Töten, Seelenfrieden und Gotteskrieger
Vor vielen Jahren habe ich Wolfgang Borcherts „Draußen vor der Tür“ im Fernsehen als Theateraufführung gesehen. Gestern habe ich die Erzählung gelesen. Ich war auf der Suche nach dem Begriff des „Seelenfriedens“, den der Protagonist Beckmann vergeblich sucht. In der Erzählung allerdings wurde dieser Ausdruck nicht verwendet, sondern der Ausdruck der „Seelenruhe“. Nun ja, Ruhe und Frieden liegen ja nicht weit auseinander.

Mich hat damals bei dem Theaterstück das tiefe Schuldgefühl Beckmanns beeindruckt. Weder dumpfe Gleichgültigkeit gegenüber den Opfern, noch blinder Hass auf jene, durch deren Befehle er schuldig wurde. Ein tiefes Gefühl der Schuld, das durch nichts und durch niemanden weichen will.

Ich frage mich, ob es überhaupt noch so etwas wie Schuldgefühle gibt. Ich frage mich dies deswegen, weil ich in letzter Zeit viel über Gotteskrieger gelesen habe. Und ich sehe die Gotteskrieger vor mir, denen nicht nur jegliches Schuldgefühl fremd ist, sondern die beim Töten genau das Gegenteil fühlen – nämlich euphorischen Stolz.

Es klafft ein riesiger Abgrund zwischen den Gotteskriegern, die ihre Massaker als glorreiche Heldentaten feiern – bzw. im Falle von Selbstmordattentaten von ihren Angehörigen als Helden gefeiert werden – und denjenigen Menschen, die sich ihr ganzes Leben lang mit Selbstvorwürfen quälen, weil sie getötet haben. Dem Gotteskrieger winkt nach dem Töten das Paradies mit ewigen Jungfrauen und Flüssen von Wein. Dem Schuldigen winkt die ewige Gewissensqual und die ewige Insomnie.

In Borcherts Erzählung kann der Protagonist nicht mehr schlafen, weil er nachts die klagenden Stimmen der Mütter, Ehefrauen und Kinder der Getöteten hört. All jene, die ihn nach ihren Söhnen, Brüdern und Männern fragen. Gotteskrieger haben keine Schlafstörungen. Bei Gotteskriegern ist das Töten ins Gegenteil verkehrt – es wird zum Lebenselixier, das das Leben erst wertvoll macht. Der Seelenfrieden, der in Borcherts Erzählung durch das Töten verschwunden ist, wird für den Gotteskrieger durch das Töten erst möglich.

Es wird immer Gründe geben, aus denen heraus Menschen töten. Motive privater, materieller, nationaler, religiöser oder politischer Art. Töten als Mittel zum Zweck, um das, was man hasst, zu vernichten oder um das, was man will, zu bekommen. Aber Töten als Eintrittskarte in das Paradies ist eine Perversion menschlichen Denkens. Töten um des Töten willens, weil Töten etwas so Glorreiches und Gutes ist, das es nur mit dem Paradies als Allerhöchstem belohnt werden kann – das ist eine Philosophie, die an Grauenhaftigkeit kaum zu überbieten ist.

Und deswegen habe ich gestern „Draußen vor der Tür gelesen“. Ich wollte etwas über einen Menschen lesen, der noch fähig ist, an Schuld zu leiden. Vielleicht wollte ich auch einfach nur etwas über einen Menschen lesen. Und während ich es las, habe ich das erste Mal wirklich begriffen, was der Ausdruck „leidensfähig“ beinhaltet.




Ich denke schon, dass es sie gibt, die Schuldgefühle. Es gibt eine systematische Verrohung, die an all jenen praktiziert wird, die zum Zwecke des Tötens ausgebildet und in fremde Länder geschickt werden. Nicht umsonst bedient sich so manche Armee bei der Rekrutierung am liebsten an jungen, perspektivlosen Männern: Sie sind leicht zu beeinflussen, es gibt ein Vakuum zu füllen, und sie lassen sich verrohen, weil nichts und niemand sie hält.

Bemerkenswerterweise fragt aber niemand nach den Rückkehrern der Kriege. Sie sind Täter, deren Taten rechtlich legitimiert sind durch diejenigen, die sie schickten. Aber moralisch-psychisch legitimiert sind sie nicht, und wir wissen nicht, ob all diese jungen Rückkehrer, die das zweifelhafte Glück hatten, nicht in einem Sarg nach hause getragen zu werden, nicht auch nachts schlaflos daliegen und im Grunde ihrer Herzen wissen, dass sie etwas getan haben, das irreversibel und unglaublich grausam und unmenschlich ist.

Das Vakuum stellt sich bei den "Gotteskriegern" ganz ähnlich dar. Es bedarf einer gewissen Halt- und Bindungslosigkeit, um ohne weiteres bereit zu sein, sich in Kämpfe mit eindeutig ungutem Ausgang zu stürzen. Diese Bindungslosigkeit mag es sein, die das zumindest vordergründige Fehlen von Schuldgefühlen (und also Mitgefühl) erklärt. Um es auf eine platte, ein wenig polemische Formel zu bringen: "Mich hat keiner lieb, warum also sollte ich jemanden lieb haben?" Mitgefühl entsteht dann, wenn das Leiden (und auch die Freude übrigens) tief genug in einen Menschen eindringen kann, dass er spürt, was es bedeutet. Bei so vielen Menschen endet die Wahrnehmung direkt nach dem reinen Sehen - das Gesehene wird nicht hereingelassen. Es wäre zu gefährlich und würde den verletzbaren Kern, von dem ich glaube, dass ihn jeder einzelne Mensch hat, berühren.

Töten kann nichts Glorreiches und Gutes sein, aber Töten bedeutet, Herrschaft und Macht über das Leben und Sterben anderer Menschen auszuüben. Wer daraus ein Gefühl der Euphorie und des Glücks ziehen kann, der kennt die eigene Ohnmacht, ist aber nicht in der Lage, sie anderweitig zu bearbeiten.

Sprachlosigkeit
Die Rückkehrer aus den beiden Weltkriegen haben sich in ein merkwürdiges Stillschweigen gehüllt. Mal abgesehen von denen, die das Ganze als ein großes Abenteuer schildern, haben die meisten die Folgen still mit sich selbst abgemacht. Borchert hat da ein Tabu gebrochen. Man kann aber nur spekulieren, ob es viele wie ihn gab oder ob er eine Ausnahme war.

Vielleicht kann man die Überlebenden der Kriegsgeneration als die Generation der großen Sprachlosigkeit bezeichnen. Aufgearbeitet wurde nichts, lediglich verdrängt, glorifiziert oder totgeschwiegen.

Draußen vor der Tür – jederzeit und überall
Dass die Problematik von Wolfgang Borcherts „Draußen vor der Tür“ nicht begrenzt ist auf den zweiten Weltkrieg, machen die Aufzeichnungen einer im Kosovo eingesetzten Soldatin deutlich. Daniela Matijevic hat in ihrem Buch „Mit der Hölle hätte ich leben können“ über ihren Auslandseinsatz im Kosovokrieg geschrieben und ein Interview über ihre Motivation gegeben. In ihrem Buch geht es eben nicht allein um die Kriegsgreuel, sondern um die Greuel der Reaktion der Umwelt auf die Traumatisierung der Kriegsrückkehrerin. Diese Reaktion ist eine Mischung aus Ignoranz, Desinteresse und Unverständnis. Daniela Matijevic drückt dies so aus: „Das, was ich im Kosovo erlebt habe, hätte ich ertragen können. Ich bin zerschellt an der Reaktion der Menschen, die mir dann begegnet sind. Die Leute haben mich nicht ernst genommen und gesagt: du bist ein Weichei, wieso nimmt dich das so mit?

Genauso ergeht es Borcherts Beckmann, als er den aussichtslosen Versuch macht, der Umwelt seine traumatischen Erlebnisse mitzuteilen – es interessiert schlichtweg niemanden. Und Borcherts „Draußen vor der Tür“ ist nicht nur eine Parabel auf jeden Krieg, sondern im Grunde auch auf jedes miterlebte Unrecht. Es wird immer Menschen geben, die darunter leiden werden, dass sie Unrecht und Leid anderer miterleben mussten und nicht verhindern konnten.

Und es wird auch immer und zu jeder Zeit Menschen geben, denen das Unrecht und das Leid anderer völlig gleichgültig ist. Jene Menschen, die sich in ihrer Ruhe gestört fühlen, wenn jemand nicht bereit ist, Unrecht und Leid anderer zu übersehen und totzuschweigen. Und Beispiele hierfür gibt es viele – die Menschen, die einfach wegsehen, wenn auf der Straße jemand zusammengeschlagen wird. Oder die es überhören, wenn aus der Nachbarwohnung immer wieder Schreie hallen. Oder die nur mit den Schultern zucken, wenn immer mehr Menschen sich kaum noch das Notwendigste leisten können. Oder die zusehen, wenn ein angeblich gemeinnütziger Verein die ihm anvertrauten und von ihm abhängigen Menschen skrupellos ausnutzt…

Ich glaube, dass jedes Unrecht aufgearbeitet werden kann. Voraussetzung ist allerdings, dass ein Unrecht überhaupt erstmal als solches empfunden und benannt wird. Vorraussetzung ist die Fähigkeit des Mitempfindens mit anderen. Voraussetzung ist genug Ehrlichkeit, um sich einzugestehen, dass man Zeuge von Unrecht geworden ist, ohne alles für dessen Verhinderung zu tun.

Es ist nicht das Unrecht, sondern es ist die Ignoranz des Unrechts, die das Leben bisweilen so unerträglich macht. Zumindest für die, die unsere Welt gern ändern würden.

Borcherts Beckmann ist der Prototyp des Ruhestörers. Der der die satte und feiste Zufriedenheit der anderen stört, indem er einfach nicht vergessen und wegschauen will. Das personifizierte Gedächtnis in einer Welt, die gern vergessen möchte.