Familienfeste und das Gebot des Schweigens
Obwohl es schon einige Jahre zurückliegt, dass ich diesen Film gesehen habe, fallen mir immer wieder Szenen daraus ein. „Was sie nie erzählte“ ist die Geschichte einer zarten Jugendliebe und eines sexuellen Missbrauchs. Nach zwanzig Jahren entdeckt der inzwischen erwachsene Wander seine Jugendliebe Zelda in einer Talkshow wieder. Dabei spielt sich vor seinem geistigen Auge die Zeit zwischen dem ersten Kennenlernen bis zum plötzlichen Verschwinden Zeldas ab. Der 14jährige Wander und die sonderbare Zelda freunden sich an und nach kurzer Zeit verliebt sich Wander in Zelda. Der Kontakt bricht aber abrupt ab, als Zeldas Familie plötzlich den Ort verlässt. Jetzt verfolgt der überraschte Wander gebannt die Talkshow, in der Zelda von ihrem Vater erzählt, der nach einiger Zeit auch dazukommt. Und dann kommt das schreckliche Geheimnis zutage, dass Zelda damals vor ihm verborgen hat: ihr Vater hat sie jahrelang sexuell missbraucht. Der Film endet damit, dass Wander, der als Schiffsmaschinist arbeitet, seine Sachen zusammenpackt und eilig das Schiff verlässt.

Was für mich den Film so beeindruckend macht, sind zum einen die phantastischen schauspielerischen Leistungen der beiden jugendlichen Schauspieler. Die ruppige Zelda, mit der irgendetwas nicht zu stimmen scheint und der schüchterne Wander, der sich davon nicht abschrecken lässt und beharrlich um Zelda wirbt. In dem Film wird das ungeheuer Zarte deutlich, durch das die erste Liebe geprägt ist. Und neben dieser sehr beeindruckend gespielten Zartheit klafft der Abgrund dessen, was von einem Erwachsenen unter Liebe verstanden wird und das nichts anderes ist als ein abscheulicher Missbrauch.

Der Film hinterlässt dennoch nicht nur Wut, denn trotz der schrecklichen Geschehnisse, die offenbar wurden, hat man als Zuschauer das Gefühl von Hoffnung. Es ist offensichtlich – zumindest für mich – dass Wander die Chance nutzt und sich sofort auf die Suche nach seiner Jugendliebe macht. Aber es ist noch etwas anderes, das Genugtuung verschafft: Zelda bricht ihr Schweigen! Und dies mit ungeheurem Mut, denn sie erzählt ihre Geschichte nicht im Bekanntenkreis, sondern im Fernsehen. Damit macht sie den entscheidenden Schritt, etwas scheinbar Privates dorthin zu verlagern, wo es hingehört: in die Öffentlichkeit. Das ungeheure Leid, dass durch sexuellen Missbrauch verursacht wird, ist weder Privatangelegenheit noch Kavaliersdelikt.

Auch in Lars von Triers „Das Fest“ geht es um das Öffentlichmachen eines jahrelang streng geheim gehaltenen familiären sexuellen Missbrauchs. Ausgerechnet auf dem großangelegten Geburtstagsfest bricht der missbrauchte Sohn sein Schweigen. Allerdings wird dies von der illustren Geburtstagsgesellschaft nahezu ignoriert und es wird eher der Sohn als vermeintlicher Störenfried angefeindet, als der Vater. Man betrachtet nicht den Missbrauch als solchen als Schandtat, sondern vielmehr sein Öffentlichmachen.

Beide Filme machen schmerzhaft deutlich, dass die Zerstörung einer Kinderseele ihre letzte Vollendung durch das Gebot des Schweigens erhält. Ein Gebot, das zu allem Übel auch noch damit verbunden ist, gute Miene zum bösen Spiel zu machen. Das unausgesprochene Gebot, reibungslos zu funktionieren und fröhlich an Familienfesten teilzunehmen, zerstört vollends die gesunde Wahrnehmung, die ein Kind in Bezug auf sich und die Erwachsenen hat. Täter, schweigende Komplicen oder stumme Zuschauer – ihnen allen ist gemeinsam, dass die eigene Schuld hartnäckig ausgeblendet wird. Und alle benötigen das reibungslose Funktionieren eines Kindes als Absolution. Und deswegen wird nichts so schwer geahndet, wie das Öffentlichmachen des Verbrechens, das das mühsam aufrechterhaltene Gebilde einer heilen Welt ins Wanken bringt. Öffentlichmachen heißt nichts anderes, als die Absolution zu verweigern und die Täter, Komplicen und stumme Zuschauer ihres Seelenfriedens zu berauben. Dieser Seelenfrieden, der den Erwachsenen so viel wichtiger ist, als der Seelenfrieden der Kinder, die ihnen anvertraut sind und die doch so sehr ihres Schutzes bedürfen.

Dabei geht es bei dem Thema sexueller Missbrauch – sexuellem Missbrauch die Absolution zu verweigern und endlich das Schweigen zu brechen. Und das geschieht nie nur für das einzelne Kind, sondern für alle.




Es fällt mir ein wenig schwer, auf Dein Resümee zu diesen Filmen Bezug zu nehmen, aber irgendwie habe ich das Bedürfnis, es dennoch zu tun, weil es mich betrifft. Ich habe die Filme nicht gesehen und weiß auch nicht, ob ich dazu in der Lage wäre. Vielleicht tue ich es irgendwann.

Was den Protagonisten so öffentlichkeitswirksam (Talkshow, Familienfest) gelingt, nämlich das Übel zu benennen und aus dem eigenen Inneren herauszutragen, das ist nur den wenigsten Überlebenden möglich. Ich denke, dass besagte Filme da vielleicht ein wenig zu optimistisch sind und dass dieses "Brechen des Schweigens", wie Du es nennst, möglicherweise eher der Dramaturgie geschuldet ist, als dass es einen Bezug zur Lebensrealität der meisten missbrauchten Menschen hat.

Natürlich ist es wichtig, zu sprechen, und das Sprechen ermöglicht es auch anderen Menschen, zu erkennen, was ihnen angetan wird. Sprechen ist aber aus vielerlei Gründen ausgesprochen schwierig. Aus eigener Erfahrung kann ich die folgenden benennen:

Erstens ist jemand, der von kleinauf missbraucht wird, meistens nicht in der Lage, das zu erkennen. Der Umgang in der Herkunftsfamilie setzt erst die Norm, was bedeutet, dass es unmöglich ist für ein Kind zu begreifen, dass Papi seiner Dreijährigen eigentlich keine Zungenküsse geben sollte. Gerade das ist das Perfide am sexuellen Missbrauch in der Familie im Gegensatz zu dem durch Fremde, denn im letzteren Fall hat das Kind eine Norm, zu der es den Missbrauch in Bezug setzen kann. Im ersten ist der Missbrauch die Norm.

Zweitens besteht ein Abhängigkeitsverhältnis, dass es zusätzlich einem missbrauchten Kind unmöglich macht, auf das eigene Unbehagen zu hören. Das, was der Missbraucher oder die Missbraucherin tut, mag sich scheußlich anfühlen, aber das Kind liebt den Missbraucher trotzdem und ist auf dessen Liebe angewiesen. Das bedeutet, es muss nehmen, was es kriegen kann - um den Preis, das eigene Fühlen und damit sich selbst zu verleugnen und zu verlieren. Alles andere mündete aufgrund des kindlichen Angewiesenseins in die totale Zerstörung seiner Existenz. Jemand, der aber nicht mehr fühlt, kann darüber auch nicht sprechen. Oft braucht es daher auch gar kein Schweigegebot. Das ergibt sich von selbst.

Drittens bedeutet eine Öffentlichmachung des Erlittenen die Zerstörung des Familiengefüges, wie es bisher gelebt wurde. Das heißt, dass die Familie sich dem stellen muss, was der oder die Überlebende schildert (was sie meist nicht tut) oder dass das System dasjenige Mitglied ausspuckt oder reintegriert, das einen Störfaktor darstellt. Entweder ist also der Missbrauchte auch noch Nestbeschmutzer und muss genügend Mut aufbringen, mit diesem Status und allem, was er mit sich bringt zu leben. Oder ihm wird das Angebot gemacht, alles zu vergessen und zu begraben, was aber bedeutet, dass Selbstverleugnung und möglicherweise auch der Missbrauch weitergehen. Wer in einem System aufwächst, in dem er ständig mit seinem gesunden (!) Erleben und Fühlen in Frage gestellt wird, hat möglicherweise weder den Mut noch die Kraft, sich gegen gewohnte Mechanismen zu stellen, mit einer Außenseiterposition zurecht zu kommen und das Nicht-mehr-geliebt-werden und den Verlust von Stabilität durchzustehen. Das erfordert viel Rückhalt von anderer Seite für das Opfer. Auch hier kommt immer wieder zum Tragen, dass bislang die Familie die Deutungshoheit über die Gefühle des Missbrauchten hatte und sich dies auch von neuem anmaßen wird. "Da war doch nichts!" oder "Alles nur halb so schlimm!" oder "Er hat dich doch nur lieb!" - solche Sätze unterwandern das mühsam errungene Selbstgefühl und schüren Zweifel an der eigenen Wahrnehmung und sogar am eigenen Ich.

Viertens sind da die erdrückenden Gefühle von Scham und Schuld. Öffentliches Sprechen ist immer Entblößung, und hier geht es ohnehin schon um die Verletzung des Intimsten, der eigenen körperlichen und seelischen Integrität. Ich selbst schäme mich auch. Und die Gesellschaft gibt nur zu gern auch dem Opfer die Schuld, und das Opfer nimmt sie auf sich, weil das einen Rest von Kontrollierbarkeit verspricht. Besser, als die eigene erlebte Wehrlosigkeit spüren zu müssen.

Ich glaube, die wenigsten Menschen, die in solche inneren und äußeren Kämpfe verwickelt sind, setzen sich in eine Talkshow und sagen: "Mein Vater hat mich jahrelang missbraucht!" Sie sitzen (wie ich selbst auch) in den Sesseln von Therapeuten und Beratungsstellen und fragen sich verzweifelt, wie sie angesichts dieses ungeheuer schambesetzten Themas überhaupt die Zähne auseinander kriegen sollen. Sie sitzen auf den Bettkanten ihrer Ehepartner oder Lebensgefährtinnen und -gefährten und fragen sich, ob sie nicht doch schuld sind daran, dass "es" nie klappt und ob sie nicht doch verpflichtet wären, zur "Verfügung" zu stehen. Sie gefrieren zu Eis, sobald man sie berührt und setzen sich doch über alles eigene Gefühl hinweg und vertiefen damit nur die Narben. Sie ringen um Kontrolle und Befreiung (und manche treiben es bis zur Selbstzerstörung).

Das ist alles, was ich jetzt gerade dazu sagen kann. Es gäbe noch viel mehr. Aber ich ringe gerade um Kontrolle.

Auf keinen Fall wollte ich das Brechen des Schweigens zu etwas stilisieren, das unbedingt und ausnahmslos für jeden Menschen als positiver Schritt zu werten ist. Ich wollte nicht von einer Pflicht zum Brechen des Schweigens schreiben, sondern von einem Recht. In Lars von Triers „Das Fest“ wird ja auch sehr gut deutlich, mit welcher Konsequenz jemand rechnen muss, der sich das Recht auf Anklage nimmt.

Ich habe in meiner Kindheit und Jugend sehr viel Gewalt erlebt. Und parallel zu dieser Gewalt eine Mauer aus gleichgültigen Wegschauen. Und ich musste die Erfahrung machen, dass es eine Todsünde schlechthin darstellt, wenn man gegen diese Gewalt rebelliert. Das stille und duldsame Ertragen war ein eisernes Gebot und wehe dem, der es wagt, dieses Gebot zu übertreten!

Worum es mir mit allem Herzblut geht, ist das Recht auf Anklage. Auf das Recht auf Niederreißen von Scheinheiligkeit. Aber ich bin mir auch darüber im Klaren, dass dies gleichbedeutend damit ist, sich schutzlos und angreifbar zu machen. Das steht nur durch, wer stark genug ist, sich gegen Angriffe zu wehren. Und wer diese Stärke (noch) nicht hat, muss seinen eigenen Weg gehen.

Meine verstorbene Freundin hat enorm unter einem Missbrauch durch den Stiefvater gelitten. Mit Mitte Vierzig hat sie dann etwas getan, was mir tiefen Respekt einflößte. Sie suchte gemeinsam mit ihrer Therapeutin ihren Stiefvater auf und beide sagten ihm den Missbrauch auf den Kopf zu. Für sie war dies sehr befreiend. Letztendlich hat dies auch zu einer Aussöhnung geführt, was ich jedoch immer mit gemischten Gefühlen betrachtet habe. Als meine Freundin dann vor gut zwei Jahren völlig unerwartet starb, wollte ihr Freund den Stiefvater auf keinen Fall zur Beerdigung einladen und ich habe ihn darin bestärkt, dies nicht zu tun. Eine andere Freundin empfand dies als zwiespältig, denn schließlich hatte meine Freundin sich ja ausgesöhnt. Aber es wäre genau das gewesen, was meine Freundin zu ihren Lebzeiten so zerstört hat – dieses fade Vorgaukeln von Harmonie, die nie wirklich existiert hat.

Du hast mal in Deinem Blog über Deinen Widerwillen gegen bestimmte Familienfeste geschrieben. Und mir geht es momentan ähnlich, wobei ich allerdings kaum noch Familie habe. Das ist vielleicht auch der Grund, warum mir besagter Film jetzt so oft durch den Kopf geht. Dieser holländische Film spielt übrigens in einer Zeit, in der auch ich Teenager war. Und die beiden wundervollen Hauptdarsteller spielen sehr überzeugend die Lust und die Neugier auf das Leben, die diesen Lebensabschnitt eigen ist. Deswegen hat der Film für mich auch zwei Seiten – die schreckliche des Missbrauchs und die schöne des Abenteuers, aus der die Jugendzeit besteht.

Ich wollte nicht von einer Pflicht zum Brechen des Schweigens schreiben (...)

Ich weiß. Das wollte ich Dir auch nicht unterstellen. Ich habe das allerdings auch schon erlebt, dass Missbrauchsopfern auch noch die Verantwortung dafür aufgebürdet wurde, dass nicht noch mehr Kinder missbraucht werden. Als trügen die Überlebenden Schuld an jeder weiteren Tat, weil sie nicht gesprochen haben. Aber ich weiß selbstverständlich, dass Du diese Haltung nicht vertrittst.

Ich wollte verdeutlichen, wie komplex die Lage sein kann. Ich erinnere mich gut an einen Vorfall langer Zeit, als mir eine Bekannte von ihrem eigenen Missbrauch erzählte. Ich war ein bisschen peinlich berührt und hilflos und wusste nicht, was ich sagen sollte. Trotzdem konnte ich das, was sie mir erzählte, nicht einmal in Bezug setzen zu meiner eigenen Geschichte, obwohl auch bei ihr der Täter der Vater war. Man kann diese Erlebnisse extrem gründlich vergraben (und muss das sogar). Daher halte ich ein solches Talkshow-Outing für unwahrscheinlich. Trotzdem sehe ich mir den Film möglicherweise an (wenn ich mir sicher bin, dass er mich nicht triggert), und ich bin da auch nicht voreingenommen, denn manche Dinge funktionieren halt dramaturgisch und wirken trotzdem nicht billig.

Das Schweigen und die Scheinheiligkeit in der Familie sind natürlich Dinge, die mir auch immer wieder begegnen. Nicht nur bei meiner eigenen Familie, sondern auch bei anderen. Meine Freundin in der Schweiz steht immer wieder solche Familienfeste durch, bei denen ihr Missbraucher-Vater mit am Tisch sitzt. Die Familie ist der Auffassung, dass sie das jetzt allmählich gefälligst zu verzeihen hat, und dass sie diejenige ist, die durch ihr Verhalten der Familie Leid zugefügt hat, nicht der Vater. Da ist mir der Kontaktabbruch mit meinem Vater schon lieber. Aber auch der meldete sich pünktlich zu der ganzen bigotten Mutter- und Vatertagsnostalgie wieder einmal zu Wort, indem er mir gestern auf den Anrufbeantworter sprach. Er wolle nur mal hören, wie's mir denn so geht. Ausgezeichnet geht es mir - ohne ihn. Und ich blieb doch erstaunlich gelassen innerlich.

Das Widerstreben in Sachen Familienfeste kann ich gut nachfühlen. Am 1. Mai hatte meine Großmutter väterlicherseits Geburtstag, und da sie charakterlich viel mit ihm gemein hat, fiel es uns entsprechend schwer, uns zu ihr ins Altenheim zu bewegen und für eine halbe Stunde ein freundliches Gesicht aufzusetzen. Allerdings weiß sie von meinem Kontaktabbruch und versucht auch nicht, ihn mir auszureden. Das wunderte mich schon. Sie betonte allerdings auch, wie sehr meine Eltern darunter litten. Meine Mutter angeblich mehr als mein Vater. Was soll ich dazu noch groß sagen. Zumal sie zwischendurch auch durchblicken ließ, dass ihr die dominante, rechthaberische Art meines Vaters sehr zu schaffen mache ("Da hat man besser zu schweigen, wenn B. was sagt!").

Ich war ein bisschen peinlich berührt und hilflos und wusste nicht, was ich sagen sollte. Genauso erging es mir, als meine Freundin mir von dem Missbrauch erzählte. Wir waren damals zwölf und sie wohnte schon seit einiger Zeit nicht mehr in unserem Dorf, und ich verbrachte eine Woche bei ihr an ihrem neuen Wohnort. Wenn ich es jetzt im Rückblick sehe, dann habe ich mich denkbar dämlich benommen, am liebsten wollte ich überhaupt nicht mehr davon reden. Ich habe es regelrecht ausgeblendet, auch in Hinsicht auf den Stiefvater, der ja auch die ganze Woche anwesend war. Erst als Erwachsene haben wir darüber gesprochen.

Bei meiner Freundin hat der Missbrauch auch zu schweren Essstörungen geführt und ich bin der Meinung, dass dies auch ein Grund für ihren frühen Tod war. Ihr Freund war übrigens wesentlich weniger versöhnlich als sie selbst, denn er wollte bei einem der letzen Familienfeste nicht mitgehen, da ihm die Anwesenheit des Stiefvaters zuwider war.

Es ist so traurig, dass die Familie, die ja eigentlich einen Ort des Schutzes und des Vertrauens darstellen sollte, zu einem Ort des Verrats wird. Ich frage mich, ob dies Männern wie dem Stiefvater oder Deinem Vater eigentlich bewusst ist, oder sie gekonnt verdrängen. Die Gesellschaft trägt dabei ja ihren Teil dazu bei, indem sie konsequent wegsieht.

Meinem Vater ist das nicht bewusst. Das liegt daran, dass er seine eigene Fehlerhaftigkeit nicht zulassen kann. Daher wundert mich auch nicht, dass er sich ausgerechnet jetzt wieder meldet, da die Vater- und Mutterfeiertage sowie sein eigener Geburtstag Ende April und der seiner Mutter Anfang Mai anstanden und -stehen. Ich kenne ihn gut genug, um zu wissen, dass ihn zu solchen Gelegenheiten bisweilen eine seltsame Art Nostalgie (oder wie auch immer man das nennen soll) überkommt, er gern seine gesamte Familie am langen Tisch sitzen und sich selbst als "guten" Vater sähe. Er gefällt sich in dieser Rolle und sieht sich gern als Freund seiner erwachsenen Töchter. Ich bin sehr froh darüber, dass ich mir meine Freunde im Unterschied zur Familie selbst aussuchen kann.

Ich denke, dass es bis zu einem Unrechtsbewusstsein gar nicht kommt bei ihm. Weder darüber, dass er uns früher bisweilen recht kräftig geschlagen hat (auch wenn ich denke, dass das längst nicht so schlimm war wie bei Dir), noch über den Missbrauch. Er rief einmal auf dem Handy meines Mannes an, als wir gerade mit Freunden zusammensaßen, und sagte, wenn er schon angeklagt sei, würde er doch auch gern wissen, weshalb. Gerade weil sich sein Blick immer auf sich selbst richtet, wird er es nicht verstehen. Die Welt ist sein Selbstbedienungsladen, nicht etwas, das eigene Regungen und Grenzen besitzt und respektiert gehört. Empathie geht ihm völlig ab, und wäre ich etwas verzweifelter, dann würde ich behaupten, das sei genetisch bedingt und er schon so auf die Welt gekommen, weil er so enorm resistent ist. Seine eigene Verletzung spürt er immer, die anderer nur dann, wenn er sich dadurch in einer Rolle wiederfinden kann, die ihm etwas gibt.

Ich weiß nicht, wie das bei Deinem Vater war. Hattest Du jemals das Gefühl, er sieht Dich? Von Liebe spreche ich mal gerade nicht...

(Anmerkung am Rande: Ich glaube nicht, dass Du als Zwölfjährige anders hättest handeln können, als Du es getan hast. Du warst auch noch ein Kind.)

Hattest Du jemals das Gefühl, er sieht Dich? Diese Frage ist für mich völlig neu, weil es nie darum ging. Es ging in unserer Kindheit und Jugend immer nur darum, dass unser Vater von uns gesehen wird. Eigentlich war ich schon mit etwa elf Jahren in die Rolle einer Krankenschwester gerutscht, die verantwortlich für den armen Mann war und vor allen Dingen dafür, dass von seinen massiven Suchtproblemen nichts nach außen drang.

Aber wenn ich mir über diese für mich neue Frage Gedanken mache, dann finde ich nicht so einfach eine Antwort. Mein Vater war jemand, der die Leistung und die Außenwirkung eines Menschen sieht. Und da ich früher sehr gut in der Schule war, hatte ich eine Existenzberechtigung. Wenn man dann auch noch lebhaft und witzig war und halbwegs gut aussah, konnte man bestehen. Wenn ein Kind aber verträumt und ruhig war, so wie es bei meiner älteren Schwester der Fall war, dann fehlte die Existenzberechtigung.

Manchmal ist es gar nicht das eigene Leid, das einem im Erwachsenenalter zu schaffen macht, sondern das Leid, das anderen zugefügt wurde und dem man ohnmächtig zusehen musste. Ich bin jetzt über 50 Jahre und denke immer noch regelmäßig an die Nacht, in der mein Vater meine Schwester schwer misshandelte. Auch wenn ich momentan wenig Kontakt zu meiner Schwester habe, ist dies ein quälendes Erlebnis, das ich nie vergessen kann. Und ich werde vor allem immer hasserfüllt daran denken, dass die ganze Verwandtschaft väterlicherseits sich voll und ganz auf die Seite meines Vaters gestellt hat.

Es ist ein sehr mühseliger Weg – und das weißt Du sicherlich sehr gut aus eigener Erfahrung – diese Erinnerungen zu verarbeiten. Mir helfen da die Exerzitien, die ich mittlerweile regelmäßig mache. Zu lernen, sich dem erfahrenen Leid zu stellen, ohne daran zu zerbrechen. Was auf keinen Fall damit zu verwechseln ist, das Leid zu bagatellisieren. Ein wichtiger Satz, der mir in den Exerzitien gesagt wurde, ist, dass Unrecht immer Unrecht bleibt. Auch wenn mann es schafft, bei der Erinnerung an erfahrenes Unrecht irgendwann nicht mehr zu leiden, so bleibt doch die Tatsache bestehen, dass es sich um Unrecht handelt, das man auch als solches benennen muss.

Ich teile Deine Ansicht, dass das Öffentlichmachen von sexuellem Missbrauch nicht das Gleiche ist wie das Öffentlichmachen von Gewalt. Ersteres ist mit sehr viel Scham verbunden. Beides stellt eine massive Misshandlung dar, aber – und das ist die riesige Schweinerei – bei sexuellem Missbrauch wird indirekt auch immer das Opfer mitverantwortlich gemacht. Das wird besonders deutlich an Kulturen, in denen eine vergewaltigte Frau selbst dann, wenn überhaupt kein Zweifel an der Tatsache einer Vergewaltigung besteht, verstoßen oder manchmal sogar umgebracht wird. Aber auch der volkstümliche deutsche Ausdruck „geschändet“ macht die Schuldzuweisung sehr gut deutlich: es wurde „Schande“ über jemanden gebracht. Nicht der Täter trägt die Schande, sondern das Opfer.