Wissen light – Studenten haben keine Zeit mehr für Bücher
Es gibt Dinge, die nicht voneinander zu trennen sind. So zum Beispiel Studium und Bücher. Jedenfalls war es bisher so. Jetzt scheint dies allerdings nicht mehr selbstverständlich zu sein. In einer Diskussion über den Stand der Wissenschaft und Forschung erzählte ein Professor für Philosophie, dass ihm einige Studenten erklärt hätten, nicht mehr genug Zeit zu haben, um ein Buch vollständig zu Ende zu lesen. Viele hielten es für völlig ausreichend, sich lediglich mit der Sekundärliteratur zu beschäftigen.
Mich wundert bei der Generation Smartphone eigentlich gar nichts mehr. Das Prinzip des unbedingten Vorrangs der allerneuesten Version und des letzten Updates wird in bemerkenswerter Unbedarftheit auf den Bereich des Wissens und die Aneignung des Wissens übertragen. Warum ein Werk von Platon von Anfang bis zum Ende lesen, wenn die Quintessenz auch en bref in irgendwelcher Sekundärliteratur nachzulesen ist? Googeln, Chatten, Simsen, Appsen, Bloggen und Skypen lässt nicht mehr genug Zeit für das antiquierte und viel zu umständliche Lesen.
Mir fällt eine meiner Deutschlehrerinnen ein, die ich vor einigen Jahren anlässlich unseres Klassentreffens anrief. Als ich sie um ihre Email bat, sagte sie mir, dass sie kein Internet hat, weil sie „einfach keine Zeit dafür" hätte. Ich musste schmunzeln, denn sie hatte mir zuvor erzählt, dass sie nach ihrer Berentung wieder angefangen hat, Kunstgeschichte zu studieren. Ich stellte mir dabei vor, wie mit absoluter Sicherheit jeder junge Student aus tiefster Überzeugung verneinen würde, dass ein Studium ohne Internetzugang überhaupt möglich wäre.
Meine alte Deutschlehrerin ist ein Auslaufmodell. Aber ich bin mir absolut sicher, dass sie es locker mit jedem der rund fünfzig Jahre jüngeren Studenten aufnehmen könnte. Denn ist nicht das Gleiche, ob man ein wenig googelt und sich sein Wissen mittels Wikipedia und Hausarbeiten erwirbt, oder ob man sich die Arbeit macht, sich intensiv mit Primärliteratur zu befassen. Der Prozess des langsamen Erarbeitens und des Eindringens in die geistigen Inhalte eines Werks gehört jetzt anscheinend endgültig der Vergangenheit an. Alles ist reduziert auf die Lightversion. Was diesen Umstand noch erschreckender macht, ist die Aussage des besagten Professors, andererseits würde heute so viel wie nie zuvor publiziert werden. Dies wirft die Frage auf, welche Grundlage Publikationen haben, die von Menschen verfasst wurden, die keine Zeit mehr finden, ein Buch vollständig zu Ende zu lesen? Wie immer die Antwort lauten mag – diese Lightversionen man kann sich sicher getrost schenken.
Die Zeit der großen Denker ist – zumindest bis auf weiteres – vorbei. Wobei dies nicht so dramatisch ist, wie es auf den ersten Blick scheint, denn auch wenn die großen Denker alle mausetot sind, so sind deren unsterbliche Werke noch jederzeit zugänglich. Einfach in den nächsten Buchladen oder die Bücherhalle gehen.
Ein kleine Szene als Lehrstück über den autoritären Charakter
Vorgestern stolperte ich über eine Szene des Films „Das Zeugenhaus“. Der Film spielt im Jahr 1946 zur Zeit der Nürnberger Prozesse und es geht um die vorgeladenen Zeugen, die von der amerikanischen Besatzungsmacht gemeinsam in eine Villa einquartiert werden. Zu den Zeugen gehörten sowohl NS-Täter als auch Opfer, was zuerst zu schwelenden und später zu offenen Auseinandersetzungen führt.
Zu den in der Villa lebenden Zeugen gehört auch Henny von Schirach, die Ehefrau des Reichsjugendführers Baldur von Schirach und Tochter Heinrich Hoffmanns, des Leibfotografen Adolf Hitlers. Henny von Schirach gehörte zum engeren Bekanntenkreis Hitlers und verbrachte auch Zeiten auf Hitlers Berghof. Henny von Schirach erwähnt gegenüber den anderen Bewohnern eine Auseinandersetzung mit Hitler, in der sie ihm ins Gesicht sagte, dass es unmenschlich sei, wie die Juden bei den Deportationen behandelt werden. Hitler reagierte sehr wütend und war so erbost, dass sie und ihr Mann vom Berghof verbannt wurden.
Es ist diese Szene, um die es mir hier geht, denn diese Begebenheit hat sich nachweislich tatsächlich so zugetragen. Sowohl Albert Speer, Traudel Junge und Goebbels bestätigen den Vorfall. Traudel Junge hat in ihrem Buch auch die Reaktion Hitlers sehr genau beschrieben: Henriette von Schirach, „die ja eine relativ vertrauliche Position gegenüber Hitler hatte, […] hat den Führer darauf angesprochen, dass es ganz schrecklich wäre, wie die Juden in Amsterdam behandelt werden..“ Daraufhin hätte Hitler ihr wütend geraten, sich nicht in Dinge einzumischen, die sie nicht versteht, sich über „diese Gefühlsduselei und Sentimentalität“ geärgert und den Raum verlassen. Henny von Schirach sei als Reaktion darauf nie wieder auf den Berghof eingeladen worden. Albert Speer beschreibt die Reaktion auf die Auseinandersetzung als „düstere Stimmung“ und als Grund für die Verbannung vom Berghof.
Warum beschäftigt mich diese Szene so? Weil mir bisher nicht bekannt war, ob es jemals dazu kam, dass Hitler innerhalb seines Bekanntenkreises mit Vorwürfen in Bezug auf das Vorgehen gegen die die Juden konfrontiert wurde. Wobei man sich über die Person der Henny Schirach nicht täuschen darf, denn sie war begeisterte Anhängerin Hitlers und ihr Mann war bekennender Antisemit. Und auch nach dem Krieg war bei Henny von Schirach nicht die geringste Einsicht in die Verbrechen vorhanden, wie schon an ihren merkwürdigen Buchtiteln „Anekdoten um Hitler“ und „Der Preis der Herrlichkeit“ deutlich wird.
Es ist eine absurde Situation – in grenzenloser Naivität und Unbedarftheit wirft eine junge Frau einem Mann, der nie ein Hehl aus seinem Vernichtungsfeldzug gegen die Juden gemacht hat, deren unmenschliche Behandlung vor. Der Vorwurf richtet sich gegen jemanden, der von Anfang an klar als Massenmörder erkennbarer war und dessen Programm ebenso klar erkennbar eine Verkörperung der Inhumanität darstellte. Henny von Schirach scheint dies jedoch während all den Jahren in ihrer großen Begeisterung konsequent ausgeblendet zu haben und so kommt es zu jener grotesken Situation, in der von einem Massenmörder eine Antwort darauf erwartet wird, warum er denn Menschen nicht besser behandelt.
Genauso absurd wie Henny von Schirachas naiv vorgebrachte Kritik fällt auch Hitlers Reaktion aus. Der unumschränkte Herrscher über Deutschland und Herrscher in spe über die gesamte Welt verlässt beleidigt den Raum wie ein kleiner Junge, der von der Mama zu Unrecht getadelt wurde. Man stellt sich unweigerlich die Frage, warum jemand, der sich der Rechtmäßigkeit seines Antisemitismus so ungemein sicher ist, durch den naiv vorgetragenen Vorwurf der Unmenschlichkeit dermaßen seine Fassung verliert. Umso mehr, als doch seiner Ideologie entsprechend Unmenschlichkeit eine Tugend und keine Schwäche darstellt, der man sich folglich auch nicht schämen muss. Wieso wird jemand, der Millionen von fanatischen Menschen hinter sich hat, die bereit sind für ihn zu sterben, durch einen einzigen Satz einer im Grunde völlig unwichtigen Frau dermaßen verunsichert?
Wenn ich mir die Szene bildhaft vorstelle und vor mir den Mann sehe, der sich in einem krankhaften Größenwahn dazu berufen fühlte, erst Deutschland und dann die ganze Welt zu unterwerfen und der in einem ebenso krankhaften Hass die Verantwortung für alle Übel dieser Welt auf die Juden projizierte – was spielte sich in dessen Denken ab, als ihm von einer durch und durch treu ergebenen jungen Frau der Vorwurf der Unmenschlichkeit gemacht wurde? Was löst es bei jemandem aus, der sich für unfehlbar und von höheren Mächten berufen wähnt, wenn sich unter das uneingeschränkte Bejubeln seines Handelns doch einmal ein winziger Funken Kritik einschleicht?
Die grenzenlose Unbedarftheit Henny von Schirachs und die ins Lächerliche gehende Reaktion Hitlers erinnern mich an Hannah Arendts Theorie der „Banalität des Bösen“. Dieser Theorie zufolge ist das Böse nicht das Werk von monströsen Psychopathen und menschlichen Ungeheuern, sondern das der ganz normalen Durchschnittsbürger. Menschen, die grundsätzlich noch nicht einmal pathologisch gefühlskalt sein müssen, sondern die durchaus in der Lage sein können, Unmenschlichkeit als Unrecht zu empfinden. Und die trotz des subjektiven Empfindens von Unrecht dem Verursacher dieses Unrechts keinen Widerspruch leisten.
Es ist diese Banalität des Bösen, die das Ungeheure zu etwas Allgegenwärtigem machen, das zeitlos ist und weit über das Dritte Reich hinausgeht. Das Dritte Reich mag Vergangenheit sein, die ihm zugrunde liegenden menschlichen Mechanismen bestehen nach wie vor und finden sich wiederkehrend in den alltäglichen Situationen unseres Lebens. Es wird immer Menschen geben, die sich berufen fühlen anderen Ordern zu geben und für die es keinen größeren Frevel gibt, als den der Kritik an ihrem Handeln. Und genauso wird es immer Menschen geben, die diese Ordern und Verbote in blinden Gehorsam befolgen.
Nein, es geht eben nicht nur um die großen Diktatoren, die sadistischen Kapos und die fanatischen Gefolgsmänner. Es geht genauso um den kleinen Angestellten, der eifrig auf eine Position hinarbeitet, in der er vom Getretenwerden zum Treten wechselt. Es geht genauso um den Geschäftsführer, der sich geschickt Bedingungen schafft, in denen niemand mitbekommt, wie in die eigene Tasche gewirtschaftet wird und Menschen Unrecht zugefügt wird. Es geht genauso um die kleine Bürohilfe, die das alles mitansieht und trotz des Wissens über die Unrechtmäßigkeit in dumpfer Gewohnheit treu ihre Pflicht erfüllt. Es geht genauso um den Kaufmann, der in soziale Arbeitsfelder eindringt und in Menschen nichts anderes sieht als eine Einkommensquelle.
Die beiden Protagonisten dieser absurden Situation – Henny von Schirach, die unbeirrt ihrem Führer die Treue hält, obwohl sie das Unrecht und Leid erkennt, das er anderen zufügt. Eine unbedarfte Frau, die selbst nach ihrer Verbannung noch um Verständnis für einen Massenmörder wirbt. Und auf der anderen Seite ein kleiner Gefreiter, der sich zum unangefochtenen Alphatier einer Nation hochgearbeitet hat, aber den dennoch eine einzige Kritik so aus dem Konzept bringt, dass er wie ein schmollendes Kind wegläuft. Ein Lehrstück über das, was den autoritären Charakter im Wesentlichen ausmacht – das Stehenbleiben auf einer kindlichen Entwicklungsstufe, in der ein Kind mit allen Mitteln und um jeden Preis trotzig seinen Willen durchsetzen will.
Siegfried Lenz und meine ganz persönliche Deutschstunde
Wer sich nicht wehren kann und wer auf Unterstützung angewiesen ist, der könnte die Unterstützung durch einen Schriftsteller erhalten.
Siegfried Lenz zur Frage der Funktion der Literatur
Obwohl es schon Ewigkeiten zurückliegt, kann ich mich noch sehr gut an meine allererste Deutschstunde auf dem Gymnasium erinnern. Für mich stellte diese Stunde so etwas wie ein Aufbruch in einer neue Welt dar. Bis zum Alter von fast elf Jahren besuchte ich die Schule unseres kleinen Elbdorfs, die damals noch Volksschule genannt wurde. Alle vier Grundschuljahre hindurch hatten wir ein- und dieselbe Klassenlehrerin, die auch fast alle Fächer unterrichtete. Ich hatte eine äußerst gemischte Beziehung zu dieser Lehrerin, denn Fräulein Mohrdieck schwang noch den Rohstock und unterrichtete einen sehr rigiden Religionsunterricht nicht nur in der dafür vorgesehenen Stunde, sondern dehnte ihn auf nahezu allen übrigen Fächer aus. Im Laufe der vierten Klasse fing ich dann an offen aufzubegehren und verlor dadurch viel von ihrer zuvor vorhandenen Gunst. Ausschlaggebender Anlass war die völlig ungerechtfertigte Bestrafung einer Mitschülerin, die ich empört mit „Das ist unterecht!“ kommentierte. Fräulein Mohrdieck entgegnete äußerst entrüstet: „Ein Lehrer ist niemals ungerecht.“
Im Gymnasium hatten wir dann sehr junge Lehrer, die zu unserem Erstaunen meist nur ein Fach unterrichteten. Der Deutschunterricht wurde von unserer Klassenlehrerin Frau Hansen gegeben. Ich kannte Deutsch bisher nur als Rechtschreibunterricht, mit dem ich mich oftmals schwertat. Aber jetzt begann nach der offiziellen Begrüßung die allererste Deutschstunde mit etwas sehr Ungewohnten, nämlich mit einer Episode aus der Erzählung „So zärtlich war Suleyken“ von Siegfried Lenz. Obwohl ich diese Erzählung später niemals erneut gelesen habe, erinnere ich noch viele Details. Es ging um einen Zirkus, der in einem abgelegenen Ort namens Suleyken gastierte und der mit seinen Darbietungen die einfachen Dorfbewohner in helle Aufregung versetzte. Ich meine sogar, den Namen der Zirkusdirektorin – Anita Schibukat – zu erinnern (das werde ich jetzt irgendwann einmal überprüfen) sowie die Vorstellung eines Schwertschluckers, dessen vermeintliches Schlucken seines Schwertes offenes Entsetzen hervorrief.
Die Geschichte kam bei uns Fünftklässlern sehr gut an und es wurde viel gelacht. Aber was für mich völlig neu war, war das anschließende Diskutieren. Wir wurden danach gefragt, was wir von den einzelnen Figuren hielten und soweit ich erinnere, bekamen wir die Hausaufgabe, uns weitere komische Situationen auszudenken, die durch die Zirkusvorstellungen verursacht wurden.
Danach gefragt zu werden, was man denkt und außerdem sogar aufgefordert zu werden, sich selbst etwas auszudenken – das war für mich als kleines Mädchen aus einem ebenfalls kleinen Dorf etwas durch und durch Ungewohntes. Aber es war noch weit mehr als nur ungewohnt. Es war der Auftakt zu einem Lernen, das untrennbar mit Respekt vor dem Willen und vor der Fantasie eines Kindes verbunden war und das sich durch die Freiheit des Denkens auszeichnete.
Und sogar noch heute genieße ich die Erinnerung an das Gefühl des aufregend Neuem, das sich mir damals auftat.
Bei meinen Recherchen für unser Klassentreffen vor fünf Jahren erfuhr ich, dass meine ehemalige Deutschlehrerin Frau Hansen schwerkrank war und nur wenig Aussicht auf Heilung bestand, so dass man leider davon ausgehen muss, dass sie inzwischen verstorben ist. Verstorben ist übrigens auch vor mehr als zehn Jahren meine Klassenlehrerin Fräulein Mohrdieck, die ich trotz unserer Meinungsverschiedenheiten später bis kurz vor ihrem Tod im Heim besuchte. Und eben erfahre ich vom Tode Siegfried Lenz. Der Mann, dem ich meine wunderbare erste Deutschstunde verdanke.
Später als Teenager habe ich dann die tatsächliche Deutschstunde gelesen, den Roman aus dem Jahr 1968, in dem es um den verzweifelten Widerstand gegen Pflichterfüllung ohne Gewissen geht. Und ich habe – ebenfalls im Deutschunterricht – zwei weitere Kurzgeschichten gelesen, die mich tief beeindruckt haben. Die erste hieß „Die Nacht im Hotel“ und in ihr geht es um einen verbitterten Mann, der seine Verbitterung durch die Konfrontation mit dem Leiden eines Kindes überwindet. Die zweite Kurzgeschichte hieß „Der Gleichgültige“ und in ihr geht es um die völlig gleichgültige Reaktion eines Mannes auf einen offensichtlich zum Selbstmord Entschlossenen. Siegfried Lenz ist es gelungen, mit einer kleinen Erzählung die Erbärmlichkeit eines Menschentyps darzustellen, dem jegliches Gefühl und Interesse für sein Gegenüber abhanden gekommen ist.
Eben wurde ein älterer Kommentar zu Siegfried Lenz von Marcel Reich-Ranicki im Fernsehen gezeigt. Reich-Ranicki äußert, er schließe sich nicht der Ansicht mancher Kritiker an, derzufolge Lenz ein konservativer Erzähler sei. Er sehe vielmehr in Lenz einen traditionellen Geschichtenerzähler. Und diese Aussage trifft es sehr gut. Lenz gibt seinen Erzählungen über ein kleines Dorf nicht nur den Titel „So zärtlich war Suleyken“, sondern er selbst erzählt mit viel Zärtlichkeit die Geschichte über die liebenswerten Bewohnern eines Dorfes.
Kritiker können sich irren. Ein elfjähriges Kind nicht. Für mich wird der Name Siegfried Lenz immer untrennbar verbunden sein mit meiner allerersten Deutschstunde, die für mich den Beginn der Lust am Lernen und der Freiheit der Gedanken darstellte. Ich bin dankbar für das, was mir die Erzählungen von Siegfried Lenz gegeben haben. Dankbar für meine ganz persönliche Deutschstunde.