Paul Ricæur - Das Rätsel der Vergangenheit. Erinnern-Vergessen-Verzeihen
Gestern habe ich einen hochinteressanten Artikel des französischen Philosophen Paul Ricæur (1913-2005) gelesen, in dem es um das Verzeihen geht. Was mich an dem Artikel so beeindruckt, ist nicht nur die Tatsache, daß jemand sich die Mühe macht, diesen Begriff philosophisch zu durchleuchten, sondern vielmehr das kritische Hinterfragen eines Begriffs, der normalerweise grundsätzlich positiv besetzt wird. Sich dem fast schon heiligen Begriff des Verzeihens kritisch zu nähern, stellt etwas höchst Ungewöhnliches dar. Paul Ricæur geht nicht nur kritisch mit dem Begriff des Verzeihens um, sondern er spricht sogar von der
Leichtfertigkeit im Umgang mit Verzeihen oder von der
pervertierten Form des Verzeihens und er mahnt ausdrücklich vor dem
leichten Verzeihen.
Der Artikel ist schwierig zu lesen, was vielleicht auch an der deutschen Übersetzung liegen mag. Ich mußte ihn mindestens viermal lesen und es gibt immer noch Passagen, die sich mir nicht erschließen.
Ricæur definiert das Verzeihen als eine Form des aktiven Vergessens, das er scharf abgrenzt gegen das passive Vergessen. Er schafft analog zum passiven Vergessen den Begriff
eskapistisches Verzeihen (escape = flüchten, fliehen) mit dem er das Verzeihen als Flucht vor der eigentlichen Auseinandersetzung meint. Dem eskapistischen Verzeihen wirft er vor, zwar nicht das Ereignis an sich zu vergessen, aber dessen Bedeutung und ihren Ort im Sinne der Dialektik des geschichtlichen Bewußtseins.
Ricæur schafft weitere Kategorien, so das
Verzeihen aus Selbstgefälligkeit, dem er vorwirft, sich damit die Pflicht der Erinnerung zu ersparen. Eine weitere Kategorie ist die des
Verzeihens aus Wohlwollen, das sich einfach nur der Gerechtigkeit entziehen will und insgeheim nur jemandem Straffreiheit verschaffen möchte. Ein Teil der theologischen Tradition ist für Ricæur das
Verzeihen aus Nachsicht, das für ihn Freispruch durch Vergebung bedeutet.
Endlich kommt aber auch ein Begriff des Verzeihens, der dem Ideal entspricht. Dies ist für Ricæur das
schwere Verzeihen. Diese Form des Verzeihens nimmt die Tragik des Handelns ernst und zielt auf die Quelle der Konflikte und der Verfehlungen, die der Vergebung bedürfen. Es handelt sich darum, die Knoten unauflöslicher Konflikte zu lösen und nicht einfach nur auf der Ebene einer berechenbaren Bilanz ein Sollsaldo zu löschen. Als ersten Knoten bezeichnet Ricæur eben diese unauflöslichen Konflikte, als zweiten zu lösenden Knoten bezeichnet er die nicht wiedergutzumachenden Schäden und Verbrechen.
Für Ricæur muß an der Schuld selbst Trauerarbeit geleistet werden. Und dann zieht er eine Parallele, die normalerweise übersehen wird: das eskapistische Vergessen und die endlose Verfolgung der Schuldigen haben ihren Grund in derselben Problematik. Dies heißt, es muß eine Grenze gezogen werden zwischen Amnesie und unendlicher Schuld.
Ziel des Verzeihens muß sein, daß das Vergangene aufhören muß, die Gegenwart zu verfolgen um so zu verhindern, daß es eine Vergangenheit gibt die "nicht gehen will“.
Wenn ich hier mal den Bogen spanne zu Ricarda Huchs Gedicht
Mein Herz mein Löwe, dann stellt Ricæurs Theorie für mich eine Art Versöhnungsversuch dar. Das Recht auf Haß einerseits – und die Chance des Verzeihens anderseits. Ein Verzeihen, daß entideologisiert ist vom rein Guten. Ein Verzeihen, das harte Arbeit bedeutet – für den, der verzeiht sowie für den, dem verziehen wird.
Für mich ist es überraschend, verzeihen und vergessen gleich zu setzen. Bei Kleinigkeiten ist das sicher oft der Fall, bei ernsteren Dingen aus meiner Sicht jedoch nicht zwangsläufig.
Ein großes Thema, das Verzeihen. Welchen Zweck erfüllt Verzeihen? Ist es gleichzeitig möglich, wirkliche Verzeihung zu üben und das erlittene Unrecht trotzdem vollständig als real wahrzunehmen und anzuerkennen? Die Frage dieser (Un-)Vereinbarkeit treibt mich schon lange um...
behrens am 11.Feb 10
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Ich tue mich mit dem Verzeihen nicht leicht, und für mich gibt es daher von vorneherein eine Grundbedingung für das Verzeihen: Entschuldigung und Bedauern. Wenn jemand einem anderen Schaden zufügt und dies weder bereut noch sich entschuldigt, gibt es für mich keinen Grund zum Verzeihen. Dies hieße nämlich, genau das, was Paul Ricæur als „leichtfertig“ bezeichnet: ich würde durch mein Verzeihen den anderen in seinem Verhalten bestärken und wäre dann auch mitverantwortlich dafür, wenn derjenige dies Verhalten immer weiter an den Tag legt und zwar eben nicht nur mir gegenüber sondern auch anderen Menschen.
Ich habe vor einigen Jahren eine Situation erlebt, wo mir jemand ziemlich heftig und unberechtigt beleidigt hat. Es gab nicht einmal den Hauch von Reue – woraufhin ich den Kontakt abgebrochen habe. Von anderen wird mir immer vorgeworfen, daß man doch auch mal über „etwas hinwegsehen“ kann. Und eben das ist das Verhängnisvolle – derjenige beleidigt munter weiter. Das mag in einer bestimmten Szene üblich sein, aber ich möchte diese Spielregeln nicht akzeptieren. Und es gibt nicht wenige Menschen, die das „Darüberwegsehen“ fast schon einkalkulieren.
Verziehen habe ich irgendwann meiner Mutter, weil ich gesehen habe, wie hart und schwer ihr Leben war und sie so werden mußte, wie sie eben nun mal geworden ist. Sie hat mich zwar nie um Verzeihung gebeten, aber ich habe gespürt, wie sehr sie unter meiner abweisenden Reaktion litt. Das war für mich Grund genug.
Jemand, der mich um materielle Dinge betrogen hat, würde ich ohne Wiedergutmachung (da reicht Reue nicht) auch niemals verzeihen. Wenn jemand einen Betrug wirklich bereuen würde, würde derjenige auch von sich aus eine Wiedergutmachung anbieten. Erst dann ließe sich für mich über Verzeihen reden. Ohne Wiedergutmachung wäre das Verzeihen leichtfertig und würde geradezu zum munteren weiter Betrügen anfachen.
Du siehst, ich bin leider ein nachtragender Mensch. Mehr als das Verzeihen über ich das Loslassen. Das fällt nicht ganz so schwer...