"We gotta get out of this place. If it's the last thing we ever do, Girl, there's a better life for me and you, Somewhere baby, somehow I know it".
Eric Burdon
Überlege, ob es Zufall war, dass ich dieses Lied vor zwei Tagen das erste Mal gehört habe. Es soll aber ja angeblich keine Zufälle geben und vielleicht passt die Botschaft genau jetzt an diesem Punkt. "This place, where the sun refuses to shine" - vielleicht ist jetzt die letzte Möglichkeit, sich vom Feld zu machen. Vielleicht sollte man genau dieses Feld denen überlassen, die dort hingehören?
Musik ist auch immer ein Stück Zeitgeschichte. Heute habe ich eine Zeitreise gemacht. Ich war gerade auf dem Classic Rock Festival. Roger Chapman, Jethro Tull, Eric Burdon, The Australian Pink Floyd Show. Eigentlich auch Ten Years After, aber da wir zu spät kamen, haben wir die zu unserem großen Bedauern verpasst.
Und endlich einmal Musik, die mir gefällt. Kein Bushido, der von Schlampen und Nutten singt, kein Mehrzad Marashi und auch kein Mark Medlock.
Früher entstanden Bands dadurch, dass sich Musiker zusammentaten, weil sie Lust auf Musik hatten. War die Musik gut, dann wurde die Gruppe irgendwann berühmt. War sie schlecht, dann wurde sie's nicht. Die Zuhörer haben dies entschieden. Manager und Agenten kamen erst dann hinzu, wenn sich die Gruppe schon hochgespielt hatte. Begonnen hat alles meist in ungeheizten, schmuddeligen Übungskellern und in winzigen Pubs. Mit anderen Worten – es lief genau umgekehrt wie heute. Heute werden irgendwelche x-beliebigen Menschen gecastet und wenn sich jemand als vielversprechend in Bezug auf den Geschmack der Masse erweist, dann wird er hochgepusht. Und irgendwann verschwindet er oder sie wieder in der Versenkung.
Roger Chapmans „Shadow on the wall“ und "16 tonns", Jethro Tulls „Locomotive Breath“ und Eric Burdons "We gotta get out of this place ( If it's the last thing we ever do, Girl, there's a better life for me and you, Somewhere baby, somehow I know it). Alles schon Rockgeschichte. Ian Andersons Querflötensoli und dann tatsächlich ein, nein sogar zwei Schlagzeugsoli. Und besonderer Ohrenschmaus das Solo der Sängerin der Australian Pink Floyd Show in "Great Gig in the sky". Gesangssolo? Jawohl so etwas gibt es (oder vielmehr gab es)! Wer sich daunter nichts vorstellen kann - unbedingt anhören:
Ich war nicht nur auf die Gruppen gespannt, sondern auch auf die Besucher. Und tatsächlich – jede Menge Leute meines Alters. Ein völlig ungewöhnlich und nahezu unbekanntes Gefühl. Nicht das es keine anderen 50jährigen geben würde – natürlich gibt es davon jede Menge. Aber die aus meinem Umfeld gehen nicht auf solche Konzerte, sondern interessieren sich hauptsächlich für Geldanlagen, Alterssicherung, neue Möbel und für die Frage, wie man es schafft, überall einen guten Eindruck zu machen.
Mein Bild hat sich ein wenig zurechtgerückt. Und das Festival war einfach nur gut. Zu sehen, dass manche Musiker mit dem Alter sogar noch besser werden. Eric Burdons Stimme hat mir schon immer eine Gänsehaut bereitet, aber er ist live einfach noch besser und seine Stimme ist noch stärker geworden. Leider keine Zugabe, ich hätte sooo gern noch „Tobacco Road“ oder „Paint it black“ gehört. Natürlich bin ich tieftraurig, dass ich Ten Years After verpasst habe – auf den Gleisen in Richtung Hamburger City hat es gebrannt und so verzögerte sich alles.
Ich habe jetzt ein leises Pfeifen in den Ohren – ich stand ganz vorne neben den Boxen – und meine Füße schmerzen (7 Stunden stehen). Was ich von diesem Tag sonst noch mitnehme, ist die Erkenntnis, dass der Ausspruch J.D.Salingers „Erwachsenwerden ist Verrat am Selbst“ doch nicht auf alle Menschen zutrifft. Die Menschen, die ich da auf der Bühne gesehen habe, haben ihr Selbst nie verraten. Sie sind authentisch und nicht nur das, sie lassen andere von ihrer Authentizität profitieren. Und die vielen Menschen, die anscheinend die Musik genauso wie ich genossen haben, wirkten auch nicht wie „Selbstverräter“.
Manche Musik tut gut. In guter Gesellschaft sogar noch mehr. Eigentlich ein perfekter Abend. Es gibt doch nicht nur Unangenehmes. Und es gibt uns noch.
Vor vielen Jahren habe ich Wolfgang Borcherts „Draußen vor der Tür“ im Fernsehen als Theateraufführung gesehen. Gestern habe ich die Erzählung gelesen. Ich war auf der Suche nach dem Begriff des „Seelenfriedens“, den der Protagonist Beckmann vergeblich sucht. In der Erzählung allerdings wurde dieser Ausdruck nicht verwendet, sondern der Ausdruck der „Seelenruhe“. Nun ja, Ruhe und Frieden liegen ja nicht weit auseinander.
Mich hat damals bei dem Theaterstück das tiefe Schuldgefühl Beckmanns beeindruckt. Weder dumpfe Gleichgültigkeit gegenüber den Opfern, noch blinder Hass auf jene, durch deren Befehle er schuldig wurde. Ein tiefes Gefühl der Schuld, das durch nichts und durch niemanden weichen will.
Ich frage mich, ob es überhaupt noch so etwas wie Schuldgefühle gibt. Ich frage mich dies deswegen, weil ich in letzter Zeit viel über Gotteskrieger gelesen habe. Und ich sehe die Gotteskrieger vor mir, denen nicht nur jegliches Schuldgefühl fremd ist, sondern die beim Töten genau das Gegenteil fühlen – nämlich euphorischen Stolz.
Es klafft ein riesiger Abgrund zwischen den Gotteskriegern, die ihre Massaker als glorreiche Heldentaten feiern – bzw. im Falle von Selbstmordattentaten von ihren Angehörigen als Helden gefeiert werden – und denjenigen Menschen, die sich ihr ganzes Leben lang mit Selbstvorwürfen quälen, weil sie getötet haben. Dem Gotteskrieger winkt nach dem Töten das Paradies mit ewigen Jungfrauen und Flüssen von Wein. Dem Schuldigen winkt die ewige Gewissensqual und die ewige Insomnie.
In Borcherts Erzählung kann der Protagonist nicht mehr schlafen, weil er nachts die klagenden Stimmen der Mütter, Ehefrauen und Kinder der Getöteten hört. All jene, die ihn nach ihren Söhnen, Brüdern und Männern fragen. Gotteskrieger haben keine Schlafstörungen. Bei Gotteskriegern ist das Töten ins Gegenteil verkehrt – es wird zum Lebenselixier, das das Leben erst wertvoll macht. Der Seelenfrieden, der in Borcherts Erzählung durch das Töten verschwunden ist, wird für den Gotteskrieger durch das Töten erst möglich.
Es wird immer Gründe geben, aus denen heraus Menschen töten. Motive privater, materieller, nationaler, religiöser oder politischer Art. Töten als Mittel zum Zweck, um das, was man hasst, zu vernichten oder um das, was man will, zu bekommen. Aber Töten als Eintrittskarte in das Paradies ist eine Perversion menschlichen Denkens. Töten um des Töten willens, weil Töten etwas so Glorreiches und Gutes ist, das es nur mit dem Paradies als Allerhöchstem belohnt werden kann – das ist eine Philosophie, die an Grauenhaftigkeit kaum zu überbieten ist.
Und deswegen habe ich gestern „Draußen vor der Tür gelesen“. Ich wollte etwas über einen Menschen lesen, der noch fähig ist, an Schuld zu leiden. Vielleicht wollte ich auch einfach nur etwas über einen Menschen lesen. Und während ich es las, habe ich das erste Mal wirklich begriffen, was der Ausdruck „leidensfähig“ beinhaltet.