Hass als Testament
Vermächtnis
Nun mein Leben geht zu End,
Mach ich auch mein Testament;
Christlich will ich drin bedenken
Meine Freunde mit Geschenken.
Diese würd’gen, tugendfesten
Widersacher sollen erben
All mein Siechtum und Verderben,
Meine sämtlichen Gebresten.
Ich vermach euch die Koliken,
Die den Buch wie Zangen zwicken,
Harnbeschwerden, die perfiden
Preußischen Hämorrhoiden.
Meine Krämpfe sollt ihr haben,
Speichelfluß und Gliederzucken,
Knochendarre in dem Rucken,
Lauter schöne Gottesgaben.
Kodizill zu dem Vermächtnis:
In Vergessenheit versenken
Soll der Herr eur Angedenken,
Er vertilge eur Gedächtnis.
Heinrich Heine (1797-1856)
Ich atme erleichtert auf, wenn ich sehe, dass es außer mir auch noch andere gibt, die aus tiefer Seele hassen. Ich befinde mich nicht in schlechter Gesellschaft, wenn selbst ein großer Dichter wie Heine seinem Hass nicht nur ein ganzes Gedicht widmet, sondern dabei die Vorstellung der Rache genussvoll im Detail auskostet.
Hass ist ein unehrenhaftes Gefühl, das ist wahr. Aber der Anlass, der zu diesem Hass führt, steht dem in nichts nach. Ich hätte nichts dagegen, lammfromm zu sein – wenn ich nur von lammfrommen Menschen umgeben wäre. Und ohne die näheren Zusammenhänge zu kennen, bin ich mir sicher, dass Heines Verwünschungen nicht die Falschen getroffen haben...
behrens am 16. April 10
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Countdown fürs Klassentreffen
Wieso bin ich nur so dickbackig? Hatte ich Mumps? Aber doch nicht mehr in der 1o. Klasse?
Noch eine knappe Woche und das erste Klassentreffen nach 35 Jahren findet statt. Es hat mich eine Menge Vorbereitungszeit gekostet – obwohl ja Dank Internet alles sehr viel einfacher ist als zur Zeit des Briefeschreibens. Nur 2 haben keine Lust und somit werden wahrscheinlich 23 Ehemalige erscheinen.
Und ich bin aufgeregt und trotzdem ist mir mulmig. Der Grund für meinen Wunsch nach einem Klassentreffen war Neugier und auch ein wenig Nostalgie. Sehnsucht nach Menschen, mit denen es Spaß gemacht hat, zusammen zu sein. Aber meine Erinnerungen stammen aus einer längst vergessenen Zeit – im doppelten Sinn. Sowohl im rein zeitlichen Abstand als auch im Hinblick auf die Phase, in der wir uns sich damals befanden. Jugendliche kümmern sich noch nicht um ihre Altersvorsorge, gehen nicht auf Tupperfêten und ducken noch nicht vor allem und jedem. Jugendliche haben Ideale und Ideen, motzen gegen Obrigkeiten und hassen Ungerechtigkeiten. Rockfestivals, politische Diskussionen, Demos und Rebellion gegen die Eltern.
Insgeheim sehne ich mich wahrscheinlich nach dieser Zeit zurück. Ich bin mehr als frustriert über die meisten Menschen um mich herum, die nichts anderes mehr interessiert als Geldanlage und der gute Eindruck nach außen. Es geht um nichts anderes mehr als um Einbauküchen, Geldanlagen, und das Bewerten des äußeren Erscheinungsbilds anderer. Wie eine endlos lange Nonstop-Vormittagstalkshow eines Privatsenders.
Aber Sehnsucht nach früher birgt auch immer die Gefahr des Idealisierens. Es war nicht alles toll damals – Pubertät ist schwierig und so manche Dinge kommen einem im nachherein ziemlich albern und peinlich vor.
Habe ein wenig Angst, dass aus den Originalen von damals Dutzendware geworden ist und mir die letzte Illusion flöten geht. Bei denjenigen, zu denen ich noch Kontakt habe, ist das nicht der Fall. Meine Freundin wird extra aus Berlin kommen und selbst wenn das Klassentreffen nicht das hält, was ich mir davon versprochen habe, werde ich zumindest mit meinen Freunden einen schönen Abend verbringen.
Apropos
Mein Haus, meine Frau, mein Auto – meine 5er Clique von früher:
2 Sozialpädagogen
2 Taxifahrerinnen
1 Hartz-IV-Empfängerin
Von 5 Leuten hat niemand ein Haus und nur einer hat ein Auto! Eigentlich die beste Voraussetzung dafür, dass es nicht langweilig werden kann...
Abu Ali ibn Sina
Die ganze Zeit ihrer Umarmung über hatte er sich in von weit hergekommene Reminiszenzen gleiten lassen, die wie aus grauer Vorzeit wieder aufgetaucht anmuteten. Sie hatten im Voraus die Gesten, die Umarmungen des anderen gewusst; das Vorherwissen ihres gegenseitigen ganz erstaunlich vorgreifenden Verlangens. Die Erfahrung vergangener Liebschaften hatte ihn gelehrt, dass nur äußerst selten zwei sich unbekannte Körper sogleich beim ersten Male die vollkommene Harmonie erreichen mochten. Dennoch hatte das Wunder stattgefunden. Sie hatten aneinander getrunken, ihre Lippen hatten sich vereinigt, verbunden, verschmolzen, mit der Inbrunst des Töpferwerks, das gleichsam zurück in seine Form drängt. Sie waren ausgebrannt, verzehrt, ohne mehr zu wissen, wer von beiden Talg und wer die Flamme war. In Wirklichkeit hatten sie sich nicht beigewohnt... Sie hatten sich einfach nur wieder erkannt.
„Wie geschieht mir?“, fragte Ali, als spräche er zu sich selbst. „Da ist etwas, was in mir lebt, das ich bis zur Stunde nicht kannte. Verstehst du?“
Sie strich ihm sanft mit der Hand den Nacken entlang. „Ich verstehe, Ali ibn Sina. Doch im Unterschied zu dir und obwohl ich das, von dem du sprichst, nie empfunden habe, wusste ich, dass es existiert. Undeutlich. Wie man um ein Land weiß, ohne es je kennen gelernt zu haben.“
Diese Zeilen stammen aus dem Roman Gilbert Sinoués „Die Straße nach Isfahan“, in dem es um das Lebenswerk des berühmten persischen Arztes Abu Ali ibn Sina geht, besser bekannt als Avicenna. Der Roman beschreibt den Lebensweg dieses Mannes, der nicht nur durch seine medizinischen Verdienste, sondern auch durch seine Verehrung Aristoteles’ bekannt wurde.
Mir gefiel diese hochpoetische Art, wie Erotik beschrieben wird. Eine Zeit widerspiegelnd, in der Erotik noch etwas Geheimnisvolles und Mystisches war. Geheimnisvoll deswegen, weil Erotik ein der Öffentlichkeit verborgener Bereich war. Mystisch, weil dies eine über das rein körperliche Empfinden hinausgehende Verschmelzung beinhaltet. Der Ausspruch der Geliebten „Ich wusste, dass es existiert“ drückt die Erahnung von etwas aus, das sich einer konkreten Vorstellung entzieht und nicht im Bereich des Alltäglichen zu finden ist. Eine Ahnung, die mit Sicherheit heute kaum noch jemand kennt.