Montag, 16. Juni 2014
Das Bonmot zum Mittag
“In unseren Ohren dröhnt der Gleichschritt von Millionen Leisetretern.“
Johann Kaspar Lavater (1741-1801)

Einen furchterregenden Umstand sogar noch poetisch ausdrücken – eigentlich unmöglich, aber Lavater ist es gelungen. Es mag paradox anmuten, aber Leisetreter können tatsächlich Dröhnen verursachen. Besser hätte man es nicht sagen können.



Donnerstag, 22. Mai 2014
Hedgefonds, Derivate, CDOs – mein Versuch, den Bankencrash zu verstehen und wieso mich die Thematik an einen Science Fiction erinnert
Was ist schon der Einbruch in eine Bank gegen die Gründung einer Bank
Berthold Brecht (1898 – 1956)

Ich habe eigentlich nie ganz verstanden, was genau bei dem Bankencrash 2007 passiert ist. Die Finanzwelt ist nicht gerade ein Bereich, der bei mir großes Interesse auslöst und so habe ich es immer wieder verschoben, mich mit der Materie zu befassen. Jetzt habe ich mir allerdings mal einen Ruck gegeben und den Versuch gemacht ein wenig in die Materie einzudringen. Vieles verstehe ich auch jetzt noch nur ansatzweise, aber das, was ich inzwischen verstanden habe, ist furchteinflößend. Hedging, Leerverkäufe, Derivate – Begriffe, die eingebettet sind in eine Finanzwirtschaft, die mittlerweile eine Eigendynamik entwickelt hat, die den verantwortlichen Akteuren zunehmend aus den Händen gleitet.

Während ich früher noch ganz naiv gedacht habe, an der Börse wird mit Werten gehandelt, dann bin ich jetzt eines Besseren belehrt worden, denn ein viel lukrativeres Geschäft ist der Handel mit Schulden. Wobei jede Überschaubarkeit verlorengegangen ist, denn Kredite werden zu einem Mix (genannt ABS CDO) zusammengestellt, bei dem es aber nicht bleibt, sondern von dem wiederum weitere Produkte (somit weitere CDOs) geschaffen werden. Wer also einen Kredit bei einer Bank aufgenommen hat, kann irgendwann nicht mehr nachvollziehen, wohin der inzwischen gewandert ist und in welchem Produkt er sich befindet.

Das Ausschlaggebende ist jedoch, dass als Finanzinstrument nicht mehr normale Fonds fungieren, sondern sogenannte Hedgefonds. Diese unterliegen weit weniger Regulierungen als normale Fonds und stehen außerdem nicht allen offen, so dass sich die Aktionen weitgehend unter Ausschluss der Öffentlichkeit abspielen. Und eignen sich somit vorzüglich für hochspekulative Geschäfte. Dies trifft genauso auf ein noch dubioseres Finanzinstrument zu – das Derivat. Ein Derivat ist etwas noch Abstrakteres, denn es stellt keinen eigenen Wert da, sondern leitet sich von anderen Basiswerten ab. Mit den Derivaten kann man wiederum durch die Kalkulation mit Hebeln sehr große Summen bewegen und dies kann schlimmstenfalls auch zu einer volkswirtschaftlichen Bedrohung führen. Eine weitere Möglichkeit ist, auf Verluste zu wetten. Aktien in der Hoffnung auf deren Wertsteigerung zu kaufen war gestern – heute investiert man an der Börse in Verluste. Treten diese ein – gewissermaßen als self-fulfilling prophecy – kann man sich somit am Verlust anderer gesund stoßen.

Das Fazit all dieser dubiosen Machenschaften ist, dass Börsengeschäfte schon lange nicht mehr aus Beobachtung der Bewegungen des Marktes bestehen, sondern dass mit den zur Verfügung stehenden Möglichkeiten der Markt selbständig bewegt wird. Die Dynamik ist somit eine völlig andere. Man kann durch die machtvollen Mittel der Hedgefonds und der Derivate ganze Schlüsselindustrien und schlimmstenfalls ganze Nationen in Abhängigkeit bringen. Man bewegt den Markt über weitere Fondsgesellschaften so, dass Aktienwerte sinken und kauft diese dann en masse auf. Oder man verursacht die Abhängigkeiten über großangelegte Kreditvergabe und schert sich einen Dreck darum, ob bei x-fachen Weiterverkauf der Kredite die Zinsen irgendwann und irgendwo so ansteigen, dass die Kreditnehmer massenweise bankrott gehen. Bei all dem hat sich dann der Grundsatz, Kredite nur an solvente Kreditnehmer zu vergeben, längst als hinderlich erwiesen und es wird speziell ein Klientel angesprochen, das überhaupt nicht über die Mittel zur Rückzahlung verfügt. "Suprime"-Kredite – zweitklassige Kredite – früher als viel zu risikoreich undenkbar, haben vor dem Hintergrund des Weiterverscherbelns von Krediten die sorgsame Auswahl bei der Kreditvergabe abgelöst. Schlechtes Gewissen hat dabei niemand denn es gilt konsequent die Devise des „selbst-schuld-wenn-man-nicht-rechnen-kann.“

Das eigentlich Perfide bei all den Machenschafen ist, dass die Gewinne in private Taschen wandern, während die Verluste von der Öffentlichkeit getragen werden müssen. Die gleichen Banker, die sich grundsätzlich empört jede Einmischung staatlicherseits verbeten, schreien plötzlich lauthals nach dem Staat. Der reagiert auch prompt und schießt Milliarden zu, damit die Banken, die als „systemrelevant“ eingestuft werden, weiterbestehen. Und so ist dann auch kein Ende abzusehen und es kann fröhlich weitergezockt werden.

In einem der vielen Youtube-Videos zur Thematik der Finanzwirtschaft wurde eine Gruppe Mathematiker vorgestellt, die ein Computersystem entwickelten, das konstant mit sämtlichen Daten der Weltwirtschaft gespeist wird, aus denen dann die Investitionsprognosen abgeleitet werden. Die Mathematiker sind immer noch dabei, die Formeln für dieses System weiterzuentwickeln und zu verbessern. Die Computeranlage ist riesig und wird jetzt zusätzlich auch noch mit Daten über vergangene Wirtschaftskrisen gespeist, weil auch dadurch die Gesetzmäßigkeiten des Marktes und somit die Prognosen weiter spezifiziert werden. Auch hier gilt – Marktinformationen sichten, auswerten und Investitionen selbst planen war gestern – heute kann der Computer selbständig die Ergebnisse umsetzen und die Aktionen an der Börse vorgeben.

Irgendwie erinnert mich dies an Arthur C. Clarkes Science Fiction „2001 Odyssee im Weltraum“. In der Erzählung entwickelt der Bordcomputer HAL 9000 plötzlich ein Eigenleben und es sind nicht mehr die Menschen, die ihn kontrollieren, sondern jetzt hat er die Kontrolle über die Menschen übernommen. Dabei wird dann ein Teil der Bordbesetzung getötet, bzw. von ihm geopfert. Soweit ist HAL 9000 nicht mehr von jenem Börsencomputer entfernt. Auch bei dem geht es nicht mehr um das menschliche Wohl und es ist nicht ausgeschlossen, dass es zu Aktionen kommt, die Katastrophen hervorrufen und Menschenleben vernichten.

Was mich ebenfalls an einen Science Fiction erinnert, sind die Begrifflichkeiten. Man spricht von „Leerverkäufen“ und von „Realwirtschaft“ im Gegensatz zur Geldwirtschaft. Kann man tatsächlich einen Verkauf ohne eine Ware tätigen? Und ist das Gegenteil von „real“ nicht vielmehr „irreal“? Oder vielleicht noch treffender „surreal“? Wie kann ein Handel mit einem sogenannten Derivat, das gar nicht eigenständig existiert, sondern ein abgeleiteter Wert ist, eigentlich funktionieren? Während eine Aktie immer noch einen Gegenwert von etwas real Existierenden darstellt, ist ein Derivat eine Wahrscheinlichkeit. Das kann ich mir dann eigentlich nur so wie eine Pferdewette vorstellen, bei der man durch den Wetteinsatz nicht Anteilseigner des Pferdes wird, sondern einen Anteil auf die Wahrscheinlichkeit eines Gewinns erwirbt. Der entscheidende Unterschied besteht allerdings darin, dass das Pferd völlig unabhängig vom Wetteinsatz gut oder schlecht läuft, während das Derivat (das ja eigenständig gar nicht real existiert…) erst durch die in es erfolgende Investition ins Leben gerufen wird und letztendlich dadurch selbst wiederum Gewinn und Verlust beeinflusst.

Wie weit sind wir gekommen, dass man die Existenz ganzer Nationen von Wetteinsätzen abhängig macht, die von Menschen getätigt werden, die den Hals nie voll genug bekommen? Menschen, denen angesichts der unvorstellbar hohen Summen und der immensen Machtbefugnisse ihr Gewissen abhanden kam. Das, was davon vielleicht noch übrig sein mag, wird dann nicht selten mit der Gründung einer Stiftung beruhigt. So kann man für sich selbst und für die auf Schweitzer Internate geschickten Sprösslinge eine Scheinwelt errichten, die ausblendet, dass man die Menschheit in ein Wettbüro verwandelt hat.

Last-not-least sei noch erwähnt, dass in Amerika die Gesetze, die den Machenschaften der Banken Grenzen setzten, nicht von der Regierung G.W. Bush, sondern von der Bill Clintons abgeschafft wurden. Die enge Verknüpfung von Banken und Politik ist offensichtlich an keine politische Couleur gebunden.



Sonntag, 27. April 2014
Ein Film, der unter die Haut geht – Armut und Würde
„Durch Armut, das heißt durch ein einfaches Leben und wenig Zwischenfälle, festige und kristallisiere ich mich wie Dunst oder Flüssigkeit durch Kälte. Es ist eine einzigartige Konzentration von Kraft, Energie und Aroma. Enthaltsamkeit ist ein ständiges Bekenntnis zum All. Mein zerstreutes, nebelhaftes Leben wird wie die Eisblumen und Frostnadeln, die an einem Wintermorgen an den Kräutern und Stoppeln wie Edelsteine glitzern. Ihr glaubt, daß ich mich selbst arm mache, indem ich mich von den Menschen zurückziehe, aber in meiner Einsamkeit habe ich mir ein seidenes Gewebe wie eine Schmetterlingspuppe gesponnen, und gleich einer Nymphe werde ich in Bälde als ein vollkommeneres Wesen hervorgehen, einer höheren Gesellschaft würdig. Durch Einfachheit, gewöhnlich Armut genannt, ist mein Leben konzentriert und damit organisiert, ein Kosmos, während es vorher unorganisch und knotig war.
Henry David Thoreau (1817 - 1862)

In dem Film „Die Summe meiner einzelnen Teile“ geht es um jemanden, der mehr oder weniger schlagartig aus der gesellschaftlichen Normalität hinausgedrängt wird und sich plötzlich am Rande der Gesellschaft wiederfindet. Der junge Mathematiklehrer Martin verliert durch eine psychische Erkrankung seine Arbeit, seine Beziehung und schließlich auch seine Wohnung. Obdachlos campiert er in leerstehenden Häusern, wo er den Jungen Viktor trifft, der vor kurzem seine Mutter verloren hat und der ebenfalls kein Zuhause mehr hat. Die beiden freunden sich an und wohnen schließlich gemeinsam im Wald in einer selbstgebauten Hütte.

Den Anfang des Films empfand ich als extrem bedrückend. Jemand wird in relativ stabilem Zustand aus stationärer psychiatrischer Behandlung entlassen und hat den Wunsch, seine Arbeit wieder aufzunehmen, was jedoch daran scheitert, dass der Chef ihn nicht mehr weiterbeschäftigen will. Als die Freundin die Beziehung beendet, verfällt Martin in Apathie und kümmert sich um nichts mehr, so dass die Miete nicht mehr bezahlt wird und er die Wohnungskündigung erhält. Dies endet damit, dass morgens der Gerichtsvollzieher die Tür aufbrechen lässt und gewaltsam in seine Wohnung eindringt um ihm zu eröffnen, dass diese jetzt geräumt wird. Man kann sich eigentlich kaum etwas Schrecklicheres vorstellen, als morgens in aller Frühe von einem Rollkommando überfallen zu werden und mit einem Schlag sein Zuhause und alles, was dazugehört zu verlieren.

Was dann geschieht, hat bei mir eine merkwürdige Mischung von Gefühlen ausgelöst, denn zum einen verursacht das durch den Arbeits- und Wohnungsverlust entstandene Elend Entsetzen und Mitleid und zum anderen wird genau hinter diesem Elend eine sonderbare Form der Freiheit und Autonomie deutlich. Freiheit, die nur dann entstehen kann, wenn es nichts mehr zu verlieren gibt und man keinen Zwängen mehr unterliegt. Ein bisschen erinnert mich die Situation auch an unsere Hamburger Bauwagengruppe, die aus Menschen besteht, die auf fließend Wasser und Strom verzichten und in Bauwagen campieren. Das Leben in einem Bauwagencamp bietet diesen Menschen ganz offensichtlich Vorteile, die Leben auf wenigen Quadratmetern mit Plumsklo und Ofenheizung aufwiegen.

Es ist ein äußerst heikles Thema, wenn Armut in irgendeiner Form idealisiert wird und Menschen, die im Überfluss leben, sollten damit mehr als vorsichtig sein. Zu leicht bagatellisiert man die vielen Probleme, die mit Armut und dem Leben am Rande der Gesellschaft verbunden sind. Dennoch kann man nicht die Augen davor verschließen, dass Armut den Menschen zurückwirft auf sein eigentliches Sein. Es geht nicht mehr um ein gepflegtes Erscheinungsbild, nicht mehr um die einwandfreie Rasur und das akkurat gebügelte Hemd, sondern es geht ums reine Überleben. Um die Existenz.

Der Film wirft die Frage auf, ob Armut grundsätzlich mit entwürdigenden Lebensbedingungen verbunden sein muss, oder ob nicht gerade die radikale Abkehr von allen gesellschaftlichen Abhängigkeiten eine Form der Würde beinhalten kann, die gerade darin begründet ist, dass man einen Zustand der Autonomie erreicht hat, der innerhalb der gesellschaftlichen Zwänge gar nicht mehr möglich ist. Wobei man einräumen muss, dass es kaum noch Nischen gibt, die frei von Zwängen sind. Im Film wird daher auch irgendwann die selbstgebaute Hütte abgerissen und Martin erneut in die Psychiatrie eingewiesen. Und auch das von mir erwähnte Bauwagencamp muss ständig eine Zwangsräumung fürchten.

Sehr berührend ist die Freundschaft zwischen Martin und Viktor. Zwei verlorene Seelen, die beide sehr viel Leid erlebt haben, geben sich gegenseitig Halt. Viktor spricht kein Deutsch, so dass Sprache als Kommunikationsmittel ausgeschlossen ist. Trotzdem tut dies der tiefen Freundschaft keinen Abbruch, denn es sind nicht Worte, über die Verbindung hergestellt wird, sondern die gegenseitige Fürsorge ist das Ausschlaggebende. Fürsorge ist übrigens ein veraltetes und mittlerweile verachtetes Wort, wie mir gerade einfällt und trotzdem möchte ich kein anderes verwenden, denn es ist eben genau das Füreinander-Sorge-Tragen, was das Besondere der Beziehung der beiden darstellt.

Als ich diesen beeindruckenden Film nachklingen ließ, fiele mir der Ausspruch Thoreaus ein: „Ich ging in die Wälder, denn ich wollte wohlüberlegt leben; intensiv leben wollte ich. Das Mark des Lebens in mich aufsaugen, um alles auszurotten was nicht Leben war. Damit ich nicht in der Todesstunde inne würde, daß ich gar nicht gelebt hatte.“ Als ich dann ein wenig mehr von Thoreau las, fand ich die eingangs zitierten Worte, die für mich beeindruckend beschreiben, dass Armut auch noch eine andere Seite haben kann, als die des Elends. Auch wenn es ein großer Unterschied ist, ob Armut freiwillig gewählt wurde, wie es bei Thoreau der Fall war, oder ob Armut unfreiwillig durch einen Schicksalsschlag verursacht wird, wie hier im Film dargestellt – Armut kann ein bewusstes und würdevolles Nein zu allem Überflüssigen und zu entfremdeten Wertmaßstäben darstellen.