Eine Lesepause von 19 Jahren
Vor Kurzem habe ich in nur zwei Tagen das Buch „Muscheln in meiner Hand“von Anne Morrow Lindbergh gelesen. Eigentlich nicht das ganze Buch, sondern nur die zweite Hälfte. Die erste Hälfte habe ich vor 19 (!) Jahren gelesen und das Lesezeichen steckte immer noch im Buch.

Und ich frage mich natürlich, wieso ich das Buch vor 19 Jahren nicht interessant genug zum Weiterlesen fand, aber jetzt das Buch gar nicht aus der Hand legen konnte und auch den ersten Teil gleich nochmals las.

Die Antwort liegt auf der Hand - nicht alles passt zu jeder Zeit. Der Abschnitt, an dem ich zu lesen aufgehört hatte, handelte bezeichnenderweise von einer Reflexion über den Lebensabschnitt, der ab 50 folgt. Das war mir anscheinend im Alter von 32 Jahren nicht spannend genug. Jetzt schon. Aber das Hauptthema des Buches ist nicht das Alter, sondern Beziehung. Und die wird von Anne Morrow Lindbergh in einer sehr poetischen Weise beschrieben, wofür sie sich für einige Tage bewusst von allen Menschen zurückzog, um auf einer kleinen Insel für sich allein zu sein.

Beziehungen und Lebensphasen werden von Anne Morrow Lindbergh mit den Formen verschiedener Muscheln verglichen. Wellhornschnecke, Mondmuschel, Austern und Argonauta werden zu Symbolen für die verschiedenen Phasen des Daseins. Es geht um Alleinsein, um Zweisamkeit, um die Fürsorge für andere, um Freiheit, um den Prozess des Loslassens und des Alterns.

Wir verlangen Beständigkeit, Haltbarkeit und Fortdauer; und die einzig mögliche Fortdauer des Lebens wie der Liebe liegt im Wachstum, im täglichen Auf und Ab – in der Freiheit; einer Freiheit im Sinne von Tänzern, die sich kaum berühren und doch Partner in der gleichen Bewegung sind.

Und Anne Morrow Lindbergh liebt genau wie ich Rilke, der wie kein anderer versteht, Gefühle in Bilder zu kleiden. Bilder, die nicht immer leicht zu verstehen sind, aber die die menschliche Tiefe zum Ausdruck bringen. Und das ist es wohl, was mich an dem Buch so gefesselt hat – die Tiefgründigkeit und der Respekt, mit dem von menschlichen Gefühlen gesprochen wird. In einer Zeit, in der das Banale und das Grobe Hochkonjunktur hat und es schon fast verpönt ist, sich respektvoll und behutsam mit etwas zu beschäftigen, kommt mir diese kleine Buch wie ein Juwel vor. Vielleicht war ich vor 19 Jahren noch nicht so übersättigt vom Banalen und Groben, wie es mittlerweile der Fall ist. Und vielleicht habe ich das Buch damals noch nicht so gebraucht wie jetzt, weil in meinen damaligen Lebenszusammenhängen eine differenzierte und anspruchsvolle Auseinandersetzung mit der Thematik noch selbstverständlich war. Wie dem auch sei – anscheinend war die 19jährige Lesepause gut so.

Zum Abschluss nochmals Rilke, wie er im Buch zitiert wird:

Ein Miteinander zweier Menschen ist eine Unmöglichkeit und, wo es doch vorhanden scheint, eine Beschränkung, eine geistige Übereinkunft, welchen einen Teil oder beide Teile ihrer vollsten Freiheit und Entwicklung beraubt. Aber das Bewusstsein vorausgesetzt, dass auch zwischen den nächsten Menschen unendliche Fernen bestehen bleiben, kann ihnen ein wundervolles Nebeneinanderwohnen erwachsen, wenn es ihnen gelingt, die Weite zwischen sich zu lieben, die ihnen die Möglichkeit gibt, einander immer in ganzer Gestalt und vor einem großen Himmel zu sehen!




Danke für diesen wunderbaren Tip. Ich werde mir das Buch besorgen und es mal lesen....wahrscheinlich in einem Rutsch.

Störe Dich nicht daran, dass das Buch in den 50ern geschrieben wurde und zeitweilig auch die Rolle der Frau in der betreffenden Zeit problematisiert. Wenn man sich vor Augen hält, dass zwar heute die Rollenfestschreibung nicht mehr so starr ist, aber stattdessen viele Frauen Schwierigkeiten haben, den Spagat zwischen Beruf und Kindererziehung zu meistern, dann hat die Problematik wieder Aktualität. Und alles, was das Thema Zweisamkeit, Beziehung und Lebensphasen betrifft, ist überwältigend aktuell.

ich bin echt gespannt....