Schubladen – sind wir alle Teelöffel und Socken?
Manchmal findet man sich ehe man sich versieht, in einer Schublade wieder. Schubladen gibt es viele: Politische Gesinnung, Hautfarbe, Nationalität, Alter, Geschlecht, religiöse Überzeugung, äußere Attraktivität, gesellschaftlicher Status, Musikgeschmack – die Kategorien sind schier unerschöpflich.

Diese Schubladen haben die gleiche Funktion, wie die Schubladen im Wohnzimmerbuffet oder im Schreibtisch – man findet sich besser zurecht. Man muss nicht immer erst lange nachdenken, bis man fündig wird, sondern man hat schnell das parat, was man braucht.

Was allerdings einen gravierenden Unterschied zu den Kategorie-Schubladen der menschlichen Eigenschaften darstellt, ist der Umstand, dass die menschlichen Eigenschaften und Überzeugungen ungleich vielfältiger sind und sich zeitgleich in verschiedenen Schubladen befinden können. Während die Socken oder die Teelöffel sich tatsächlich nur in der jeweils ein- und derselben Schublade befinden können, ist ein Mensch infolge seiner vielfältigen Eigenschaften nicht auf eine einzige Schublade reduzierbar.

Ich habe vor einiger Zeit in der Diskussion zu einem Beitrag meine Einstellung zu Glaubensfragen geäußert. Eigentlich hätte ich es besser wissen müssen und dies Thema tunlichst vermeiden sollen. Mir ist aus Studienzeiten noch gut in Erinnerung, wie leicht man deswegen in einer Schublade landen kann. Da konnte es schon mal passieren, dass man als „reaktionäre Sau“ bezeichnet wurde oder schlichtweg nur das Attribut „dämlich“ zuerkannt bekam. Bestenfalls wurde man in die Schublade derer befördert, mit denen man Geduld haben muss, bis sie endlich „soweit sind“ – was immer das heißen mochte.

Das verhängnisvolle an den Schubladen ist die abenteuerliche Art, wie kausale Verbindungen hergestellt werden. Die Schublade „religiös“ beeinflusst sofort entscheidend die Bewertung all dessen, was es sonst noch an Überzeugungen oder Meinungen gibt. Als ich mich in einem anderen Beitrag kritisch zu der Entwicklung äußerte, die die sogenannte sexuelle Revolution genommen hat, wurde dies prompt in die Schublade der überholten Moralvorstellungen eingeordnet und zur Sicherheit auch noch in die Schublade derer, die für alle Fehlentwicklungen ausnahmslos die 68er verantwortlich machen. Zu guter Letzt wird man gleich noch in die Schulblade der im Altenheim Befindlichen verfrachtet.

Das, worum es mir eigentlich geht bei meiner Kritik an der Entwicklung, die die sexuelle Revolution mittlerweile genommen hat, ging bei alledem völlig unter. Um die unselige Allianz einer mächtigen Medienmaschinerie mit einer gigantischen Vermarktungsindustrie, die beide suggerieren, dass der Garant für eine erfüllte Sexualität einzig und allein im Brechen von Tabus besteht – darum ging’s mir eigentlich. Und diese Ansicht vertreten beileibe nicht nur Menschen, die gläubig, religiös oder was-weiß-ich sind, sondern auch Menschen, die mit Glauben oder Religion nicht das Geringste am Hut haben.

Ja, so ist das mit den Schubladen. Mal abgesehen davon, dass mit dem Begriff „religiös“ Strömungen mit einer Bandbreite zusammengefasst werden, die von Kreationisten bis zur Theologie der Befreiung und von Vorsokratikern bis zu Stämmen balinesischer Animisten reichen, ist es fraglich, welchen Nutzen die Schubladen haben.

Aber vielleicht sind die Schubladen ja tatsächlich unerlässlich, auch wenn sich mir nicht erschließt wofür. In diesem Fall ist eines zumindest tröstlich: Wenn ich mich in meiner Schublade umsehe, befinde ich mich in hervorragender Gesellschaft. Der von mir verehrte Rainer-Maria Rilke, der von mir bewunderte Mahatma Gandhi, mein Jugendidol Hermann Hesse, Nelly Sachs und so viele andere, dass man gar nicht alle Namen nennen kann. Auf einige meiner Freunde und auf fast alle Mitglieder meiner Familie muss ich leider verzichten, die befinden sich der Schublade der Kategorie „nicht religiös“.

Ja, so ist das mit den Schubladen. Alles hat seine Ordnung. Teelöffel gehören nicht zu den Socken. Und religiöse Menschen nicht zu den nichtreligiösen. Und vor allem - man hat alles gleich parat und verschwendet keine Zeit mit unnötigem Suchen.




Ich hoffe sehr, Du fühltest Dich in dieser Angelegenheit nicht von mir schubladisiert. Falls das so gewesen sein sollte, tut es mir Leid, denn auch ich kann das Bewerten und Kategorisieren eigentlich überhaupt nicht ausstehen. Für mich bist Du in erster Linie Frau behrens, und das ist doch auch in Ordnung. Du hast eine Meinung zu vielem, und das ist gut so...

Ich meinte nicht Dich mit dem Schubladendenken, sondern ich bezog mich auf diesen Beitrag, der für mich ein Beispiel dafür ist, auf welch abenteuerliche Weise Rückschlüsse gezogen werden. Die Schublade “religiös” ist genauso platt wie die Schublade “Ausländer”, “Frau” oder was auch immer. Vielleicht stimmt es ja wirklich, dass Freud Recht damit hat, dass religiöses Empfinden letztendlich nichts als Projektion und Verdrängung sind. Aber ein ständiges Polemisieren jeden jeden, der auch nur den Hauch von Spiritualität hat, scheint mir auch nicht so ganz frei von Projektionen zu sein...

Sorry, ich hatte noch ein urlaubsbedingtes Lesedefizit... Jetzt sehe ich natürlich klarer.

Das Schubladendenken, das Du da beobachtest, halte ich für eine vollkommen menschliche Sache. Im Grunde sind wir ständig beschäftigt mit Bewertungen und Kategorisierungen, und ich weiß von mir selbst, dass ich das um so ausgeprägter betreibe, je unsicherer ich selbst bin. Das ist zunächst einmal ein Abgrenzungsversuch, der dazu dient, die eigene Position zu verstehen und zu festigen. Im Grunde tust Du ja auch nichts anderes, wenn Du über Alphamännchen und andere Heroen schreibst (was jetzt nicht als Kritik gemeint ist). Ich mache das auch. Wir alle haben unsere Vorstellungen im Kopf, auf die wir zurückgreifen, wenn es einer genaueren Definition der eigenen Position bedarf. Ich habe auch Herrn Stubenzweig nicht als unerbittlichen Kategorisierer kennengelernt, wenngleich er zu vielem eine deutliche Meinung vertritt, die ich beileibe längst nicht immer teile.

Dennoch habe ich auch etwas gegen Schubladen, weil sie mich und andere Menschen daran hindern, uns zu öffnen. Je starrer die Schubladen, desto schwieriger wird es, das Andersartige auch nur zu denken. Und natürlich sind wir alle viel kratzbürstiger, wenn wir in Schubladen gesteckt werden, als wenn wir unser Gegenüber in eine stecken. So befinde ich mich offenbar Herr Stubenzweigs Kategorisierung nach auch gerade in der Pauschal-Tourismus-Schublade. Aber das ist seine Meinung, und wieviel ich mir davon anziehe, bleibt ja im Endeffekt doch mir überlassen. Denn schließlich weiß ich selbst am besten, auf welche Art ich gereist bin, und Du weißt selbst am besten, auf welche Art Du glaubst. Lass Dich bewegen, berühren und auch erschüttern, aber nicht so sehr, dass Deine offene Art nun ihrerseits einem Schubladendenken zum Opfer fallen muss, weil Du Sicherheit suchst.

Man muss natürlich damit rechnen, dass man, wenn man hier für andere einsehbar schreibt, auch zitiert werden kann. Aber beim den stubenzweigschen Interpretationen kommt bisweilen arg der Oberlehrer durch. Und der schreibt anscheinend lieber, als dass er liest, was dann zu merkwürdigen Interpretationen führt. Denn in meinem Beitrag über den Tod des Eros steht nichts von Verantwortlichmachung der 68er, sondern es geht um eine ungute Entwicklung, die eine an sich positive Bewegung genommen hat, was z.B. von Dir auch richtig verstanden wurde (obwohl auch Du mit Religion nichts am Hut hast).

Mag sein, dass ich ein wenig zu empfindlich bin gegen Fehlinterpretationen. Habe darin aber auch vor einiger Zeit ziemlich viel Mist erlebt. Und sicher hast Du Recht, wenn Du schreibst, dass ich auch meine Schubladen mit Alphamännchen & Co habe. Wäre mal interessant – und wahrscheinlich sehr lehrreich, – zu erfahren, ob ich auch so fehlinterpretiere. Aber wie ich ja schon mehrmals ausgiebig beschrieben habe, dulden Alphamännchen keine Auseinandersetzungen und erst recht keine Kritik und so werde ich nie erfahren, ob ich eigentlich richtig liege mit meiner Einschätzung.

Interessant wäre auch mal die Gründe für die jeweiligen Schubladen. Die sind mir bei meiner Alphamännchenschublade sehr bewusst: Alphamännchen beschneiden durch ihre Dominanz empfindlich meine Freiheit und die anderer. Außerdem jagen Alphamännchen den meisten Menschen so viel Angst ein, dass die sich nicht mehr trauen, den Mund aufzumachen. Und plötzlich haben wir dann das, was mir nun mal zutiefst zuwider ist: Gleichschritt und Machtmissbrauch.

Sicher gibt es auch Gründe, Menschen in eine Schublade zu verfrachten, die so etwas wie einen Glauben haben. Gerade die vor einiger Zeit bekannt gewordenen unzähligen Missbrauchsfälle machen deutlich, wie wenig man in der Realität auf den sogenannten Glauben geben kann. Nur fehlt mir die Einsicht darin, wodurch ich persönlich anderen Menschen mit meinem Glauben schade. Ich versuche weder andere zu bekehren noch füge ich anderen Schaden dadurch zu, dass ich unser menschliches Dasein nicht für den Hauptzweck dieses Universums halte.

Das menschliche Dasein nicht für den Hauptzweck dieses Universums zu halten ist eine Ansicht, die Du mit Sicherheit auch mit zahlreichen Atheisten teilst - mit mir zumindest tust Du es. Dazu muss man nicht religiös sein.

Was ich über die Alphamännchen-Schublade schrieb, war nicht als Kritik an Deinem Verhalten gemeint. Ich denke, dass es manchmal eine menschliche Notwendigkeit gibt, Verhalten zu kategorisieren, wenn man nicht damit umgehen kann. Das Verhalten der Alphamännchen verunsichert Dich, also ist es nur logisch, dass Du sie zumindest in die Kategorie "Geht gar nicht" einordnest. Und ganz sicher sind diese Typen nicht unbedingt eine erstrebenswerte Gesellschaft, diese Auffassung teile ich mit Dir. Aber ebenso wie bei der Schublade "religiös" liegt die Gefahr auch hier dabei, Menschen und ihre Einstellungen zu pauschalisieren. Es ist natürlich zweitrangig, wieso sich jemand benimmt wie die wilde Sau und alle anderen in seiner Gegenwart mit seinem Gebaren herunterputzt. Solches Verhalten ist per se verwerflich. Aber wer die Menschen sind, die hinter diesem Verhalten stehen, und warum sie die sind, die sie sind, findet man natürlich nicht heraus, wenn es bei der Kategorisierung bleibt und man keinen Blick hinter diese Theatermasken wirft. Du hättest Recht, wenn Du nun einwandtest, das müsse man bei diesen Menschen auch nicht unbedingt wollen - schon rein aus Selbstschutz. Ich gebe nur zu bedenken, dass es anderen Menschen mit anderen Kategorien sicher ähnlich geht (im Falle der Religion wäre das dann etwas wie "Warum sollte ich mich mit solchen unmündigen, unvernünftigen, kindischen, unselbständigen Personen abgeben? Mit ihnen zu diskutieren bringt nichts, sie sind eh irrational!" Ich überspitze es absichtlich...). Es kann generell sehr viel dazu beitragen, sich über Kategorien hinwegzusetzen, um zu begreifen, was Menschen zu ihrem Verhalten treibt. Es gibt für alles einen Grund.

Was die Sache mit der Religion betrifft: Ich denke, es gibt ausreichend Gründe, Religion und Religiosität zu kritisieren, und meiner Ansicht nach wurde das auch viel zu sehr tabuisiert (und wird es wieder, leider). Mit Religion lassen sich - ohne eine logische Begründung dazu liefern zu müssen - Lebensregeln aufstellen, Menschen manipulieren, entmündigen, radikalisieren und missbrauchen. Dass eine pauschale Kritik an der Religion auch immer den Religiösen kritisiert, ist klar. Du persönlich bedrohst und manipulierst mit Deinem Glauben sicher niemanden, aber das ist eben für Außenstehende so wenig ersichtlich, wie für Dich die Verhaltensmotive des Alphamännchens ersichtlich sind. In solchen Situationen bietet sich eine Diskussion auf Augenhöhe an, bei der man letztlich sich selbst auch fragen muss, ob man die Andersartigkeit des Gegenüber ertragen kann oder nicht. Mancher Oberlehrer scheitert daran - was wiederum menschlich ist.

Habe mir etwas Zeit genommen, um Dir zu antworten. Zu Recht sagst Du, dass man nicht beim Kategorisieren stehen bleiben sollte, sondern man auch immer wieder den Versuch machen muss, den Menschen jenseits aller Kategorien und Pauschalierungen zu sehen. Dies ist aber außerordentlich schwierig, wenn etwas stark emotional besetzt ist. Dann kann der Appell an das Verständnis manchmal nicht mehr erfüllt werden.

Vor einiger Zeit ging es in Deinem Blog um die Beziehung zu den Eltern und wir hatten unterschiedliche Meinungen, was den Appell an den Versuch des Verstehens betraf. Dabei gehe ich trotzdem davon aus – so wie ich Dich bisher kennengelernt habe – dass wir uns von der Theorie her einig darüber sind, dass es sich immer lohnt, sich damit auseinanderzusetzen, warum und wieso Menschen so sind, wie sie eben sind. In der Praxis haben wir aber unterschiedliche Themen und unterschiedliche Verletzungen. Mein Vater ist schon seit vielen Jahren tot und dadurch ist meine Wunde schon besser verheilt (manchmal bricht sie allerdings noch mit voller Wucht auf). Du bist zwar in Hinsicht auf Deine Eltern verletzlich, aber dafür in der Lage, mit Deinen Kollegen und Bekannten, die Dich nerven, toleranter umzugehen, als ich es vermag.

In der Supervision wurde mir mal gesagt, ich messe dem Verhalten anderer viel zu große Bedeutung bei und agiere immer noch vom „Kinder-Ich“ her (Eric Berne), obwohl ich längst erwachsen bin. Das trifft aber nur zum Teil zu. In meiner Arbeit habe ich mit Klienten zu tun, die sich durch eine spezifische Schwäche (Alter, Krankheit, Krise) nicht mehr adäquat wehren können und dadurch völlig ausgeliefert sind. In gewisser Weise sind sie dadurch wieder im Status eines „Kinder-Ichs“. Es bringt mich fast um den Verstand, wenn ich mitansehen muss, wie dies von manchen ausgenutzt wird. Es nützt mir dann in dem Moment gar nichts, erwachsen zu sein, denn um mich geht ja gar nicht.

Ein anderes Problem ist, dass ich immer mehr an die Grenzen meiner Kraft komme. Ich höre mir tagaus tagein die Probleme anderer Menschen an und versuche, diese zu verstehen. Auch wenn Menschen ausfallend oder aggressiv werden, muss ich geduldig versuchen, die Gründe für dieses Verhalten zu ergründen und zu verstehen, um eine Lösung zu finden. Ich muss stets differenziert auf andere eingehen und immer darauf achten, dass ich nicht projiziere. Wäre ich noch in einem „normalen“ sozialpädagogischen Arbeitsfeld, dann gäbe es Kollegen, die genau das Gleiche tun und die sich gegenseitig stützen, aber in der Kaufmannszene ist das nicht der Fall.

Ich habe es manchmal so satt, immer Verständnis für andere haben zu müssen. Auf der einen Seite immer differenziert nach Gründen zu fragen und auf der anderen Seite in eigener Sache nur die derbsten Plattitüden um die Ohren gehauen zu bekommen. Vor einiger Zeit habe ich mir beispielsweise nächtelang (keine Übertreibung) die Eheprobleme einer Kollegin angehört. Ich hatte die Rolle der Zuhörerin abboniert und natürlich waren meine Probleme nicht Thema. Und zu guter Letzt fällt mir dann ausgerechnet diese Kollegin mit Karacho in den Rücken. Sicher, würde ich dies einfach mal aus der Distanz als eine Art „Fallstudie“ betrachten, so könnte ich mir auch das erklären. Eine durch und durch nicht-authentische Frau, zu deren Beziehungsmuster es gehört, sich Sympathie durch Nettsein zu sichern. Sie kann gar nicht anders, als sich grundsätzlich opportun zu verhalten. Und so ist es mit allen anderen auch. Auch gnadenloses Abzocken und menschenverachtendes Alphatiergehabe sind Verhaltensmuster, dass nicht so einfach abgelegt werden können und ihre Ursachen haben.

Aber muss ich wirklich immer verstehen, warum und wieso jemand sich so verhält? Kann es nicht auch einmal zuviel sein, wenn man sich immer wieder klarmacht, dass jeder Mensch seine Schwächen hat und im Grunde nicht anders sein kann, als er nun mal ist? Gibt es nicht ein Recht auf Wut? Ein Recht auf Losbrüllen und auf-den-Tisch-hauen? Ein Recht auf Pauschalierung all derer, die selbst pauschalieren?

Natürlich haben wir alle unsere wunden Punkte. Das weiß ich, und das weißt Du. In meinem Fall ist es mein Vater, der mir immer wieder schwer im Magen liegt, und das ist auch nicht weiter verwunderlich. So schwer es mir auch fiel, so habe ich doch ab und an den Versuch gemacht, ihn zu verstehen, wie ich es auch im Bezug auf meine Mutter versucht habe. Mir ist schon klar, warum mein Vater so gestrickt ist, wie er ist. Ich kann nur ansatzweise erahnen, was er insbesondere im Verhältnis mit seiner Mutter erlebt hat - sie ist und bleibt bis heute eine schwierige Person, die sehr vereinnahmend ist, und er ist in ihrer Gegenwart mehr Kind als irgendwo sonst. Sie war ganz ohne Zweifel schon zu seiner Kinder- und Jugendzeit eine Person, die sich stark grenzüberschreitend verhalten hat, auch über Generationengrenzen hinweg. Sie hat ihre Kinder seelisch missbraucht (und es würde mich nicht wundern, wenn sie es auch körperlich getan hätte - so hat sie z.B. meinem Onkel, dem jüngeren Bruder meines Vaters, eine ganze Weile lang Mädchenkleider angezogen...). Mein Vater hat ein sehr ungesundes Verhältnis zum Thema Sexualität. Selbige ist die wirksamste und wichtigste Quelle der Bestätigung für ihn, und das wird seine Gründe haben. Ich weiß, dass nichts ohne Grund geschieht.

Aber mein Vater ist auch ein erwachsener Mann, und als solcher hat er die Verantwortung für sein Leben und sein Handeln. Niemand hat ihm das Recht dazu gegeben, seine Tochter zu missbrauchen. Und so, wie ich darüber wütend und verletzt bin, hast auch Du selbstverständlich jegliches Recht, die Alphamännchen zu kritisieren, die sich ihrer Verantwortung im menschlichen Miteinander nicht stellen wollen und sich benehmen wie die Schweine. Der Ärger und auch die Verletzung, die Du deswegen empfindest, haben ihren berechtigten Stellenwert. Das wollte ich nie in Zweifel ziehen. Verständnis ist übrigens nicht dasselbe wie Verstehen. Niemand würde von Dir verlangen (können), dass Du den Alphamännchen auf die Schulter klopfst und sagst: "Ach, ich weiß, Du hattest eine schwere Kindheit. Benimm Dich nur weiter so... Du kannst ja nicht anders!" Jeder kann anders. Vorausgesetzt, er will.

Klar brauchen wir Kategorien, wenn wir verletzt und emotional involviert sind. Wie gesagt, ich finde das von Dir und mir ebenso menschlich wie von Herrn Stubenzweig. Wir haben alle unsere Unsicherheiten.

Mir fällt sehr Deine enorme Verletzlichkeit auf, was einen bestimmten Menschentypus angeht. Auch das kenne ich von mir selbst - ich habe z.B. so reagiert, wenn in Foren oder anderswo jemand meinen Missbrauch anzweifelte oder meine Entscheidung kritisierte, mich von meinen Eltern gewissermaßen zu trennen. Wann immer in diesen sensiblen Bereichen jemand sich mir gegenüber respektlos verhält, über mich herzieht oder mich verurteilt, wirft mich das so sehr aus der Bahn, dass ich tagelang an mir selbst zweifeln kann oder eben auch wütend auf diejenige Person oder die ganze Welt bin. Dann wird mir klar: Ja, ich bin verletzbar. Und es gibt Menschen, die - oft sogar bewusst - verletzen. Und das tut verdammt weh. Es ist schwierig, sich das einfach "egal sein" zu lassen, wie einem dann so oft geraten wird. Man braucht in solchen Situationen Menschen, die einem helfen, das aus den Fugen geratene Bild wieder zu stabilisieren.

Meine Erfahrung ist, dass es wichtig ist - vor allem im Hinblick auf den Selbstschutz - herauszufinden, was es eigentlich ist, das einen da genau verletzt, und sich zu verstehen. Denn wenn man wunde Punkte hat, dann nimmt man anders wahr. Man begreift viele Dinge als einen direkten Angriff auf das eigene Selbst, dem man hilflos ausgeliefert ist (und insofern ist man immer noch Kind). Es besteht aber auch die Möglichkeit, dass es gar kein persönlich gemeinter Angriff ist, dass man sich möglicherweise wehren kann, dass man Menschen gegenübersteht, die ohnehin nicht zu ändern sind usw. Die Bandbreite der Möglichkeiten ist viel größer, als wir glauben. Man muss lernen zu begreifen, dass es "Projekte" gibt, in die es sich lohnt, Energie zu stecken, und andere, bei denen man es tunlichst vermeiden sollte, weil es einen innerlich auszehrt. In die letzte Kategorie (erwischt!) fiel für mich z.B. der Kontakt mit den Eltern, denn ich weiß, ich habe nichts zu erwarten, und es nützt mir nichts, alte Wunden mit ihnen offen zu halten und mich von ihren Eigenheiten immer wieder verletzen zu lassen. Ich habe doch die Gewalt darüber, ob ich mir das antue oder nicht.

Wenn es die Verurteilungen, Ungerechtigkeiten und die Rücksichtslosigkeit der Menschen sind, die Dich immer wieder verletzen (und zwar mit einer solchen Wucht), dann gibt es auch dafür einen Grund. Und insofern hatte der oder die Supervisor/in Recht - wenn es so sehr schmerzt oder wütend macht, dann ist es vermutlich etwas altes, und Du bist immer noch das Kind.

Was hindert Dich zum Beispiel daran, aus der Rolle der Zuhörerin und Versteherin auszusteigen, wenn Du es nicht mehr schaffst oder willst? Du hast natürlich einen Beruf, der dieses Verhalten notwendigerweise mit einschließt (und ich nehme mal an, auch nicht ohne Grund). Aber umso notwendiger ist es doch, dass Du Dich hier um Deine eigene Psychohygiene (auch wenn ich den Begriff doof finde - er trifft es) kümmerst. Das lässt sich auch auf die Alphatiere in Deinem Beruf übertragen: Wenn Du sie nicht ändern kannst (was wahrscheinlich ist), aber auch nicht unempfindlich bzw. abgestumpft gegen dieses Verhalten werden kannst oder willst, ist es sinnvoll und berechtigt, sich zurückzuziehen und sich ein anderes Betätigungsfeld zu suchen, das die Konfrontation mit solchen Leuten minimiert. Im Bezug auf die betreffende Kollegin stehst Du allerdings in keiner Pflicht. Brüll doch mal los und haue auf den Tisch. Oder steig aus und sag ihr "Du, das ist Dein Privatkram, das interessiert mich nicht!"

Was Herrn Stubenzweig betrifft, solltest Du Dich fragen, was es genau ist, das Dich an seinem Verhalten (und dem anderer) so sehr trifft. Damit meine ich, dass Du möglicherweise in Betracht ziehen solltest, dass es nur deshalb so schmerzt oder ärgert, weil es an irgendeiner sehr alten Wunde rührt. Wenn Du weißt, an welcher, kannst Du gestern und heute viel besser auseinander halten und Dich selbst besser schützen. Ich weiß, ich klinge mal wieder wie eine Küchenpsycho-Expertin, aber das sind die Erfahrungen, die ich selber machte und noch immer mache. Das umzusetzen und gut auf sich zu achten ist ein lebenslanger Lernprozess, aber keiner ohne Früchte.

Das sind zwei Wahrheiten, die Du da beschreibst:
Denn wenn man wunde Punkte hat, dann nimmt man anders wahr“.
"Projekte, bei denen man es tunlichst vermeiden sollte, Energie hinein zu stecken, weil es einen innerlich auszehrt“


Letzteres fange ich langsam an umzusetzen. Das Wort Ent-täuschung bringt es da für mich sehr gut zum Ausdruck: Man hat sich schlichtweg einfach getäuscht und ist gezwungen, der Realität ins Auge zu sehen und die Täuschung zu überwinden. Mit der Lokalisation der „wunden Punkte“ ist es schon schwieriger.

Bei dem Beispiel mit der Kollegin kritisiere ich nicht den Punkt, dass ich ihr zugehört habe, als es ihr sehr dreckig ging. Das ist nichts, was mir schwerfällt oder was ich als Zumutung empfinde. Mich widert vielmehr die Art an, jemanden so lange zu nutzen, wie man ihn braucht und sich dann einen Scheißdreck um ihn zu scheren. Aber auch da trifft wieder das Wort Ent-täuschen.

Ich weiß nicht, ob man sagen kann, dass es mich trifft, wenn unser Oberlehrer etwas von mir Geschriebenes auf ziemlich platte Art interpretiert. Ich empfinde es einfach als extrem plump, wenn auf diese Art kommuniziert wird. Das wird dann auch durch französische und lateinische Randbemerkungen nicht besser. Gefällt eben nicht jedem.

Ich glaube, dass ein Blog nicht der Ort ist, über das zu schreiben, was mich interessiert. Ich erinnere mich an Camabu, der sich sehr sträubte, selbst einen Blog anzulegen, da man seiner Ansicht nach nie wissen kann, was das für Menschen sind, die das Geschriebene lesen und kommentieren. Und da fällt mir wiederum der Blogger namens „Nemoomen“ ein, der hier in diesem Blog ziemlich rumgeholzt hat und letztendlich seine Kommentare alle wieder gelöscht hat – Deine und meine gleich mit. Das ist nicht das, was ich mir vorgestellt habe. Ich habe verschiedene Freunde von mir gefragt, ob sie nicht Lust auf einen gemeinsamen Blog haben, der ja auch nichtöffentlich sein kann – aber leider haben sie das nicht, denn sie ziehen Briefe, Mails, Telefonate oder persönliche Treffen vor und sehen absolut keinen Sinn darin, auf diese Weise zu kommunzieren. Liegt vielleicht daran, dass wir nun mal auch nicht zur Generation Internet gehören. Schade ist es vielleicht trotzdem, denn es gäbe viele gemeinsame Interessen, über die man heftig diskutieren könnte, ohne dabei plump zu werden.

Bin augenblicklich sehr, sehr müde, denn eine nahestehende Person ist sehr schwer erkrankt und ich habe dadurch kaum mal einen Augenblick Zeit. Mehr will ich dazu nicht schreiben – wer weiß, was dann wieder da hineingedeutet wird…

Letztlich sind es ja mehrere "Felder", auf denen Du Dich enttäuscht bzw. verletzt fühlst. Ich glaube, das ist im Endeffekt bei uns allen so. Mir scheint - und das empfinde ich oft ähnlich - es schmerzt Dich ganz persönlich, dass viele Menschen einfach keine respektvollen Umgangsformen haben und sich überall stumpf äußern müssen, ohne differenziert denken zu wollen. Das ist bitter, aber ich zähle das auch zu den Erfahrungen, die ich leider machen musste. Menschen sind so.

Wenn man darauf mit Rückzug reagiert, dann ist das eine ganz verständliche und natürliche Sache. Man muss sich schützen. Die Sache mit Deiner Kollegin hätte Dich sicher nicht so geärgert, wenn sie sich irgendwie dankbar gezeigt oder mal nach Dir und Deinen Befindlichkeiten gefragt hätte. So bleibt es aber ein einseitiges Geben Deinerseits, und das hält auf Dauer kein Mensch durch. Ich schätze Dich so ein, dass Du tendenziell eher zur Selbstlosigkeit neigst, es Dich aber auch sehr verärgert, wenn das jemand nicht zu schätzen weiß. Die einzige Möglichkeit, diese immer wiederkehrenden Enttäuschungen aufzubrechen ist, sich selbst um ausreichend Zuwendung für sich zu kümmern. Das reduziert die Erwartungen an andere und folglich auch die Enttäuschungen.

Ich glaube, dass ein Blog nicht der Ort ist, über das zu schreiben, was mich interessiert. Das ist sehr schade. Ich habe immer sehr gern mitgelesen und mich mit Dir ausgetauscht, auch wenn es viele Beiträge gab, bei denen ich nur stumm genickt oder staunend geschwiegen habe. Natürlich interessiert einen nicht jedes Thema gleichermaßen, aber Dein Blog ist definitiv eines derjenigen, die immer zu lesen lohnen. Ich hätte ehrlich gesagt nicht vermutet, durch das Bloggen so viele Denkanstöße und positiven Rückmeldungen zu bekommen und bin daher eher angetan vom Konzept, zumal es mich wirklich ermutigt hat, einfach zu schreiben, was mir durch den Sinn geht. Rumholzer wie den genannten hatte ich allerdings auch noch nicht in meinem Blog. Ich weiß nicht, aber wahrscheinlich war das schieres Glück. Ich hatte erst kürzlich mit so einem Herzchen in einem Forum zu tun, das auch auf mein Blog verlinkte, und derjenige äußerte sich über die Maßen gehässig - was der Grund war, dass ich die Kommentarfunktion bei mir während meines Urlaubs abgeschaltet habe, aus Angst, derjenige könnte meinen, dort an die Ecken pinkeln zu müssen. Anscheinend verging ihm aber die Lust. Es ist halt sehr schwer, Trolle nicht zu füttern... Mein Mann kann ein Lied davon singen, wie mich gehässige und abwertende Internet-Äußerungen runterziehen.

Dennoch - hätte ich niemals gebloggt, so wie es Camabu gehalten hat, dann wäre mir viel entgangen. Unter anderem der Kontakt zu einigen wirklich interessanten, authentischen und offenen Menschen sowie die Erfahrung, dass ich in der Tat vertrauen kann. Das wäre sicher anders, wenn ich nur Bla-Bla gebloggt hätte. Das hätte keine Angriffsfläche geboten und wäre sicherer gewesen, aber es birgt auch keine großen Chancen zur Bereicherung.

Ich würde gern weiter bei Dir lesen und ebenso gern kontrovers mit Dir diskutieren, wie es auch bisher der Fall war. Es würde was fehlen, wenn Du aufgäbest, und ich würde Deine Stimme vermissen. Und ich denke, es könnte auch noch anderen so gehen.

Jeder hat seine Eigenheiten, so auch die hergelaufenen Spinatwachteln, die meinen, überall herumsauen zu müssen. Die Frage ist, wie viel man sich davon anzieht. Aber ich verstehe auch, dass es müde macht, wenn man immer nur kämpft - innerlich oder äußerlich. Es ist ebenso Dein gutes Recht, auszusteigen und nicht jeden Konflikt bis zum Ende auszufechten. Mach nur nicht den Fehler, ein intensives generelles Misstrauen zu entwickeln - ich weiß aus eigener Erfahrung, dass das zu einem selbstgebauten Gefängnis ausarten kann.

Dass es der betreffenden Person nicht gut geht, tut mir von Herzen Leid. Ich wünsche Dir sehr, dass es bergauf geht und sich für Dich wieder mehr Zeit und Energie ergibt, um zu Dir selbst zu kommen und durchzuatmen.

Du hast Recht, Menschen sind so wie sie sind und es bleibt einem nichts anderes übrig, als sie so zu akzeptieren, wie sie nun mal eben sind. Es wäre natürlich schön, wenn es so etwas wie einen Lernprozess geben würde. Aber auch das ist so, wie es ist und viele Menschen wollen nicht lernen. Vor einigen Jahren ist mir etwas widerfahren, was ich als „Prollvergiftung“ bezeichne. Eine Auseinandersetzung übler Art, die nur auf der Ebene prolliger dumpfer Sprüche lief, voller platter Projektionen war und schließlich dazu führte, dass ich meine bisherige Bürogemeinschaft verließ.

Das, worum es aber eigentlich geht, ist gar nicht die Auseinandersetzung an sich, sondern dass man eingreifen muss, wenn Auseinandersetzungen auf miesem Niveau laufen. Und das ist durchaus möglich, wie ich erfahren habe. Auch an früheren Arbeitsplätzen gab es Dumpfheiten, Anmaßungen, Grenzüberschreitungen, ungerechtfertigte Vorwürfe und Alphagehabe. Aber es gab oftmals auch jemanden, der dann auch kräftig auf den Tisch schlug und damit diese Form der Auseinandersetzung stoppte (was übrigens durchaus auch mal einen selbst treffen kann!). Ich habe ja schon mal von meiner früheren Kollegin berichtet, mit der ich oftmals wegen ihres Standesdünkels Auseinandersetzungen hatte. Auf der anderen Seite habe ich an ihr aber sehr geschätzt, dass sie grundsätzlich keine Konfrontation scheute und wenn erforderlich, auch laut und nachdrücklich Kontra geboten hat. Nicht immer einfach, aber letztendlich der einzige Weg, wenn man nicht nur Geld verdienen, sondern auch Dinge bewegen will.

Ich freue mich, dass Du mir Mut machst, nicht einfach alles hinzuwerfen. Aber so richtig Lust habe ich nicht mehr Ich habe bis vor einigen Jahren gar nicht gewusst, was ein Blog ist und meine Nichte hat mich darauf gebracht und mir den Betreuerblog eingerichtet. Anders als es bei Dir der Fall ist, gefallen mir nur sehr wenige Blogs. Viele Kommentare beschränken sich auf kurze Sprüche, was ja auch gar nicht schlimm ist, aber eben nicht das, was mir vorschwebte: eine intensive Auseinandersetzung mit einem Thema. Und zwar ohne die Selbstgefälligkeit eines Zurschaustellens der eigenen Bildung. Eine Auseinandersetzung um des Nachdenkens willens und um vielleicht durch Denkanstöße ein bisschen weiterzukommen. Ich glaube, ich bin gefühlte hundert Jahre älter als die meisten hier (nicht in Bezug auf Lebensweisheit - das wäre schön - sondern in Bezug auf Müdigkeit).

P.S. du hast mich ja darauf hingewiesen, mal meine eigenen wunden Punkte anzusehen. Ein Beispiel wäre dafür die DDR. Genauso, wie Du Religion ablehnst, habe ich die DDR abgelehnt (rigoros, weil sie für mich einen Verrat am wirklichen Sozialismus darstellte). Und - weil Du es bist - ein weiteres Beispiel: der Prototyp des Ausnutzers, den ich so hasse, weil er andere nur benutzt und nur an den eigenen Vorteil denkt, war mein Vater! Da spielt sich vielleicht tatsächlich das ab, was Alice Miller das "Wiederholungsdrama" nennt.