Samstag, 26. Juni 2010
Die hohe Kunst des Ignorierens
Etwas, das ich früher auf der ganzen Linie abgelehnt habe, ist das Ignorieren. Ich schaue nicht gern an Dingen vorbei und ich halte es für wichtig, nicht wegzusehen – zumal ich auch einen Beruf ergriffen habe, bei dem das genaue Hinsehen eine Grundvoraussetzung ist. Erst allmählich komme ich dahinter, dass das Ignorieren eine lebenswichtige Verhaltensweise darstellt. Worauf es ankommt, ist, das Ignorieren nicht zu einem Automatismus werden zu lassen, sondern sich bewusst dafür zu entscheiden. Die unabänderlichen Dinge – und leider gibt es derer viele – können das Leben unerträglich machen und letztendlich die Kraft verbrauchen, die man benötigt, um sich den veränderbaren Dingen zuzuwenden.

Fontane hat mal gesagt „Ignorieren ist noch keine Toleranz“ und das habe ich bisher nur in seiner negativen Bedeutung erfasst – nämlich die, dass jemand, der Dinge einfach ignoriert, sich nicht vormachen sollte, dass dies schon einen Wesenszug der Toleranz darstellt. Aber jetzt sehe ich auch die positive Bedeutung. Die Tatsache, dass ich etwas ignoriere, heißt noch nicht, dass ich damit einverstanden bin, sondern ich entziehe ihr lediglich meine Aufmerksamkeit. Und dies muss als Grund nicht Gleichgültigkeit haben, sondern stellt letztendlich einen Akt des Selbstschutzes dar. Sicher, die gefährliche Nähe zur dumpfen Gleichgültigkeit oder zur Feigheit ist immer vorhanden und sollte nicht unterschätzt werden - Wachsamkeit ist geboten.

In der Meditation ist das Ignorieren gewissermaßen die Grundidee. Das, was bei allen Übungen immer wieder Thema ist, ist der Umgang mit Gedanken. Man kämpft lange Zeit gegen die Gedanken an, da man sie als Störenfriede empfindet – was sie ja in gewisser Weise auch sind, weil sie die innere Ruhe und Gelassenheit stören. Und irgendwann passiert es für kurze Zeit, dass man diese Gedanken einfach vorbeifließen lässt. Man kämpft nicht mehr gegen sie an aber man vertieft sich auch nicht mehr in sie. Und diese kurzen Momente werden häufiger. Meditationslehrer bezeichnen die Gedanken sogar als wichtige „Helfer“, was ich zuerst als völlig abwegig empfunden habe. Erst allmählich begreife ich, dass die Gedanken in ihrer Funktion das bedeuten, was im Kampfsport der Gegner darstellt: das Gegenüber, das die eigene Fähigkeit immer wieder herausfordert und somit stärkt.

Und in gewisser Weise ist das alltägliche Leben vergleichbar mit dem Meditationsprozess. Es ist ein enormer Kraftakt, sich in all die Unzulänglichkeiten, die man nicht ändern kann, zu vertiefen. Man muss sie vorbeiziehen lassen, wenn man seine Kraft nicht vergeuden will. Diese Kraft, die man so dringend benötigt, um zumindest ein wenig zu verändern. Vielleicht gilt das nicht für jeden, aber zumindest für diejenigen Menschen, die einen Beruf wie ich haben, der Verantwortung für Menschen mit sich bringt, die dringend Hilfe benötigen.

Das Problem beim Ignorieren ist das Wie und Wo. Wenn jemand meiner Betreuten sterbenskrank ist und ich genauestens abwägen muss, was zu veranlassen ist, muss ich so genau es nur irgend möglich ist hinsehen und mitfühlen. Wenn ich allerdings mitbekomme, dass irgendwo jemand abgezockt wird und Machtbefugnisse ausgenutzt werden, dann muss ich es ignorieren, denn – und das ist ein Erfahrungswert – allein kann ich nichts dagegen ausrichten. Vielleicht kommen auch mal Zeiten, in denen Menschen mit Rückgrat erscheinen – einen kleinen Lichtblick gab es ja schon vor kurzem – aber die Zeit ist anscheinend noch nicht gekommen (oder schon vorbei?).

Die Unzulänglichkeiten und Widerwärtigkeiten des Lebens. Beleidigungen, verbale Entgleisungen, dumpfe Projektionen, Alphagehabe, Feigheit, Verrat – glücklich, wer von Ihnen verschont bleibt. Und wer nicht soviel Glück hat, dem bleibt eben immerhin doch noch eine Chance: Ignorieren!



Dienstag, 15. Juni 2010
The roaring seventies – filmische Erinnerungen
Eben gerade habe ich den Film Cabaret angesehen. Ich habe überhaupt kein Faible für Musicals, aber dieser Film stellt eine große Ausnahme dar. Es gibt viele Szenen, bei denen ich immer noch eine Gänsehaut bekomme. Zum Beispiel die grandiose Szene im Biergarten, als das Lied „Der morgige Tag ist mein“ gesungen wird. Leise lächelnd von einem einzelnen Hitlerjungen begonnen und endend in ohrenbetäubendem Gebrüll, in das fast jeder der Gäste fanatisch einstimmt. Besser hätte man den Beginn der großen Tragödie nicht darstellen können.

In den 70er Jahren gab es Programmkinos, in denen das Kriterium für einen Film nicht dadurch bestimmt wurde, dass er neu war, sondern dass er gut war. Mit anderen Worten – man konnte gute Filme auch immer wieder sehen. Cabaret lief weit über ein Jahr (!) in der Kurbel. Ein Schulfreund von mir hat sich zu der Zeit als Kartenabreißer Geld verdient und auf diese Weise den Film Cabaret unzählige Male gesehen und wir haben uns oft über die einzelnen Szenen unterhalten.

Dann natürlich auch Aufführung des Liedes „Money“, in der Liza Minelli und Joel Grey die Lust am Geld auf grandiose Art darstellen und am Ende unter wehenden Geldnoten tanzen. Eine Neuauflage des biblischen Tanzes um das goldene Kalb.

Auf zynische und boshafte Art wird das Problem von „Mischehen dargestellt“. Joel Grey steckt einer Gorilladame einen Ring an als Parabel auf die Entscheidung eines (vermeintlichen) Christen, eine Jüdin zu heiraten.

Die Weimarer Republik kurz vor der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten. Dekadent, spöttisch und respektlos wurde jede politische Facette Weimars auf der Bühne ins Groteske verkehrt. So als wären nochmals alle Register der künstlerischen Freiheit gezogen worden, weil schon eine leise Ahnung von dem drohenden Übel und dem baldigen Ende der Freiheit bestand.

Ansehen lohnt sich:




Donnerstag, 10. Juni 2010
Die Sehnsucht nach Veränderung
Uta Ranke-Heinemann sagte mal, wenn sie überhaupt noch Unterschiede zwischen den Menschen mache, dann allenfalls nur noch zwischen Rauchern und Nichtrauchern. Ich bin darin noch nicht so weit, sondern sehe noch immer eine Menge Unterschiede zwischen den Menschen. Einer der für mich ganz bedeutsamen Unterschiede ist der der Sehnsucht nach Veränderung. Sowohl nach Veränderung von sich selbst als auch nach Veränderung der Lebensbedingungen.

Und ich sehe immer wieder, dass es keinen größeren Unterschied gibt als den zwischen Stillstand und Entwicklung. Das Leben als etwas Werdendes begreifen, als etwas, das nicht stillstehen darf. Ein Prozess der Reifung. Egal wie schwer dies erscheint und wie viele Rückschläge es gibt – trotz allem immer wieder den Versuch zu machen, etwas zu ändern. Dies ist nicht gleichzusetzen mit einer Negation der Gegenwart, vielmehr ist es ein Begreifen der Gegenwart als Aufgabe.

Dem Sich-Entwickeln sind Grenzen gesetzt, die es zu akzeptieren gilt. Aber innerhalb dieser Grenzen muss sich etwas bewegen. Und ich merke immer wieder, wie gut es tut, in Gegenwart von Menschen zu sein, für die ebenfalls das Werden wichtig ist. Sicher, man kann sich auch allein weiter entwickeln, aber das ist ungleich schwerer als in Gemeinschaft mit Gleichgesinnten.

Ich hatte mir in der vergangenen Wochen endlich mal wieder Zeit genommen für ein mehrtägiges Seminar. Und es tat mir gut, Menschen um mich herum zu haben, die auch auf der Suche sind nach Weiterentwicklung. Einige bezeichnen sich als „auf dem Weg“. Und so empfinde ich es auch. Sich bewegen auf ein Ziel hin. Sich nicht abfinden mit allem und jeden. Dabei können andere Menschen Anstöße und Hilfestellung geben. Sie können aber leider auch das Gegenteil bewirken und wie Bremsklötze wirken.

Diese Menschen, die nur nach materieller Veränderung gieren. Oder allenfalls noch nach Änderung ihres Körpergewichts. Die sich selbst in satter Zufriedenheit auf die Schulter klopfen und dabei oftmals ein Kreuz für ihre Mitmenschen sind. Die nicht nur selbst stillstehen sondern auch alles um sich herum zum Stillstand bringen. Die mit 15 genauso sind wie mit 40 und mit 40 genauso wie mit 70. Nichts tut sich, nichts bewegt sich.

Ich habe in dem Seminar erwähnt, dass es mir vorkommt wie die Metapher von den 7 fetten und den 7 mageren Jahren – wobei die Reihenfolge bei mir umgekehrt ist. Es scheint mir, als wären jetzt schon einige Jahre ins Land gegangen, in denen es an allem fehlt. Aber seit kurzem habe ich das Gefühl, dies ändert sich jetzt langsam. Ganz langsam tauchen Lichtblicke auf. Menschen, denen Solidarität genauso wichtig ist wie mir und denen Ducken zuwider ist. Menschen, die Spaß am Nach-Denken haben und die andere nicht ersticken mit ihren dumpfen Platituden.

All diese Menschen haben eins gemeinsam: sie entwickeln sich weiter. Manche langsam, manche schneller, manche mit zeitweiligen großen Rückschritten, manche mit langen Pausen – aber es gibt eine Bewegung. Und das ist das, was diese Menschen wertvoll macht. Genauso wie Menschen durch ihren Stillstand auch das Wachstum anderer hemmen können, können Menschen durch ihr eigenes Wachstum auch die Entwicklung anderer fördern.