Abu Ali ibn Sina
Die ganze Zeit ihrer Umarmung über hatte er sich in von weit hergekommene Reminiszenzen gleiten lassen, die wie aus grauer Vorzeit wieder aufgetaucht anmuteten. Sie hatten im Voraus die Gesten, die Umarmungen des anderen gewusst; das Vorherwissen ihres gegenseitigen ganz erstaunlich vorgreifenden Verlangens. Die Erfahrung vergangener Liebschaften hatte ihn gelehrt, dass nur äußerst selten zwei sich unbekannte Körper sogleich beim ersten Male die vollkommene Harmonie erreichen mochten. Dennoch hatte das Wunder stattgefunden. Sie hatten aneinander getrunken, ihre Lippen hatten sich vereinigt, verbunden, verschmolzen, mit der Inbrunst des Töpferwerks, das gleichsam zurück in seine Form drängt. Sie waren ausgebrannt, verzehrt, ohne mehr zu wissen, wer von beiden Talg und wer die Flamme war. In Wirklichkeit hatten sie sich nicht beigewohnt... Sie hatten sich einfach nur wieder erkannt.

„Wie geschieht mir?“, fragte Ali, als spräche er zu sich selbst. „Da ist etwas, was in mir lebt, das ich bis zur Stunde nicht kannte. Verstehst du?“

Sie strich ihm sanft mit der Hand den Nacken entlang. „Ich verstehe, Ali ibn Sina. Doch im Unterschied zu dir und obwohl ich das, von dem du sprichst, nie empfunden habe, wusste ich, dass es existiert. Undeutlich. Wie man um ein Land weiß, ohne es je kennen gelernt zu haben.“


Diese Zeilen stammen aus dem Roman Gilbert Sinoués „Die Straße nach Isfahan“, in dem es um das Lebenswerk des berühmten persischen Arztes Abu Ali ibn Sina geht, besser bekannt als Avicenna. Der Roman beschreibt den Lebensweg dieses Mannes, der nicht nur durch seine medizinischen Verdienste, sondern auch durch seine Verehrung Aristoteles’ bekannt wurde.

Mir gefiel diese hochpoetische Art, wie Erotik beschrieben wird. Eine Zeit widerspiegelnd, in der Erotik noch etwas Geheimnisvolles und Mystisches war. Geheimnisvoll deswegen, weil Erotik ein der Öffentlichkeit verborgener Bereich war. Mystisch, weil dies eine über das rein körperliche Empfinden hinausgehende Verschmelzung beinhaltet. Der Ausspruch der Geliebten „Ich wusste, dass es existiert“ drückt die Erahnung von etwas aus, das sich einer konkreten Vorstellung entzieht und nicht im Bereich des Alltäglichen zu finden ist. Eine Ahnung, die mit Sicherheit heute kaum noch jemand kennt.




Mysterien
...Sie hatten sich einfach nur wieder erkannt

Das Wort "Erkennen" hat eine merkwürdige Doppelbedeutung. In der Bibel wird die Formulierung "ein Weib erkennen" gewählt für Geschlechtsverkehr haben. Laut Etymologischem Wörterbuch ist dies eine Lehnübersetzung von lat. cognoscere feminam und geht letztlich auf den hebr. Urtext zurück. Auch in einem Buch über Sufismus habe ich diese Formulierung gefunden.

Ich habe mir immer schon Gedanken darüber gemacht, was diese Formulierung bedeutet. Merkwürdig ist auf jeden Fall, dass sie nur in Bezug auf die Frau und nicht auch auf den Mann gewählt wurde - einen Mann erkennen sucht man vergeblich. Aber hier bei Gilbert Sinoué bezieht es sich ja auf eine Gegenseitigkeit von Mann und Frau.

Ja, was mag damit gemeint sein? Sich erkennen geht eindeutig über einen körperlichen Akt hinaus. Aber nicht nur das - ein körperlicher Akt wird quasi zum Vorgang des Erkennens umgedeutet. Kann es wirklich sein, dass man erst auf einer rein körperlichen Ebene das Wesen eines Menschens erfasst? Das Körperliche sozusagen zu Geistigem wandelt?

Wilhelm Reich hat mal geschrieben, Sex ist die höchste Form der körperlichen Nähe und sollte deswegen niemals verdinglicht werden, weswegen er in der amerikanischen Lebensart als "Hochburg der Verdinglichung" auch eine große Gefahr für erfüllte Sexualität (sowie für menschliche Beziehungen überhaupt) sah.

Gilbert Sinoué, Abu Ali ibn Sina, Wilhelm Reich - auf jeden Fall verkörpern alle etwas völlig anderes als das, was sich in unserer heutigen Zeit als körperlich darstellt.