Siegfried Lenz und meine ganz persönliche Deutschstunde
Wer sich nicht wehren kann und wer auf Unterstützung angewiesen ist, der könnte die Unterstützung durch einen Schriftsteller erhalten.
Siegfried Lenz zur Frage der Funktion der Literatur

Obwohl es schon Ewigkeiten zurückliegt, kann ich mich noch sehr gut an meine allererste Deutschstunde auf dem Gymnasium erinnern. Für mich stellte diese Stunde so etwas wie ein Aufbruch in einer neue Welt dar. Bis zum Alter von fast elf Jahren besuchte ich die Schule unseres kleinen Elbdorfs, die damals noch Volksschule genannt wurde. Alle vier Grundschuljahre hindurch hatten wir ein- und dieselbe Klassenlehrerin, die auch fast alle Fächer unterrichtete. Ich hatte eine äußerst gemischte Beziehung zu dieser Lehrerin, denn Fräulein Mohrdieck schwang noch den Rohstock und unterrichtete einen sehr rigiden Religionsunterricht nicht nur in der dafür vorgesehenen Stunde, sondern dehnte ihn auf nahezu allen übrigen Fächer aus. Im Laufe der vierten Klasse fing ich dann an offen aufzubegehren und verlor dadurch viel von ihrer zuvor vorhandenen Gunst. Ausschlaggebender Anlass war die völlig ungerechtfertigte Bestrafung einer Mitschülerin, die ich empört mit „Das ist unterecht!“ kommentierte. Fräulein Mohrdieck entgegnete äußerst entrüstet: „Ein Lehrer ist niemals ungerecht.“

Im Gymnasium hatten wir dann sehr junge Lehrer, die zu unserem Erstaunen meist nur ein Fach unterrichteten. Der Deutschunterricht wurde von unserer Klassenlehrerin Frau Hansen gegeben. Ich kannte Deutsch bisher nur als Rechtschreibunterricht, mit dem ich mich oftmals schwertat. Aber jetzt begann nach der offiziellen Begrüßung die allererste Deutschstunde mit etwas sehr Ungewohnten, nämlich mit einer Episode aus der Erzählung „So zärtlich war Suleyken“ von Siegfried Lenz. Obwohl ich diese Erzählung später niemals erneut gelesen habe, erinnere ich noch viele Details. Es ging um einen Zirkus, der in einem abgelegenen Ort namens Suleyken gastierte und der mit seinen Darbietungen die einfachen Dorfbewohner in helle Aufregung versetzte. Ich meine sogar, den Namen der Zirkusdirektorin – Anita Schibukat – zu erinnern (das werde ich jetzt irgendwann einmal überprüfen) sowie die Vorstellung eines Schwertschluckers, dessen vermeintliches Schlucken seines Schwertes offenes Entsetzen hervorrief.

Die Geschichte kam bei uns Fünftklässlern sehr gut an und es wurde viel gelacht. Aber was für mich völlig neu war, war das anschließende Diskutieren. Wir wurden danach gefragt, was wir von den einzelnen Figuren hielten und soweit ich erinnere, bekamen wir die Hausaufgabe, uns weitere komische Situationen auszudenken, die durch die Zirkusvorstellungen verursacht wurden.

Danach gefragt zu werden, was man denkt und außerdem sogar aufgefordert zu werden, sich selbst etwas auszudenken – das war für mich als kleines Mädchen aus einem ebenfalls kleinen Dorf etwas durch und durch Ungewohntes. Aber es war noch weit mehr als nur ungewohnt. Es war der Auftakt zu einem Lernen, das untrennbar mit Respekt vor dem Willen und vor der Fantasie eines Kindes verbunden war und das sich durch die Freiheit des Denkens auszeichnete.

Und sogar noch heute genieße ich die Erinnerung an das Gefühl des aufregend Neuem, das sich mir damals auftat.

Bei meinen Recherchen für unser Klassentreffen vor fünf Jahren erfuhr ich, dass meine ehemalige Deutschlehrerin Frau Hansen schwerkrank war und nur wenig Aussicht auf Heilung bestand, so dass man leider davon ausgehen muss, dass sie inzwischen verstorben ist. Verstorben ist übrigens auch vor mehr als zehn Jahren meine Klassenlehrerin Fräulein Mohrdieck, die ich trotz unserer Meinungsverschiedenheiten später bis kurz vor ihrem Tod im Heim besuchte. Und eben erfahre ich vom Tode Siegfried Lenz. Der Mann, dem ich meine wunderbare erste Deutschstunde verdanke.

Später als Teenager habe ich dann die tatsächliche Deutschstunde gelesen, den Roman aus dem Jahr 1968, in dem es um den verzweifelten Widerstand gegen Pflichterfüllung ohne Gewissen geht. Und ich habe – ebenfalls im Deutschunterricht – zwei weitere Kurzgeschichten gelesen, die mich tief beeindruckt haben. Die erste hieß „Die Nacht im Hotel“ und in ihr geht es um einen verbitterten Mann, der seine Verbitterung durch die Konfrontation mit dem Leiden eines Kindes überwindet. Die zweite Kurzgeschichte hieß „Der Gleichgültige“ und in ihr geht es um die völlig gleichgültige Reaktion eines Mannes auf einen offensichtlich zum Selbstmord Entschlossenen. Siegfried Lenz ist es gelungen, mit einer kleinen Erzählung die Erbärmlichkeit eines Menschentyps darzustellen, dem jegliches Gefühl und Interesse für sein Gegenüber abhanden gekommen ist.

Eben wurde ein älterer Kommentar zu Siegfried Lenz von Marcel Reich-Ranicki im Fernsehen gezeigt. Reich-Ranicki äußert, er schließe sich nicht der Ansicht mancher Kritiker an, derzufolge Lenz ein konservativer Erzähler sei. Er sehe vielmehr in Lenz einen traditionellen Geschichtenerzähler. Und diese Aussage trifft es sehr gut. Lenz gibt seinen Erzählungen über ein kleines Dorf nicht nur den Titel „So zärtlich war Suleyken“, sondern er selbst erzählt mit viel Zärtlichkeit die Geschichte über die liebenswerten Bewohnern eines Dorfes.

Kritiker können sich irren. Ein elfjähriges Kind nicht. Für mich wird der Name Siegfried Lenz immer untrennbar verbunden sein mit meiner allerersten Deutschstunde, die für mich den Beginn der Lust am Lernen und der Freiheit der Gedanken darstellte. Ich bin dankbar für das, was mir die Erzählungen von Siegfried Lenz gegeben haben. Dankbar für meine ganz persönliche Deutschstunde.




...tatsächlich richtig erinnert
Während mein Kurzzeitgedächtnis allmählich nachlässt, bin ich über mein Langzeitgedächtnis manchmal wirklich erstaunt, denn die Besitzerin des Wanderzirkus heißt tatsächlich Anita Schibukat!