Schlampe – Renaissance eines Schimpfwortes
Die Bezeichnung Schlampe ist kein neues Schimpfwort, sondern existiert schon lange und wurde sogar schon im Wörterbuch Jakob Grimms aufgeführt. Allerdings war die Bezeichnung Schlampe jahrzehntelang fast gänzlich vom Erdbogen verschwunden. Doch seit einigen Jahren ist der Begriff Schlampe plötzlich wieder aufgetaucht. Woran mag dies liegen? Was ist passiert? Gab es möglicherweise eine Phase, in der es einfach keine Frauen gab, die die dem Begriff Schlampe zugeordneten Charakteristika erfüllen? War die Zeit der 60er bis Anfang der 90er eine Zeit, in der man diesen Typus nirgendwo antraf? Und wieso tauchte dieser Typus dann plötzlich doch wieder auf?
Natürlich liegt der Grund für die Renaissance des Schimpfworts Schlampe nicht in dem Verschwinden und Wiederauftauchen desjenigen Frauentypus, für die manche diesen Begriff als passend ansehen. Vielmehr handelt es sich um ein Wiederauftauchen des Männertyps, für den es unverzichtbar ist, Frauen zu beleidigen. Genauer gesagt, nicht irgendwelche Frauen – sondern eben die, die es „verdienen“. Was sind das denn nun eigentlich für Frauen, aufgrund derer man dieses antiquierte Schimpfwort wieder reanimiert hat?
Um dies zu erklären, gehen wir einfach mal zurück in die Zeit, in der die Bezeichnung Schlampe noch zum normalen Vokabular gehörte. Schlampen – so hat man früher Frauen bezeichnet, denen bestimmte, für Frauen unverzichtbare Eigenschaften fehlten. Ordentlich, sittsam, bescheiden, anständig, gehorsam, strebsam – so und nicht anders hatten Frauen zu sein. Dies wäre bestimmt auch heute noch die Rollenvorschrift, wenn nicht irgendwann die Idee der Gleichheit und Selbstbestimmung erwacht wäre. Irgendwann wurde das enge Korsett der Selbstverleugnung von den Frauen gesprengt und der Raum für Selbstentfaltung eingefordert. Das wurde nicht in den Schoß gelegt, sondern war mit vielen Kämpfen und auch mit vielen Rückschlägen verbunden. Aber es hat sich gelohnt.
Ein Schimpfwort ist immer auch ein soziologisches Merkmal. Es sagt etwas darüber aus, welche Rollenerwartungen in einer Gesellschaft vorherrschen und welche Machtverhältnisse. Und ein Schimpfwort sagt sehr viel über das Weltbild desjenigen aus, der es benutzt. Ein Weltbild, das in ein striktes Unten und Oben eingeteilt wird und dabei das Unten den anderen zuweist.
Schlampe – damit ist nicht jede Frau gemeint, sondern nur diejenige, die sich das Recht herausnimmt, frei und selbstbestimmt zu leben und die sich keinem männlichen Rollendiktat beugen will. Bezeichnend ist, dass es kein männliches Pendant zu diesem Ausdruck gibt. Ein Mann, der nicht ordentlich, sittsam, bescheiden, anständig, gehorsam und strebsam ist, kann in der Gesellschaft durchaus anerkannt sein (wobei er dazu allerdings meist einer Frau bedarf, die über eben diese Attribute verfügt).
Die Analogie zum Rassismus ist eigentlich unübersehbar. Die Verachtung gegenüber Menschen anderer Hautfarbe drückt sich darin aus, dass man diesen Menschen nicht die gleichen Rechte zugesteht und nur dann duldet, wenn sie die weiße Vorherrschaft anerkennen. Solange Schwarze ohne zu Murren unterbezahlte schwere Arbeiten verrichten oder Weißen als Bedienstete zur Verfügung stehen, haben sie auch ein Existenzrecht. Erst wenn daran gerüttelt wird und gleiche Rechte eingefordert werden, werden sie zur Bedrohung, die bekämpft werden muss.
Aber genau die Analogie zum Rassismus macht eines deutlich: wer einen Schwarzen als Nigger bezeichnet, beleidigt damit ausnahmslos alle Schwarzen. Und jemand, der eine Frau als Schlampe bezeichnet, meint damit ausnahmslos alle Frauen. Alles andere ist Augenwischerei.
Und das scheint bei denjenigen Männern, die Frauen als Schlampen bezeichnen, nicht viel anders zu sein. Die Frau, die sich unterordnet und eigene Bedürfnisse verleugnet, ist keine Bedrohung. Die Bedrohung geht von den anderen Frauen aus. Von all den Frauen, die selbstbestimmt leben wollen und die sich ihre Bedürfnisse nicht vorschreiben lassen. Für die Freiheit unverzichtbar ist und über die man nicht bestimmen kann. Die widersprechen und eigene Entscheidungen fällen.
Was mag passiert sein, dass der mühsam erkämpfte Respekt wieder verschwunden ist? Dass man Frauen wieder unterteilt in jene, die Respekt verdienen und jene, die man beleidigen darf?
Eine Lesepause von 19 Jahren
Vor Kurzem habe ich in nur zwei Tagen das Buch „Muscheln in meiner Hand“von Anne Morrow Lindbergh gelesen. Eigentlich nicht das ganze Buch, sondern nur die zweite Hälfte. Die erste Hälfte habe ich vor 19 (!) Jahren gelesen und das Lesezeichen steckte immer noch im Buch.
Und ich frage mich natürlich, wieso ich das Buch vor 19 Jahren nicht interessant genug zum Weiterlesen fand, aber jetzt das Buch gar nicht aus der Hand legen konnte und auch den ersten Teil gleich nochmals las.
Die Antwort liegt auf der Hand - nicht alles passt zu jeder Zeit. Der Abschnitt, an dem ich zu lesen aufgehört hatte, handelte bezeichnenderweise von einer Reflexion über den Lebensabschnitt, der ab 50 folgt. Das war mir anscheinend im Alter von 32 Jahren nicht spannend genug. Jetzt schon. Aber das Hauptthema des Buches ist nicht das Alter, sondern Beziehung. Und die wird von Anne Morrow Lindbergh in einer sehr poetischen Weise beschrieben, wofür sie sich für einige Tage bewusst von allen Menschen zurückzog, um auf einer kleinen Insel für sich allein zu sein.
Beziehungen und Lebensphasen werden von Anne Morrow Lindbergh mit den Formen verschiedener Muscheln verglichen. Wellhornschnecke, Mondmuschel, Austern und Argonauta werden zu Symbolen für die verschiedenen Phasen des Daseins. Es geht um Alleinsein, um Zweisamkeit, um die Fürsorge für andere, um Freiheit, um den Prozess des Loslassens und des Alterns.
„Wir verlangen Beständigkeit, Haltbarkeit und Fortdauer; und die einzig mögliche Fortdauer des Lebens wie der Liebe liegt im Wachstum, im täglichen Auf und Ab – in der Freiheit; einer Freiheit im Sinne von Tänzern, die sich kaum berühren und doch Partner in der gleichen Bewegung sind.“
Und Anne Morrow Lindbergh liebt genau wie ich Rilke, der wie kein anderer versteht, Gefühle in Bilder zu kleiden. Bilder, die nicht immer leicht zu verstehen sind, aber die die menschliche Tiefe zum Ausdruck bringen. Und das ist es wohl, was mich an dem Buch so gefesselt hat – die Tiefgründigkeit und der Respekt, mit dem von menschlichen Gefühlen gesprochen wird. In einer Zeit, in der das Banale und das Grobe Hochkonjunktur hat und es schon fast verpönt ist, sich respektvoll und behutsam mit etwas zu beschäftigen, kommt mir diese kleine Buch wie ein Juwel vor. Vielleicht war ich vor 19 Jahren noch nicht so übersättigt vom Banalen und Groben, wie es mittlerweile der Fall ist. Und vielleicht habe ich das Buch damals noch nicht so gebraucht wie jetzt, weil in meinen damaligen Lebenszusammenhängen eine differenzierte und anspruchsvolle Auseinandersetzung mit der Thematik noch selbstverständlich war. Wie dem auch sei – anscheinend war die 19jährige Lesepause gut so.
Zum Abschluss nochmals Rilke, wie er im Buch zitiert wird:
„Ein Miteinander zweier Menschen ist eine Unmöglichkeit und, wo es doch vorhanden scheint, eine Beschränkung, eine geistige Übereinkunft, welchen einen Teil oder beide Teile ihrer vollsten Freiheit und Entwicklung beraubt. Aber das Bewusstsein vorausgesetzt, dass auch zwischen den nächsten Menschen unendliche Fernen bestehen bleiben, kann ihnen ein wundervolles Nebeneinanderwohnen erwachsen, wenn es ihnen gelingt, die Weite zwischen sich zu lieben, die ihnen die Möglichkeit gibt, einander immer in ganzer Gestalt und vor einem großen Himmel zu sehen!“
Sehnsucht
Alles beginnt mit der Sehnsucht, immer ist im Herzen Raum für mehr, für Schöneres, für Größeres.
Nelly Sachs (1891 – 1970)
Dieses Zitat stellt das Thema eines Seminars ignatianischer Exerzitien dar, in dem es darum geht, dem je eigenen Lebensweg nachzuspüren.
Und ich denke ein wenig über den Begriff Sehnsucht nach:
Leidet man eigentlich an Sehnsucht? Oder bezieht man aus der Sehnsucht Stärke?
Was passiert eigentlich mit nicht erfüllter Sehnsucht? Und was mit erfüllter?
Was folgt auf eine erfüllte Sehnsucht? Glück oder Gewöhnung?
Bedeutet erfüllte Sehnsucht Stillstand?
Ist die Sehnsucht immer etwas Ursprüngliches oder kann Sehnsucht auch nur ein fader Ersatz für etwas anderes sein?
Beginnt mit der Sehnsucht tatsächlich immer etwas Schöneres und Größeres? Kann Sehnsucht nicht auch etwas Hässlicheres und etwas Kleineres hervorbringen?
Haben individuelle und kollektive Sehnsucht die gleichen Wurzeln?
behrens am 16. Oktober 10
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