Verlorene Paradiese
Meine Freundin hat mir vor kurzem das Buch "Ringel Rangel Rosen" von Kirsten Boie geschenkt. Die Geschichte der dreizehnjährigen Karin spielt zur Zeit der Hamburger Flutkatastrophe 1962. In der Erzählung bekommen mehrere Ebenen Bedeutung – die Gefühlswelt einer 13jährigen, die Zeit der Nachkriegsära, die Flutkatastrophe und das Verdrängen der Zeit des Nationalsozialismus. Die Zeit vor dem großen Luxus des Wirtschaftswunders wird sehr liebevoll beschrieben. Eine einfache Zeit, die noch von einer Überschaubarkeit geprägt war, die man heute nicht mehr kennt.

Ich selbst habe die Flut nicht miterlebt. Unser Dorf war zwar von der Flutkatastrophe betroffen, aber ich war zu dem Zeitpunkt bei meiner Oma in einem anderen Stadtteil. Und dort habe ich in auch in einem der sogenannten „Behelfsheimen“ gelebt, das von der Erzählerin beschrieben wird. Den Ausdruck „Behelfsheim“ habe ich erst viel später im Erwachsenenalter kennengelernt. Dieser Ausdruck bezeichnete in der Nachkriegszeit die Häuser, die man in der Schnelle für die Flüchtlinge aus dem Osten und für die Ausgebombten gebaut hatte. Als Kind hätte er mich sehr verwundet, denn für mich war es ein ganz normales Haus.

Unser „Behelfsheim“ hatte zwei Zimmer, eine Toilette (immerhin schon ein Wasserklo), eine kleine Küche und eine Speisekammer und zwei merkwürdige angebaute Flure. Es gab keine Einbauküche, keine Heizung, sondern außer dem Kohleofen in der Küche nur Elektroöfen und es gab auch kein Bad, sondern nur ein steinernes Waschbecken, das durch einen Vorhang abgetrennt war. Aber es gab einen riesigen Garten mit Kirsch-, Pflaumen und Birnenbäumen und jeder Menge Blumen. Und mein Opa hatte mir eine Schaukel gebaut, die ganz allein mir gehörte. Statt Regentonnen gab es draußen zwei alte Badewannen, in denen ich, wenn es warm genug war, plantschen konnte.

Ich habe weder das Bad vermisst noch das eigene Zimmer. Einmal samstags baden fand ich immer völlig ausreichend und nicht allein schlafen zu müssen, empfand ich – wie die meisten Kinder – nicht als Nachteil. Ich konnte auch als kleines Kind schon unbeaufsichtigt draußen im Garten spielen, da es keine Autos in der Nähe gab. Es gab einen Schuppen und außerdem auch viele Nischen zwischen den Hecken und Büschen, in denen man ungestört spielen konnte.

Es ist immer ein schönes Gefühl, wenn man sich in jemand anderem wiedererkennen kann. So ging es mir beim Lesen des Buchs, als die Autorin beschreibt, dass ihr später bewusst wurde, dass sie im Paradies gelebt hat. Genauso ging es mir auch. Als meine Großeltern in eine „normale“ Wohnung umzogen, fand ich alles ziemlich schick – das Badezimmer, die moderne Küche und die bequeme Zentralheizung. Aber es hatte auch etwas von einem Käfig. Das primitive Behelfsheim war gegen einen bequemen Käfig ausgetauscht worden. Und auch die im Buch beschriebene Sitte, dass alle möglichen Nachbarn immer einfach vorbeikamen, gab es im Mietshaus nicht mehr. In einen angrenzenden Hof oder Garten zu gehen, war anscheinend mit einer geringeren Hemmschwelle belegt, als an einer verschlossenen Tür zu klingeln.

Ich will die damalige Zeit nicht idealisieren, darum geht es mir nicht. Mir geht es vielmehr darum, ein bestimmtes Lebensgefühl zu beschreiben. Ein Lebensgefühl, das dadurch geprägt ist, dass man eigentlich alles hat, was man zum Glück braucht. Das Gefühl des Behütetseins in einer Welt, in der es an nichts mangelt. Ich glaube, dass Kinder noch nicht korrumpierbar sind und sehr genau spüren, worauf es ankommt. In einem Häuschen inmitten eines wunderschönen Gartens – mit dem unglaublichen Luxus einer eigenen Schaukel – braucht man weder ein eigenes Zimmer, noch ein Badezimmer, noch Einbauküche oder Zentralheizung. Damit kann man Erwachsene ködern – Kindern nicht. Und irgendwann tauscht man dennoch all das ein gegen Bequemlichkeit. Und spätestens dann weiß man, dass man im Paradies gelebt hat.

Ich würde sofort wieder in ein Behelfsheim ziehen, wenn es denn eines geben würde. Meinetwegen auch mit Plumpsklo.

Als meine Freundin das Buch gelesen hat, wusste sie sofort, dass das genau das Richtige für mich ist. Schön, dass es Menschen gibt, die einen so gut kennen.




Herzlichen Dank für diesen Einblick, der auch in mir nostalgische Gefühle weckt. Es stimmt, weder Komfort noch Besitz können solche Gefühle in einem Memschen, insbesondere in einem Kind erzeugen. Es sind die Birnbäume und Schaukeln, das Gefühl des Zuhauseseins, der Sonnenglanz im hohen Gras, die solche Gefühle wecken. Mich erinnerte das an Nachmittage, an denen ich auf sonnenwarmen Pflastersteinen saß und mit den Resten von roten Ziegelsteinen auf der Straße malte. Oder mit den bloßen Händen tiefe Löcher in Sandhaufen buddelte, die in ihrem inneren immer kühler wurden, und mich freute, wenn ich auf der anderen Seite herauskam oder in der Mitte jemanden traf, der mir entgegengrub. An die kleinen dicken Sträuße aus Gänseblümchen, die meine Mutter in Schnapsgläser stellte und die Gänge, die wir im hohen Gras der benachbarten Wiese anlegten wie einen Hamsterbau.

Es braucht für solche Erinnerungen in der Tat kein teures, lerngerechtes Spielzeug, keine optimalen pädagogischen Bedingungen, keinen Luxus. Danke für die schöne Schilderung.

Als ich das schrieb, musste ich übrigens auch an die Fotos in Deinem Blog denken – die Bank in der Sonne, die Blumen. Und obwohl das ja alles viel Arbeit macht und alles andere als bequem ist (Stichwort Giersch!) hast Du Dir das gewählt. Ich glaube, das ist ein Tribut an das Kind, dass jeder immer noch in sich trägt, und das keine Lust auf einen Käfig hat.

Allerdings muss ich auch anfügen, dass es für die Wenigsten die Möglichkeit gibt, so zu leben. Ich musste beispielsweise im Rahmen meiner Arbeit ein wunderschönes „Behelfsheim“ (sah aus wie ein keines Hexenhäuschen) aus einem Kleingartenverein abreißen lassen, was mir in der Seele weh tat. Früher konnte man immer noch irgendwo ein kleines Häuschen finden, das ist jetzt vorbei.

Mir fallen übrigens auch die Kinder in Asien ein, die auf dem Land leben. Da ich manchmal auch privat bei Einheimischen gewohnt habe, hatte ich Einblick in das Familienleben. Ganz oft schliefen mehrere Kinder gemeinsam in einem Bett. Was aber offensichtlich für die Kinder überhaupt kein Problem darstellte, da sich alle aneinander gekuschelt haben. Und etwas scheint allen Kindern der Welt gemeinsam zu sein – die Liebe zum Wasser. In Asien ist es ein beliebtes Kinderspiel, in Bäume zu klettern, die an einem Fluss stehen und dann von möglichst weit oben ins Wasser zu springen. Kinder können auch ohne „Erlebnisbad“ sehr erfinderisch sein.

Ürigens eine schönes Foto, das auch aus der Kindheit stammen könnte habe ich gestern hier http://damals.blogger.de gesehen (ein richtiger Charakterweg)

Oh ja, eine solche "Holperstraße" führte auch durch den Ort, in dem ich meine Kindheit verbracht habe. Oben auf dem Hügelkamm sieht es noch immer so aus: Kopfsteinpflaster, Radfahren ist nur auf den sandigen Seitenstreifen möglich, aber Autoreifen machen ein Geräusch auf diesem Untergrund, das aus irgendeinem Grund für mich mit Wohlbehagen verbunden ist. Die Fassaden der Häuser sind zum Teil nicht einmal an der Straße ausgerichtet, sondern stehen noch so, wie sie einmal zu den Gehöften gehört haben. Dazwischen winzige Gänge, durch die kaum eine Person passt, zumindest aber ein Regenrohr.

Der Garten, ja... Macht höllisch viel Arbeit, aber dennoch wollte ich nicht tauschen. Leider ist etwas verschwunden, das ich sehr vermissen werde: Wir hatten nach hinten einen herrlichen Ausblick über die zum Fluss hin abfallenden Felder, und das gefiel mir besonders gut im Sommer, wenn das Korn richtig hoch stand. Das gibt es jetzt nicht mehr, der Acker ist einem Neubaugebiet gewichen und der Blick geht jetzt auf ein durchstrukturiertes Wohnviertel (wie in einem amerikanischen Vorort - wenngleich mein Herr Gemahl meint, ich sehe das etwas eng...) und Gärten wie aus "Schöner Wohnen" (Rollrasen und Zierfiguren). Tja, bleibt nur noch, sich die eigene zur Verfügung stehende Fläche entsprechend zu gestalten.