Die liebenden Mutterherzen schlagen wieder zu
Menschen…die unglücklich sind, wenn andere Leute sie anschreien oder unfreundlich zu ihnen sind, die selbst aber andere ebenso anschreien und es nicht einmal bemerken, kleine verlassene Kinder, deren Eltern auf Transport sind, aber die Mütter anderer Kinder kümmern sich nicht um sie: Sie haben Kummer um die eigene Brut, die Durchfall hat und vielerlei Krankheiten und Wehwehchen.
Etty Hillesum in einem Brief aus dem KZ Westerbork
Nach rund zehn Jahren hat man jetzt den Mörder des kleinen Denis gefasst, der die ganze Zeit unbescholten ein paar Straßen ganz in der Nähe meiner Wohnung gewohnt hat. Und jetzt ist wieder Saison für die liebenden Mutterzherzen: „Wenn man selbst Kinder hat, kann man nachempfinden, was die Mutter empfindet“. Ach so, ja. Nur wenn man selbst Kinder hat, ansonsten natürlich nicht. Nur wenn man selbst Krebs hat, kann man nachempfinden, wie es einem Krebskranken geht, nur wenn man selbst missbraucht wurde, kann man empfinden, wie es Missbrauchsopfern geht und nur wenn man selbst Jude ist, kann man die Tragödie Auschwitz’ nachempfinden. Das ist die Logik derer, denen alles, aber auch wirklich alles am Arsch vorbei geht, was sie nicht unmittelbar selbst betrifft.
Aber das ist nur die eine Seite der liebenden Mutterherzen. Die andere ist natürlich das unvermeidliche „Rübe ab, weg mit dem Monster“. Die macht zwar weder die ermordeten Kinder wieder lebendig noch macht es das Leid der vielen Missbrauchsopfer ungeschehen, noch verhindert es zukünftige Verbrechen. Aber das ist im Grunde schnurz. Wichtig ist nur, dass die liebenden Mutterherzen Dampf ablassen.
Wie verhindert man, dass aus einem unschuldigen Kind später ein skrupelloser Pädophiler wird? Was muss – JETZT UND SOFORT – getan werden, damit gefährliche Entwicklungen gar nicht erst entstehen? Vielleicht ist es genau das, wozu diese Gesellschaft – allen voran die liebenden Mutterherzen – keine Lust hat: Verantwortungsbewusstsein für
alle Kinder zu zeigen, nicht nur für die eigenen. Den Mund aufzumachen, wenn man mitbekommt, dass in der Nachbarschaft Kinder vernachlässigt oder misshandelt werden. Einzugreifen, wenn Kinder – nicht nur die eigenen – in Not sind. Ist das wirklich zuviel verlangt?
Ich empfinde die eingangs zitierten Worte
Etty Hillesums als eine sehr zutreffende Charakterisierung der sogenannten Mutterliebe. Etty Hillesum hatte übrigens keine eigenen Kinder. Damit wird ihr sicherlich von den liebenden Mutterherzen die Kompetenz abgesprochen, sich zu äußern. Mir fällt dabei sofort meine frühere Mitarbeiterin ein, die empört kreischen würde, dass ein Mensch ohne Kinder nichts beurteilen kann, was mit Kindern zu tun hat. Mir fällt auch der frühere Geschäftsführer ein, der sich einen Dreck um die Ausbildung seines Lehrlings gekümmert hat, aber einen Riesenaufstand veranstaltete, als seine schulschwache Tochter nicht versetzt werden sollte und seinem verwöhnten Sonnenschein dann letztendlich die Privilegien einer Waldorfschule zukommen ließ.
Solange eine Gesellschaft wegsieht, wenn Kindern Unrecht angetan wird, solange wird sie auch mit Gewaltverbrechen leben müssen. Solange einer Gesellschaft Kinder völlig gleichgültig sind – es sei denn es sind die eigenen – solange macht sie sich auch der Mittäterschaft schuldig.
Die Lust am Verdrängen
„Sei froh, dass du das nicht mitgemacht hast“ ist die Antwort, die in Kirsten Boies Buch
”Ringel Rangel Rosen” all den Kindern gegeben wird, die danach fragen, was im Krieg passiert ist. Es scheint ein allgemeines Übereinkommen aller Erwachsenen darin zu bestehen, dieses Kapitel mit einem Erwähnungsverbot zu belegen. Traumen verarbeitet man nicht, sondern verdrängt sie. Und es gab ja auch eine neue Beschäftigung, der man sich mit viel Begeisterung widmete – Fernsehen. Zuerst noch in nachbarschaftlicher Gemeinschaft, denn anfangs konnten sich nicht alle einen Fernseher leisten. Auf diese Weise wurden Fernsehsendungen zu Gemeinschaftserlebnissen und später zu kollektiven Kindheitserinnerungen. „Familie Hesselbach“, „Bonanza“, „Am Fuß der blauen Berge“ und „Zum blauen Bock“. Endlich mal keine Politik. Endlich mal wieder Spaß haben. Und das Wirtschaftswunder mit seinen scheinbar unbegrenzten Möglichkeiten hat sein Übriges dazu beigetragen.
Um Traumen zu verarbeiten, braucht man Abstand. Abscheuliches und Furchtbares braucht seine Zeit, um überhaupt in Worte gefasst zu werden. Die eigene Position kann oftmals erst aus der Ferne richtig erkannt werden. Wer mitten im Geschehen steckt, verfügt nicht über die notwendige Distanz, um zu erkennen, was überhaupt geschieht. Erst wenn einige Zeit verstrichen ist, kann das beginnen, was man als Trauerarbeit bezeichnet. Die kam allerdings nie. Dazu ließ das Fernsehen den Menschen auch nicht genug Zeit. Und die Möglichkeit des Geldverdienens mit seinem Häuslebauen, Ratenzahlungskäufen und Supermärkten nahmen die Menschen dann vollends in Beschlag. Materialismus lässt weder Platz für Gefühle noch zum Nachdenken.
Eigentlich kann man die Nachkriegszeit als „fröhliche Verdrängung“ bezeichnen. Für diejenigen, die in diesem Klima heranwuchsen, war der Krieg etwas, von dem man zwar irgendwie wusste, aber irgendwie auch nicht mehr. Das seltsame Redeverbot wurde niemals hinterfragt.
Verdrängung ist immer das Verschenken einer Chance. Wer verdrängt, macht Weiterentwicklung unmöglich. Verdrängen ermöglicht es, dass sich Tragödien wiederholen. Warum verdrängt man trotzdem? Weil Aufarbeiten anstrengend und mühevoll sein kann. Und Fernsehen und Einkaufen mehr Spaß machen.
Verlorene Paradiese
Meine Freundin hat mir vor kurzem das Buch "Ringel Rangel Rosen" von Kirsten Boie geschenkt. Die Geschichte der dreizehnjährigen Karin spielt zur Zeit der Hamburger Flutkatastrophe 1962. In der Erzählung bekommen mehrere Ebenen Bedeutung – die Gefühlswelt einer 13jährigen, die Zeit der Nachkriegsära, die Flutkatastrophe und das Verdrängen der Zeit des Nationalsozialismus. Die Zeit vor dem großen Luxus des Wirtschaftswunders wird sehr liebevoll beschrieben. Eine einfache Zeit, die noch von einer Überschaubarkeit geprägt war, die man heute nicht mehr kennt.
Ich selbst habe die Flut nicht miterlebt. Unser Dorf war zwar von der Flutkatastrophe betroffen, aber ich war zu dem Zeitpunkt bei meiner Oma in einem anderen Stadtteil. Und dort habe ich in auch in einem der sogenannten „Behelfsheimen“ gelebt, das von der Erzählerin beschrieben wird. Den Ausdruck „Behelfsheim“ habe ich erst viel später im Erwachsenenalter kennengelernt. Dieser Ausdruck bezeichnete in der Nachkriegszeit die Häuser, die man in der Schnelle für die Flüchtlinge aus dem Osten und für die Ausgebombten gebaut hatte. Als Kind hätte er mich sehr verwundet, denn für mich war es ein ganz normales Haus.
Unser „Behelfsheim“ hatte zwei Zimmer, eine Toilette (immerhin schon ein Wasserklo), eine kleine Küche und eine Speisekammer und zwei merkwürdige angebaute Flure. Es gab keine Einbauküche, keine Heizung, sondern außer dem Kohleofen in der Küche nur Elektroöfen und es gab auch kein Bad, sondern nur ein steinernes Waschbecken, das durch einen Vorhang abgetrennt war. Aber es gab einen riesigen Garten mit Kirsch-, Pflaumen und Birnenbäumen und jeder Menge Blumen. Und mein Opa hatte mir eine Schaukel gebaut, die ganz allein mir gehörte. Statt Regentonnen gab es draußen zwei alte Badewannen, in denen ich, wenn es warm genug war, plantschen konnte.
Ich habe weder das Bad vermisst noch das eigene Zimmer. Einmal samstags baden fand ich immer völlig ausreichend und nicht allein schlafen zu müssen, empfand ich – wie die meisten Kinder – nicht als Nachteil. Ich konnte auch als kleines Kind schon unbeaufsichtigt draußen im Garten spielen, da es keine Autos in der Nähe gab. Es gab einen Schuppen und außerdem auch viele Nischen zwischen den Hecken und Büschen, in denen man ungestört spielen konnte.
Es ist immer ein schönes Gefühl, wenn man sich in jemand anderem wiedererkennen kann. So ging es mir beim Lesen des Buchs, als die Autorin beschreibt, dass ihr später bewusst wurde, dass sie im Paradies gelebt hat. Genauso ging es mir auch. Als meine Großeltern in eine „normale“ Wohnung umzogen, fand ich alles ziemlich schick – das Badezimmer, die moderne Küche und die bequeme Zentralheizung. Aber es hatte auch etwas von einem Käfig. Das primitive Behelfsheim war gegen einen bequemen Käfig ausgetauscht worden. Und auch die im Buch beschriebene Sitte, dass alle möglichen Nachbarn immer einfach vorbeikamen, gab es im Mietshaus nicht mehr. In einen angrenzenden Hof oder Garten zu gehen, war anscheinend mit einer geringeren Hemmschwelle belegt, als an einer verschlossenen Tür zu klingeln.
Ich will die damalige Zeit nicht idealisieren, darum geht es mir nicht. Mir geht es vielmehr darum, ein bestimmtes Lebensgefühl zu beschreiben. Ein Lebensgefühl, das dadurch geprägt ist, dass man eigentlich alles hat, was man zum Glück braucht. Das Gefühl des Behütetseins in einer Welt, in der es an nichts mangelt. Ich glaube, dass Kinder noch nicht korrumpierbar sind und sehr genau spüren, worauf es ankommt. In einem Häuschen inmitten eines wunderschönen Gartens – mit dem unglaublichen Luxus einer eigenen Schaukel – braucht man weder ein eigenes Zimmer, noch ein Badezimmer, noch Einbauküche oder Zentralheizung. Damit kann man Erwachsene ködern – Kindern nicht. Und irgendwann tauscht man dennoch all das ein gegen Bequemlichkeit. Und spätestens dann weiß man, dass man im Paradies gelebt hat.
Ich würde sofort wieder in ein Behelfsheim ziehen, wenn es denn eines geben würde. Meinetwegen auch mit Plumpsklo.
Als meine Freundin das Buch gelesen hat, wusste sie sofort, dass das genau das Richtige für mich ist. Schön, dass es Menschen gibt, die einen so gut kennen.