Zwei äußerst verschiedene Formen des Idealismus
Manche Begebenheiten liegen schon lange zurück und trotzdem kann die erneue Konfrontation zutiefst schockieren. So erging es mir, als ich mir vor einigen Tagen eine – allerdings relativ neue – Dokumentation über die
Operation Entebbe ansah. In der Doku wurde die Befreiungsaktion einer Flugzeugentführung geschildert. Im Jahr 1976 wurde von Mitgliedern der Revolutionären Zellen und der Volksfront zur Befreiung Palästinas ein Air-France-Passagierflugzeug entführt um damit inhaftierte Gefangene, unter anderem der RAF und der Bewegung 2. Juni, freizupressen. Ich hatte die Entführung damals nur am Rande mitbekommen.
Jetzt habe ich zum ersten Mal davon erfahren, dass die Entführer eine Separation unter den Geiseln vorgenommen haben, indem jüdische Passagiere von den nichtjüdischen getrennt wurden. Die nichtjüdischen wollte man dann freilassen. In der Doku schilderte einer der damaligen Passagiere ein Gespräch, das er mitbekommen hatte. Ein anderer Passagier zeigte dem Geiselnehmer seine tätowierte KZ-Nummer und sagte ihm, dass er bisher seinen Kindern immer erklärt hätte, dass man auch nach dem Holocaust nicht alle Deutschen gleich beurteilen dürfe. Jetzt könne er dies seinen Kindern nicht mehr sagen. Daraufhin gab der Flugzeugentführer Wilfried Böse die denkwürdige Antwort, dass er kein Nazi sei, sondern ein Idealist.
Menschen, die den Massenmord von Auschwitz überlebt haben, erfahren Jahre später ebenfalls durch Deutsche die gleiche menschenverachtende Behandlung ein zweites Mal. Diesmal allerdings nicht durch Nazis, sondern genau von denjenigen, die vorgeben, die einzigen wirklichen Kritiker des Naziregimes zu sein. Und ich frage mich, wieso ich davon eigentlich damals nichts mitbekommen habe. Sicher, es gab damals ohne Internet, nur mit einem auf drei Sender beschränktem Fernsehprogramm und ohne die Möglichkeit einer Videoaufzeichnung nur einen Bruchteil der heutigen Möglichkeiten, sich auch im nachherein über aktuelle politische Ereignisse zu informieren. Aber trotzdem hätte es doch einen Aufschrei in der linken Szene geben müssen, der auch noch später irgendwo seine Spuren in den Medien hinterlassen haben müsste. Gab es aber nicht. Jedenfalls war es anscheinend niemandem aus der Szene so wichtig, dass es nachhaltig thematisiert wurde.
Flugzeugentführungen sind immer menschenverachtend und als politische Handlung grundsätzlich immer indiskutabel. Aber hier geht es nicht nur darum, dass ein völlig indiskutables und verabscheuenswürdiges Mittel angewandt wurde. Hier geht es darum, dass es Menschen gibt, bei denen Auschwitz nicht das geringste Nachdenken hervorgerufen hat. Noch nicht einmal einen Hauch. Und das ruft bei mir Schrecken und Ekel hervor.
Ich habe mir übrigens noch am gleichen Abend ein Buch über den Nahostkonflikt bestellt, da ich leider zu dieser Thematik erhebliche Lücken habe. Momentan verschlinge ich das Buch „Streit um das heilige Land“, dessen Fülle an hochinteressanter Information mir das Thema hoffentlich besser zugänglich macht.
Edit:
Dass es auch bei den verabscheuenswürdigsten Greultaten Menschen gibt, die durch ihre menschliche Größe und ihre Selbstlosigkeit auffallen zeigt der Umstand, dass der Flugkapitän sich weigerte, die jüdischen Passagiere im Stich zu lassen und eine französische Nonne sich ebenfalls der Aufforderung zum Verlassen des Flugzeugs widersetzte.
Da haben wir dann in der Tat zwei sehr unterschiedliche Formen des Idealismus. Zum einen jemanden, der sich selbst als Idealisten bezeichnet, weil er Menschen aufgrund ihrer Zugehörigkeit zum Judentum in die Luft sprengen will. Zum anderen zwei Menschen, die – ohne sich als Idealisten zu bezeichnen – ihr Leben riskieren um andere zu retten und um ein Zeichen gegen menschenverachtende Brutalität zu setzen.
Und einmal mehr bestätigt sich für mich, dass Menschen, die sich selbst positive Attribute verleihen, zum Fürchten sind.
behrens am 10. Juni 12
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Ich mag Lagerfeuer
Seit einigen Jahren hat es sich in unserem Freundeskreis eingebürgert, dass wir Pfingsten auf einen wunderschönen Campingplatz direkt an der Elbe verbringen. Der Platz ist ein Geheimtipp, nicht zuletzt, weil er Dünencharakter hat und man durch die vielen Bäume und Büsche gar nicht den Eindruck eines Campingplatzes hat. Es gibt eine mongolische Jurte, ein Zirkuszelt, ein Indianertipi und es gibt so manche Camper, die in ausrangierten Bau- oder Zirkuswagen wohnen. Außerdem findet man noch Uraltmodelle von Wohnwagen, die aus der Anfangszeit des Campings stammen. Auf dem Platz sind Lagefeuer erlaubt und vom Stand aus kann man die riesigen Schiffe beobachten, die in den Hamburger Hafen ein- und auslaufen. Sehr große Schiffe kann man sogar auch schon vom Platz aus sehen und es wirkt sehr beeindruckend, wenn man plötzlich Container oder die oberen Decks eines Kreuzfahrtschiffs über den Baumwipfeln dahingleiten sieht.
Während es an diesem Wochenende eher ungemütlich ist und man schon fast versucht ist, die Heizung wieder anzustellen, wurden wir am vergangenen Wochenende von der Sonne verwöhnt. Es war also ideal. Ich habe mich außerdem sehr gefreut, dass ein früherer Kollege, zu dem ich erst vor kurzem nach über 20 Jahren wieder Kontakt aufgenommen hatte, auch spontan zu unserem Treffen gekommen ist.
Was ich an unseren Campingtreffen immer besonders genieße, ist das Lagerfeuer, vor dem man bis spät in die Nacht sitzt. Und wie immer gab es dabei natürlich auch Gespräche über Gott und die Welt (und nicht über Gewinnmaximierung und PR). Irgendwie sind wir dann bei dem Recht auf Widerstand gelandet, das auch Gewalt mit einbezieht.
Während ich dieses Recht nur in einer Diktatur für gegeben halte, vertraten einige die Ansicht, dass es dieses Recht auch gab im Nachkriegsdeutschland, in dem sich die alten Nazis sofort wieder in der Politik breitmachten. Ich bin felsenfest davon überzeugt, dass der letztendlich in Gewalt mündende Widerstand der falsche Weg war. Als Beispiel für einen anderen Weg nannte ich Beate Klarsfeld, die Naziverbrecher verfolgte und auch immer noch verfolgt und diese ohne Selbstjustiz der Rechtsprechung zuführte. Sicher, die Aktion, bei der sie 1968 den damaligen Bundeskanzler Kiesinger ohrfeigte, ist strenggenommen natürlich auch eine Gewaltausübung, aber der körperliche Schaden, den eine Ohrfeige auslöst, hält sich in Grenzen. Das worum es ging, war eine moralische Ohrfeige für jemanden, der das menschenverachtende Regime von Anfang an mitgetragen hatte und der ohne irgendein Wort des Bedauerns übergangslos wieder in politische Positionen vordrang.
Aber auch jenseits der moralischen Frage nach der Berechtigung von Gewalt sollte man sich vor Augen führen, dass die Bevölkerung – um die es ja angeblich geht – meist verständnislos und ablehnend auf Gewaltaktionen reagiert.
Allerdings ist die Frage der Existenzberechtigung von Widerstand, der auch Gewalt rechtfertigt, ist so alt wie die Menschheit und wird daher auch an einem Lagerfeuer nicht gelöst werden. Aber es beruhigt es mich schon, dass es überhaupt Menschen gibt, mit denen man ohne in Streit zu geraten und ohne zu polemisieren, ausgiebig über so ein wichtiges Thema sprechen kann. Das ist doch selbstverständlich, wird jetzt mancher sagen. Nein, das ist es eben nicht! Ich weiß es mittlerweile sehr zu schätzen, wenn Menschen sich nicht nur über Geldanlage, Möbelkauf und schulische Leistungen der Kinder unterhalten. Und deswegen habe ich die zwei Abende am Lagerfeuer sehr genossen – trotz unterschiedlicher Standpunkte über einen Punkt voll und ganz einig zu sein: dass das Nachdenken und der gemeinsame Austausch wichtig ist.
Familienfeste und das Gebot des Schweigens
Obwohl es schon einige Jahre zurückliegt, dass ich diesen Film gesehen habe, fallen mir immer wieder Szenen daraus ein. „Was sie nie erzählte“ ist die Geschichte einer zarten Jugendliebe und eines sexuellen Missbrauchs. Nach zwanzig Jahren entdeckt der inzwischen erwachsene Wander seine Jugendliebe Zelda in einer Talkshow wieder. Dabei spielt sich vor seinem geistigen Auge die Zeit zwischen dem ersten Kennenlernen bis zum plötzlichen Verschwinden Zeldas ab. Der 14jährige Wander und die sonderbare Zelda freunden sich an und nach kurzer Zeit verliebt sich Wander in Zelda. Der Kontakt bricht aber abrupt ab, als Zeldas Familie plötzlich den Ort verlässt. Jetzt verfolgt der überraschte Wander gebannt die Talkshow, in der Zelda von ihrem Vater erzählt, der nach einiger Zeit auch dazukommt. Und dann kommt das schreckliche Geheimnis zutage, dass Zelda damals vor ihm verborgen hat: ihr Vater hat sie jahrelang sexuell missbraucht. Der Film endet damit, dass Wander, der als Schiffsmaschinist arbeitet, seine Sachen zusammenpackt und eilig das Schiff verlässt.
Was für mich den Film so beeindruckend macht, sind zum einen die phantastischen schauspielerischen Leistungen der beiden jugendlichen Schauspieler. Die ruppige Zelda, mit der irgendetwas nicht zu stimmen scheint und der schüchterne Wander, der sich davon nicht abschrecken lässt und beharrlich um Zelda wirbt. In dem Film wird das ungeheuer Zarte deutlich, durch das die erste Liebe geprägt ist. Und neben dieser sehr beeindruckend gespielten Zartheit klafft der Abgrund dessen, was von einem Erwachsenen unter Liebe verstanden wird und das nichts anderes ist als ein abscheulicher Missbrauch.
Der Film hinterlässt dennoch nicht nur Wut, denn trotz der schrecklichen Geschehnisse, die offenbar wurden, hat man als Zuschauer das Gefühl von Hoffnung. Es ist offensichtlich – zumindest für mich – dass Wander die Chance nutzt und sich sofort auf die Suche nach seiner Jugendliebe macht. Aber es ist noch etwas anderes, das Genugtuung verschafft: Zelda bricht ihr Schweigen! Und dies mit ungeheurem Mut, denn sie erzählt ihre Geschichte nicht im Bekanntenkreis, sondern im Fernsehen. Damit macht sie den entscheidenden Schritt, etwas scheinbar Privates dorthin zu verlagern, wo es hingehört: in die Öffentlichkeit. Das ungeheure Leid, dass durch sexuellen Missbrauch verursacht wird, ist weder Privatangelegenheit noch Kavaliersdelikt.
Auch in Lars von Triers „Das Fest“ geht es um das Öffentlichmachen eines jahrelang streng geheim gehaltenen familiären sexuellen Missbrauchs. Ausgerechnet auf dem großangelegten Geburtstagsfest bricht der missbrauchte Sohn sein Schweigen. Allerdings wird dies von der illustren Geburtstagsgesellschaft nahezu ignoriert und es wird eher der Sohn als vermeintlicher Störenfried angefeindet, als der Vater. Man betrachtet nicht den Missbrauch als solchen als Schandtat, sondern vielmehr sein Öffentlichmachen.
Beide Filme machen schmerzhaft deutlich, dass die Zerstörung einer Kinderseele ihre letzte Vollendung durch das Gebot des Schweigens erhält. Ein Gebot, das zu allem Übel auch noch damit verbunden ist, gute Miene zum bösen Spiel zu machen. Das unausgesprochene Gebot, reibungslos zu funktionieren und fröhlich an Familienfesten teilzunehmen, zerstört vollends die gesunde Wahrnehmung, die ein Kind in Bezug auf sich und die Erwachsenen hat. Täter, schweigende Komplicen oder stumme Zuschauer – ihnen allen ist gemeinsam, dass die eigene Schuld hartnäckig ausgeblendet wird. Und alle benötigen das reibungslose Funktionieren eines Kindes als Absolution. Und deswegen wird nichts so schwer geahndet, wie das Öffentlichmachen des Verbrechens, das das mühsam aufrechterhaltene Gebilde einer heilen Welt ins Wanken bringt. Öffentlichmachen heißt nichts anderes, als die Absolution zu verweigern und die Täter, Komplicen und stumme Zuschauer ihres Seelenfriedens zu berauben. Dieser Seelenfrieden, der den Erwachsenen so viel wichtiger ist, als der Seelenfrieden der Kinder, die ihnen anvertraut sind und die doch so sehr ihres Schutzes bedürfen.
Dabei geht es bei dem Thema sexueller Missbrauch – sexuellem Missbrauch die Absolution zu verweigern und endlich das Schweigen zu brechen. Und das geschieht nie nur für das einzelne Kind, sondern für alle.