Sonntag, 13. Mai 2012
Familienfeste und das Gebot des Schweigens
Obwohl es schon einige Jahre zurückliegt, dass ich diesen Film gesehen habe, fallen mir immer wieder Szenen daraus ein. „Was sie nie erzählte“ ist die Geschichte einer zarten Jugendliebe und eines sexuellen Missbrauchs. Nach zwanzig Jahren entdeckt der inzwischen erwachsene Wander seine Jugendliebe Zelda in einer Talkshow wieder. Dabei spielt sich vor seinem geistigen Auge die Zeit zwischen dem ersten Kennenlernen bis zum plötzlichen Verschwinden Zeldas ab. Der 14jährige Wander und die sonderbare Zelda freunden sich an und nach kurzer Zeit verliebt sich Wander in Zelda. Der Kontakt bricht aber abrupt ab, als Zeldas Familie plötzlich den Ort verlässt. Jetzt verfolgt der überraschte Wander gebannt die Talkshow, in der Zelda von ihrem Vater erzählt, der nach einiger Zeit auch dazukommt. Und dann kommt das schreckliche Geheimnis zutage, dass Zelda damals vor ihm verborgen hat: ihr Vater hat sie jahrelang sexuell missbraucht. Der Film endet damit, dass Wander, der als Schiffsmaschinist arbeitet, seine Sachen zusammenpackt und eilig das Schiff verlässt.

Was für mich den Film so beeindruckend macht, sind zum einen die phantastischen schauspielerischen Leistungen der beiden jugendlichen Schauspieler. Die ruppige Zelda, mit der irgendetwas nicht zu stimmen scheint und der schüchterne Wander, der sich davon nicht abschrecken lässt und beharrlich um Zelda wirbt. In dem Film wird das ungeheuer Zarte deutlich, durch das die erste Liebe geprägt ist. Und neben dieser sehr beeindruckend gespielten Zartheit klafft der Abgrund dessen, was von einem Erwachsenen unter Liebe verstanden wird und das nichts anderes ist als ein abscheulicher Missbrauch.

Der Film hinterlässt dennoch nicht nur Wut, denn trotz der schrecklichen Geschehnisse, die offenbar wurden, hat man als Zuschauer das Gefühl von Hoffnung. Es ist offensichtlich – zumindest für mich – dass Wander die Chance nutzt und sich sofort auf die Suche nach seiner Jugendliebe macht. Aber es ist noch etwas anderes, das Genugtuung verschafft: Zelda bricht ihr Schweigen! Und dies mit ungeheurem Mut, denn sie erzählt ihre Geschichte nicht im Bekanntenkreis, sondern im Fernsehen. Damit macht sie den entscheidenden Schritt, etwas scheinbar Privates dorthin zu verlagern, wo es hingehört: in die Öffentlichkeit. Das ungeheure Leid, dass durch sexuellen Missbrauch verursacht wird, ist weder Privatangelegenheit noch Kavaliersdelikt.

Auch in Lars von Triers „Das Fest“ geht es um das Öffentlichmachen eines jahrelang streng geheim gehaltenen familiären sexuellen Missbrauchs. Ausgerechnet auf dem großangelegten Geburtstagsfest bricht der missbrauchte Sohn sein Schweigen. Allerdings wird dies von der illustren Geburtstagsgesellschaft nahezu ignoriert und es wird eher der Sohn als vermeintlicher Störenfried angefeindet, als der Vater. Man betrachtet nicht den Missbrauch als solchen als Schandtat, sondern vielmehr sein Öffentlichmachen.

Beide Filme machen schmerzhaft deutlich, dass die Zerstörung einer Kinderseele ihre letzte Vollendung durch das Gebot des Schweigens erhält. Ein Gebot, das zu allem Übel auch noch damit verbunden ist, gute Miene zum bösen Spiel zu machen. Das unausgesprochene Gebot, reibungslos zu funktionieren und fröhlich an Familienfesten teilzunehmen, zerstört vollends die gesunde Wahrnehmung, die ein Kind in Bezug auf sich und die Erwachsenen hat. Täter, schweigende Komplicen oder stumme Zuschauer – ihnen allen ist gemeinsam, dass die eigene Schuld hartnäckig ausgeblendet wird. Und alle benötigen das reibungslose Funktionieren eines Kindes als Absolution. Und deswegen wird nichts so schwer geahndet, wie das Öffentlichmachen des Verbrechens, das das mühsam aufrechterhaltene Gebilde einer heilen Welt ins Wanken bringt. Öffentlichmachen heißt nichts anderes, als die Absolution zu verweigern und die Täter, Komplicen und stumme Zuschauer ihres Seelenfriedens zu berauben. Dieser Seelenfrieden, der den Erwachsenen so viel wichtiger ist, als der Seelenfrieden der Kinder, die ihnen anvertraut sind und die doch so sehr ihres Schutzes bedürfen.

Dabei geht es bei dem Thema sexueller Missbrauch – sexuellem Missbrauch die Absolution zu verweigern und endlich das Schweigen zu brechen. Und das geschieht nie nur für das einzelne Kind, sondern für alle.



Donnerstag, 3. Mai 2012
Hermann Hesse
Es ist schon ziemlich lange her, dass ich das letzte Mal etwas von Hermann Hesse gelesen habe, zumindest was Erzählungen betrifft, meine Gesamtausgabe seiner Gedichte nehme ich öfter zur Hand. Heute wurde in der ARD anlässlich Hesses fünfzigsten Todestag sowohl eine Romanverfilmung als auch eine kurze Dokumentation über sein Leben gezeigt. Als Hesse-Fan habe ich mir das natürlich nicht entgehen lassen.

Ich frage mich allerdings, ob ich mich eigentlich im strengen Sinn überhaupt noch als Hesse-Fan bezeichnen kann, wenn mein letzter Roman nun schon etliche Jahre zurückliegt. Und dann taucht die Frage auf, woran dies liegen könnte. Vielleicht ist es der Umstand, dass Hesses Romane in einer völlig anderen Zeit spielen. Sein Thema war oft der Ausbruch aus der kleinbürgerlichen Enge und die Befreiung von gesellschaftlichen Normen. Das wirkt in einer Zeit, in der der Einzelne mittlerweile ein Optimum an individueller Freiheit hat und in der es schon lange ein Muss ist, Normen anzuzweifeln, seltsam antiquiert.

Sicher, das Thema der Sinnsuche und Selbstverwirklichung ist zeitlos. Aber trotz der Zeitlosigkeit hat sich auch an dieser Thematik etwas geändert. Sinnsuche und Selbstverwirklichung sind längst Massenthemen geworden und nicht mehr Frage vereinzelter Außenseiter. Hermann Hesse hat sich in seinen Werken immer an das Individuum gewandt und genau das hat so viele Menschen angezogen in einer Zeit, in der sich das Individuum noch voll und ganz der Familie und der Gemeinschaft unterordnen musste. Eine Zeit, in der ganz klar und fest definiert war, was gut und was böse ist. In so einer Zeit leben wir aber schon lange nicht mehr.

Was seine Gedichte betrifft, so empfinde ich diese nach wie vor als zeitlos. Es geht um Einsamkeit, um Schmerz über die vergangene Jugend, um Todessehnsucht, um Liebe zur Natur und um die Suche nach dem, was das irdische Dasein transzendiert.

In der Dokumentation konnte man eine der seltenen Originalansprachen von Hermann Hesse hören: „Unter Glück verstehe ich die Teilhabe am ewigen Sein“. Und in dem Moment wo ich diesen Ausspruch niederschreibe, weiß ich, dass ich doch noch ein Hesse-Fan bin.



Mittwoch, 4. April 2012
Eine ewig Gestrige kommt noch mal zu Wort
Gestern habe ich mir die Dokumentation „Der Sturz“ angesehen, in der es um das Ende der DDR ging und unter anderem auch ein langes Interview mit Margot Honecker gezeigt wurde. Mir war schon zuvor klar, dass mich so eine Sendung aufregen könnte. Und so war es dann auch. „ Es gab doch auch Feinde in der DDR, das kann man doch nicht leugnen und das welche davon eingesperrt wurden, ist doch normal, oder?“ Dazu kann man eigentlich nichts mehr sagen, denn das Mindeste, was für eine Diskussion vorhanden sein muss, ist der Konsens, dass es auch immer im Bereich des Möglichen liegt, dass eine Ansicht auch falsch sein kann. Und dieser Mindestkonsens fehlt bei Margot Honecker. Eine schon ans Pathologische grenzende Überzeugung von der eigenen Unfehlbarkeit.

Die Überzeugung von der eigenen Unfehlbarkeit hat dann auch die vielen menschlichen Tragödien verursacht. Wie zum Beispiel die eines jungen Mannes, der wegen eines Diebstahls und der simplen Tatsache, ein Punker zu sein, für viele Jahre in dem geschlossenen Jugendwerkhof Torgau, einer Disziplinierungseinrichtung der DDR-Jugendhilfe, einsaß. Die Aussage „Man wurde dort in seinem Menschsein entwürdigt. Man kann mit seiner Vergangenheit nicht abschließen, Torgau ist lebenslänglich“ läßt ahnen, welch großes Leid man dort den Kindern und Jugendlichen angetan hat. Auch die Tatsache, dass es in der DDR zu schätzungsweise 7.000 Zwangsadoptionen kam, in denen regimekritischen Eltern ihre Kinder weggenommen wurden, lässt nur ahnen, was Menschen erleiden mussten, die als regimekritisch galten.

Merkwürdig mutet an, dass sich Erich und Margot Honecker m Januar 1990 nach Verlust ihrer Wohnung nicht an die Parteigenossen wandten, sondern ausgerechnet an die Institution, die sie zeitlebens vehement bekämpft hatten – die Kirche. Ausgerechnet ein Pastor, dessen Kindern einzig und allein aufgrund der Tatsache, Pastorenkinder zu sein, ein Studium verboten wurde, gab den Honeckers Asyl. Und nicht nur das, er stellte sich auch schützend vor die beiden, als sich wütende Gruppen vor dem Haus formierten. Ein Zeitzeuge formuliert treffend: „Der oberste Atheist bittet um Asyl und ein vom Regime verfolgter Christ stellt sein Haus zur Verfügung und wohnt mit ihm zehn Wochen zusammen“. Man kann schon fast Mitleid mit den Honeckers bekommen, wenn man sich vorstellt, wie sie gelitten haben mögen in engster Nähe mit Menschen, die an Unsinn wie Nächstenliebe und Gewaltverzicht glauben anstatt an die Diktatur des Proletariats.

Der Film kreist um die Gründe für das Aufbegehren in der DDR und um den Zorn, der sich über die Willkür der Staatsgewalt und über die rigorose Unterdrückung jeglichen kritischen Denkens gebildet hatte. Es kommt sowohl die Wut als auch der Schmerz über das Erlittene zum Ausdruck. Von all dem bleibt Margot Honecker allerdings völlig unberührt. Sie versteht diese neue Welt nicht mehr, in der einer unfehlbaren Frau wie ihr nicht mehr bedingungslos gehorcht wird.

Und dennoch sagt auch jemand wie Margot Honecker ab und zu etwas, dem man zustimmen muss. Zum Beispiel, wenn sie Politiker als Spielbälle der Banken bezeichnet. Dies ist es vielleicht auch, was so manchem der den alten Zeiten Nachtrauernden den Blick zurück so verklärt. Denn die lang ersehnte Freiheit entpuppte sich nicht als Paradies. Kapitalismus ist eine Riesenkrake, die nur diejenigen leben lässt, die sich in einem durch das Recht des Stärkeren bestimmten System behaupten können. Ein System, in dem Gewinnmaximierung zur erklärten Lebensdevise geworden ist. Aber selbst ein barbarisches und unmenschliches Prinzip rechtfertigt es nicht, Menschen einzusperren und ihnen das Denken zu verbieten. Gott-sei-Dank haben das mittlerweise viele begriffen. Allerdings eben nicht Margot Honecker. Sie ist ein erschreckendes Beispiel für einen gegen jeglichen Lernprozess resistenten Menschen.

Für mich besteht das eigentlich Bedeutsame im Zusammenbruch der DDR und der Wiedervereinigung in der Entlarvung der Ideologien. Die Ideologie der Chancengleichheit hat genauso wenig überlebt wie die Ideologie der Freiheit. Chancengleichheit steht zum Widerspruch zu einem System, in dem nur die Parteikonformen Chancen erhalten. Freiheit steht im Widerspruch zu einem System, in dem immer mehr Menschen zu arm sind, um ihre Freiheit nutzen zu können.