleicht) die Übersicht behält über das, was geschieht. Wir haben natürlich das Werk schließlich auch im Englisch-Unterricht zu Tode analysiert mit all seinen Symbolismen, aber ich finde, an der Erkenntnis ist schon etwas dran, dass das "Tier" im Grunde der Mensch selbst ist, dass in jedem Menschen ein dunkler Kern steckt, den es zu entdecken und anzuerkennen gilt. Dass Simon schließlich für diese Erkenntnis sein Leben lassen muss, finde ich bezeichnend.

Ich lese es immer wieder mit Faszination und finde, Golding hat die Seiten des Menschseins in den vielfältigen Charakteren der Jungen so spannend und treffend auf den Punkt gebracht. Im Grunde ist in jedem von uns ein Teil hilflos und doch tapfer wie Piggy, ein Anführertyp wie Ralph, ein Herden-Mensch wie die Zwillinge, ein Aufrührer und Sadist wie Jack und ein weiser Klarsichtiger wie Simon. Eigentlich wissen wir nicht, welche dieser Facetten die Oberhand gewinnen würde, wenn wir jenseits aller Regeln leben würden. Ich finde das spannend und beängstigend zugleich.

Ich glaube allerdings, dass die wirklich einzige Hoffnung darin besteht, die Schatten und dunklen Seiten als Teil unseres Selbst anzunehmen. Wenn wir sie leugnen, brechen sie irgendwann aus uns heraus.

Ich habe das Buch noch nicht gelesen und nur den Film gesehen. Auch mich hat das Thema des Gewalttätigen, das im Menschen schlummert, sehr aufgewühlt. Mir fallen dabei Unmengen von Diskussionen ein. Wie zum Beispiel die Diskussion, die wir in der zwölften Klasse mit unserem Soziologielehrer hatten, der sich vehement dagegen aussprach, dass es so etwas wie einen Todestrieb geben würde. Ich glaube zwar auch nicht unbedingt an einen Trieb zur Gewalt, dem man zwanghaft nachgehen muss, aber ich glaube an eine grundsätzlich vorhandene Bereitschaft zur Gewalt. Die war in unserer menschlichen Evolution überlebenswichtig für den Einzelnen.

Nichtsdestotrotz kenne ich auch Menschen, die in der gleichen Situation wie die der Jungen auf der Insel friedlich bleiben würden. Es muss also auch noch andere Gründe geben, die in der Person des Einzelnen liegen. Bei Kindern, die in ihrem Umfeld ständig ihre Vitalität unterdrücken müssen, löst diese Unterdrückung zwangsläufig Aggressionen aus, die genau dann herausbrechen, wenn keine Erwachsenen da sind um Kontrolle auszuüben. Aber auch das ist als alleinige Erklärung zu einfach, denn es gibt auch Kinder, denen von Seiten der Erwachsenen keine Einschränkungen in Hinsicht auf ihre Vitalität und Wildheit gemacht werden, denen aber andere existentielle Bedürfnisse nicht erfüllt werden, wie zum Beispiel das Bedürfnis nach Geborgenheit und Anerkennung. Manche verarbeiten dies nach innen gehend in Depressionen oder Essstörungen und manche gehen damit nach außen und werden gewalttätig.

„Herr der Fliegen“ handelt ja von einer englischen Schülergruppe. Bei Beginn des Films steckten alle Jungen wie aus dem Ei gepellt in Uniformen wie kleine Soldaten. Wenn ich mir vor Augen führe, wie rigoros in England noch bis in die 70er Jahre öffentlich zelebrierte Prügelstrafen durchgeführt wurden, dann kann ich nachempfinden, wieviel sich da entladen kann, wenn plötzlich der Zustand der totalen Freiheit anbricht.

„Die Schatten und dunklen Seiten als Teil unseres Selbst annehmen“ wie Du schreibst, ist in der Tat der Weg zur Gesundung, die den Teufelskreis durchbrechen kann. Wobei hinter den dunklen Seiten meist eben etwas ganz anderes steckt als Gewalt. Wenn man sich erstmal dazu entschlossen hat, die dunklen Seiten aus der Nähe anzusehen, kommt man nicht umhin, die verdrängen Verletzungen und Schmerzen nochmals zu durchleben. Und selbst dann bleiben Wunden trotzdem Wunden.

Und selbst dann bleiben Wunden trotzdem Wunden. - das ist richtig. Vorher kann man sie aber eben nicht als Wunden anerkennen, sondern spürt sie nur als blinden Fleck, der einem Angst einjagt und der kontrolliert werden muss. Da wird man rigoros und hart, bisweilen (je nach Ausmaß des Schmerzes) auch aggressiv. Erst wenn man die Wunde beweint, weil man sie als solche begreift, können alle darum herum konstruierten Manöver und Verhaltensweisen langsam fallen.

Menschen, die es gelernt haben, mit sich und ihren Gefühlen in Kontakt zu bleiben, werden glaube ich auch auf der Insel nicht zu Monstern. Manche bleiben integer, auch wenn es ihr Leben kosten sollte. Analog kann man auch das Verhalten von Menschen im Dritten Reich oder anderen Diktaturen betrachten. Die Möglichkeit zu geplanter wie besinnungsloser Gewalt nimmt nur wahr, wer die Notwendigkeit dazu in sich trägt. Ich glaube, jeder tut das ein wenig, aber es gibt eben Menschen, die mit diesem Schatten anders umgehen und ihn nicht ausagieren müssen.