Manchmal findet man sich ehe man sich versieht, in einer Schublade wieder. Schubladen gibt es viele: Politische Gesinnung, Hautfarbe, Nationalität, Alter, Geschlecht, religiöse Überzeugung, äußere Attraktivität, gesellschaftlicher Status, Musikgeschmack – die Kategorien sind schier unerschöpflich.
Diese Schubladen haben die gleiche Funktion, wie die Schubladen im Wohnzimmerbuffet oder im Schreibtisch – man findet sich besser zurecht. Man muss nicht immer erst lange nachdenken, bis man fündig wird, sondern man hat schnell das parat, was man braucht.
Was allerdings einen gravierenden Unterschied zu den Kategorie-Schubladen der menschlichen Eigenschaften darstellt, ist der Umstand, dass die menschlichen Eigenschaften und Überzeugungen ungleich vielfältiger sind und sich zeitgleich in verschiedenen Schubladen befinden können. Während die Socken oder die Teelöffel sich tatsächlich nur in der jeweils ein- und derselben Schublade befinden können, ist ein Mensch infolge seiner vielfältigen Eigenschaften nicht auf eine einzige Schublade reduzierbar.
Ich habe vor einiger Zeit in der Diskussion zu einem Beitrag meine Einstellung zu Glaubensfragen geäußert. Eigentlich hätte ich es besser wissen müssen und dies Thema tunlichst vermeiden sollen. Mir ist aus Studienzeiten noch gut in Erinnerung, wie leicht man deswegen in einer Schublade landen kann. Da konnte es schon mal passieren, dass man als „reaktionäre Sau“ bezeichnet wurde oder schlichtweg nur das Attribut „dämlich“ zuerkannt bekam. Bestenfalls wurde man in die Schublade derer befördert, mit denen man Geduld haben muss, bis sie endlich „soweit sind“ – was immer das heißen mochte.
Das verhängnisvolle an den Schubladen ist die abenteuerliche Art, wie kausale Verbindungen hergestellt werden. Die Schublade „religiös“ beeinflusst sofort entscheidend die Bewertung all dessen, was es sonst noch an Überzeugungen oder Meinungen gibt. Als ich mich in einem anderen Beitrag kritisch zu der Entwicklung äußerte, die die sogenannte sexuelle Revolution genommen hat, wurde dies prompt in die Schublade der überholten Moralvorstellungen eingeordnet und zur Sicherheit auch noch in die Schublade derer, die für alle Fehlentwicklungen ausnahmslos die 68er verantwortlich machen. Zu guter Letzt wird man gleich noch in die Schulblade der im Altenheim Befindlichen verfrachtet.
Das, worum es mir eigentlich geht bei meiner Kritik an der Entwicklung, die die sexuelle Revolution mittlerweile genommen hat, ging bei alledem völlig unter. Um die unselige Allianz einer mächtigen Medienmaschinerie mit einer gigantischen Vermarktungsindustrie, die beide suggerieren, dass der Garant für eine erfüllte Sexualität einzig und allein im Brechen von Tabus besteht – darum ging’s mir eigentlich. Und diese Ansicht vertreten beileibe nicht nur Menschen, die gläubig, religiös oder was-weiß-ich sind, sondern auch Menschen, die mit Glauben oder Religion nicht das Geringste am Hut haben.
Ja, so ist das mit den Schubladen. Mal abgesehen davon, dass mit dem Begriff „religiös“ Strömungen mit einer Bandbreite zusammengefasst werden, die von Kreationisten bis zur Theologie der Befreiung und von Vorsokratikern bis zu Stämmen balinesischer Animisten reichen, ist es fraglich, welchen Nutzen die Schubladen haben.
Aber vielleicht sind die Schubladen ja tatsächlich unerlässlich, auch wenn sich mir nicht erschließt wofür. In diesem Fall ist eines zumindest tröstlich: Wenn ich mich in meiner Schublade umsehe, befinde ich mich in hervorragender Gesellschaft. Der von mir verehrte Rainer-Maria Rilke, der von mir bewunderte Mahatma Gandhi, mein Jugendidol Hermann Hesse, Nelly Sachs und so viele andere, dass man gar nicht alle Namen nennen kann. Auf einige meiner Freunde und auf fast alle Mitglieder meiner Familie muss ich leider verzichten, die befinden sich der Schublade der Kategorie „nicht religiös“.
Ja, so ist das mit den Schubladen. Alles hat seine Ordnung. Teelöffel gehören nicht zu den Socken. Und religiöse Menschen nicht zu den nichtreligiösen. Und vor allem - man hat alles gleich parat und verschwendet keine Zeit mit unnötigem Suchen.
Es gibt doch noch ein- zwei Leute, die die gleiche Musik hören, die ich gehört habe, als ich noch Musik gehört habe. Das hat mich dann an mein schon lange vergessenes erstes Festival erinnert. Das German-Rock-Festival in der Hamburger Ernst-Merk-Halle. Ostern 1973 kamen über zwei Tage so ziemlich alle Gruppen, die es damals in Deutschland gab. Hatte noch nichts mit Neuer Deutscher Welle zu tun, denn Deutsch zu singen war noch verpönt – Udo hatte man übrigens auch nicht eingeladen.
Ich hatte eigentlich gar nicht so große Lust, zwei sonnige Ostertage in einer Halle zu verbringen. Aber die ganze Clique war da und da wollte ich nicht fehlen. Gruppen, die heute wahrscheinlich keiner mehr kennt: Atlantis, Birth Control, Epitaph, Triumvirat, Nektar, Guru Guru (mit ihrem legendären „Elektrolurch“). Übrigens - den Begriff „Krautrock“ hat weder jemand benutzt, noch überhaupt gekannt.
Allerdings habe ich entdeckt, dass auf YouTube tatsächlich Videos dieser Gruppen zu finden sind. Vieles kann ich gar nicht mehr genau erinnern. Aber Gamma Ray von Birth Controll, bei dem der Schlagzeuger auf der Base über die Bühne ritt, habe ich nicht vergessen:
Den Elektrolurch kann man sich wohl nur ansehen/hören, wenn man wirklich an Rockgeschichte interessiert ist. Ich habe heute eine Ahnung davon, warum viele meiner Freunde grundsätzlich bekifft waren beim Musikhören. Aber es war Kult...
Sex ist unkompliziert, wenn man von keinem Komplex, sondern von einem Bedürfnis geleitet wird.
Georges Simenon (1903-1989)
Revolutionen enden meist anders, als man es sich erhofft hat und es treten Entwicklungen ein, die keiner erwartet hätte. Auch die sogenannte sexuelle Revolution war mit einer Menge Hoffnung verbunden. Und die schien sich zuerst auch zu erfüllen. Endlich war Schluss mit einer lebens- und lustfeindlichen Moral. Endlich wurde aufbegehrt gegen selbstgefällige Tugendwächter, die meinten, anderen vorschreiben zu müssen, was gut und was schlecht ist. Endlich durfte man die eigenen Wünsche ausleben. Endlich war Schluss mit überkommenen Rollenzwängen und lustfeindlichen Wertvorstellungen. Eigentlich hätte alles in paradiesische Zustände münden müssen. Sind wir aber tatsächlich im Paradies angekommen?
Leben wir jetzt tatsächlich im paradiesischen Zustand einer rundum erfüllten und glückseligen Sexualität? Eigentlich müsste dies der Fall sein. Denn mittlerweile gibt es keine einschränkenden Tabus mehr. Niemand muss sich mehr für seine Neigungen schämen. Es gibt nichts mehr, was noch mit irgendeinem Tabu belegt wäre oder was irgendjemandem peinlich wäre. Und da in einem von Medien geprägten und bestimmten Zeitalter nichts mehr privat ist, werden auch Neigungen und Vorlieben publik, von denen der ein- oder andere bisher nicht ahnte, dass es sie gibt. Sex im KZ-Ambiente, Sex in Windeln, Sex geknebelt und gefesselt, Sex im Swinger-Club vor den Augen dreißig Gleichgesinnter, Mumien-Sex e.t.c.
In den Medien tummeln sich unzählige Chantals, Nataschas und sexy-Sandys, die nach eigenen Aussagen „auch mal etwas zickig“ sind, oder „es auch mal etwas härter“ mögen. Frauen, die dringend nach einem Mann suchen, mit dem sie „Neues auf erotischem Gebiet“ ausprobieren können und die für „nahezu alles offen sind“. Für nur 1,99 €/min werden alle Wünsche erfüllt. Der einzige Wermutstropfen ist, dass den meisten Männer bewusst wird, dass die eigene Partnerin dem Vergleich mit diesen allzeit bereiten Superfrauen meist nicht standhält. Oder noch schlimmer - es gibt gar keine Partnerin, so dass man(n) in der realen Welt gar nicht weiß, wohin denn nun mit der entfachten Lust.
Auch wenn das Gebiet des Käuflichen (noch) vorwiegend auf männliche Kunden begrenzt ist, so sind es mittlerweile doch nicht mehr auschließlich Männer, die für sexuelle Darbietungen zahlen. Bei Betriebsausflügen oder Polterabenden zeigen Frauen, dass sie bei den Shows der sich auf der Bühne verausgabenden Chippendales genauso johlen können wie man es früher irrtümlich nur bei Männern für möglich hielt.
Und endlich dürfen wir auch unseren Körper zeigen. Vorbei sind die Zeiten, in denen knappe Badeanzüge oder durchsichtige Blusen Anstoß erregten. Jetzt ist es durchaus normal, Großaufnahmen seiner Geschlechtsteile ins Internet zu stellen oder aber live vor der Cam zu masturbieren. Oder man verschenkt in der Öffentlichkeit seinen String, so wie es Heidi Klum vor einiger Zeit auf einer Après-Oscar-Feier getan hat.
Auch das, was man jetzt so zum Sex benötigt, muss nicht mehr heimlich und verschämt gekauft werden. Genauso wie es Tupperfeten gibt, gibt es jetzt auch endlich Sextoyfeten. Nicht zu vergessen die diversen Sexshops, in denen man von plüschgepolsterten Handschellen bis hin zur Krankenschwesternoutfit ist alles findet, was der Unterleib begehrt.
All dies ist wird gleichgesetzt mit einer lustvollen und erfüllten Sexualität. Und wehe dem, der daran auch nur den leichtesten Zweifel äußert. Dabei kann es sich doch nur um jemanden handeln, der stockverklemmt und scheinheilig ist. Bei weiblichen Zweiflern wird zwangsläufig auch sofort ausgeprägte Frigidität, Unattraktivität oder biblisches Alter vermutet. Nein – niemand, der eine freie und natürliche Sexualität hat, würde jemals Zweifel an der großen Befreiung der sexuellen Revolution äußern. Es gibt doch nichts Schöneres, als der Zustand, in dem alles erlaubt ist. Und ein Erfolg für die Toleranz ist es allemal. Last-not-least dann das Argument, dass man andere doch so leben lassen solle, wie sie eben leben möchten.
Das tue ich auch – aber ich stimme nicht ein in das Hohelied der ach-so-freien Sexualität. Wer gern in einer KZ-Uniform Sex hat, soll das tun. Wem es Höhepunkte verschafft, Frauen als Schlampen zu bezeichnen oder wer gern das Geschlechtsteil seiner Frau im Internet – gemeinsam mit vielen anderen – betrachtet, soll das tun. Wem es sexuelle Glücksgefühle verursacht, in der Öffentlichkeit Windeln zu tragen, soll das tun. Was mich betrifft – ich empfinde weder KZ-Uniformen noch Windeln als besonders erotisch. Und Männer, deren Potenz davon abhängig ist, Sex mit einer Litanei von Fäkalausdrücken zu verbinden, langweilen mich. Männer, denen es Vergnügen bereitet, nächtelang mit offenem Mund und offener Hose vorm PC gynäkologische Großaufnahmen anzustarren, ebenfalls.
Das, was als ursprünglich als Befreiung anfing, endete woanders. Die Absage an Tabus ist zum zwanghaften Selbstzweck geworden. Aus dem Kampf gegen Verbote ist die Fixierung auf das Verbotene geworden. Von diesem Tabubruch wird jetzt der ultimative letzte Kick erwartet. Das tun, was man normalerweise nicht tut, wird zur Obsession. Das Ganze hat allerdings einen Haken – wenn es einzig und allein darum geht, Tabus zu brechen, wird irgendwann die Situation eintreten, dass es keine Tabus mehr gibt, und somit versiegt irgendwann die Quelle der Lust.
Etwas ist mit Sicherheit bei der ganzen Entwicklung endgültig verlorengegangen – Sinnlichkeit. Eros, der griechische Gott der Liebe und Erotik, den man so oft als kleinen pausbackigen Engel darstellt, der listig und unerwartet mit Liebespfeilen schießt, ist bei alldem arbeitslos geworden. Man braucht ihn einfach nicht mehr.