Mittwoch, 25. Januar 2012
Das Leben zwischen den Stühlen
Ideologien sind Zwangsjacken für das Gehirn, hat Erica Jong einmal geschrieben und darin stimme ich ihr voll und ganz zu. Ideologien sind abgeschlossene Denksysteme, in denen paradoxerweise eben gerade das Denken ausgeschlossen wird. Vielleicht wurde am Anfang, als die Ideologie noch im Entstehen war, noch eifrig nachgedacht. Aber in dem Moment, wo eine Ideologie zur Bildung einer Bewegung führt, wird – auch das ist paradox – jede Bewegung verhindert.

Das eigentlich Schlimme an einer Ideologie ist der pathologische Zwang, jeden noch so kleinen Hauch von Kritik als Indiz für Gegnerschaft einzustufen. Und da Ideologen ja felsenfest von der Wahrheit ihrer Ideen überzeugt sind, müssen die vermeintlichen Gegner sofort und nachhaltig bekämpft werden. Ähnlich wie das hinduistische Kastensystem weisen Ideologien einem jeden seinen festen Platz zu. Es gibt ein Unten und ein Oben.

Jemand, der von keiner Ideologie überzeugt ist, gehört entweder zu denjenigen, die ein Leben frei von jeglicher Überzeugung leben, oder aber er gehört zu denjenigen, deren Leben sich zwischen den Stühlen abspielt.

Wie sieht so ein Leben zwischen den Stühlen aus? Wie ergeht es jemandem, der auf der einen Seite ein entschiedener Gegner eines Systems ist, in welchem es nur noch um Konkurrenzkampf und um Macht geht, aber der gleichzeitig auch ein entschiedener Gegner ist von Systemen, in denen man nur im Gleichschritt überleben kann?

Jemand, der zwischen den Stühlen sitzt, muss auf den kuscheligen Rückhalt der Gruppe verzichten und wird zudem noch von zwei Seiten gleichzeitig in Frage gestellt. Im Extremfall kann ein Zweifrontenkrieg daraus entstehen. Das Leben zwischen den Stühlen ist anstrengend, weil heimatlos. Man könnte meinen, dass es doch immerhin eine Gemeinschaft geben müsste zwischen all denjenigen, die sich zwischen den Stühlen befinden. Aber irgendetwas scheint jegliches Ansammeln einer größeren Gruppe zu verhindern. Man kann die zwischen den Stühlen Lebenden allerdings ab und zu in Büchern wiederfinden. Lesen, Lesen, Lesen, dann trifft man auf Gleichgesinnte. Allerdings sind die meisten von ihnen schon tot, was das Gefühl das Eigenbrötlerdaseins noch verstärkt.

Und deswegen ist es anstrengend, dieses Leben zwischen den Stühlen.



Freitag, 20. Januar 2012
Spät aber nicht zu spät - warum ich mein Weltbild jetzt überdenken muss
Manchmal passieren Dinge, die mein pessimistisches Weltbild ins Wanken bringen. Vor Kurzem habe ich eine lange Mail von einer mir völlig unbekannten Frau erhalten. Der Anlass der Mail liegt schon Jahre zurück und bestand in einem ziemlich miesen Verhalten, das jemand mir gegenüber an den Tag gelegt hat. Damit meine ich nicht unsachliche Kritik oder Polemik, sondern obszöne Beleidigungen und üble Diffamierungen. Ich war nicht unbedingt die Erste, die von dem Betreffenden einen heftigen Schlag unter die Gürtellinie erhalten hat, aber doch jemand, auf den sich der Besagte eine Weile eingeschossen hatte. Und genau das hatte dann den Rattenschwanz von Reaktionen zur Folge, der letztendlich dazu führte, dass ich meinen Betreuerblog nicht mehr in einer Gemeinschaftshomepage verlinken durfte, frei nach der Devise: „Wer beleidigt wird, hat dies wohl auch irgendwie verdient“.

Und jetzt bekomme ich also Jahre danach eine Mail. Und ich bin völlig erstaunt, dass sich jemand – den ich noch nicht einmal kenne – die Mühe macht, mir ausführlich zu schildern, dass es auch anderen so wie mir erging und dass sich einige der Geschädigten sich deswegen sogar schon zusammen geschlossen hatten.

Es gibt sie also doch, die von mir schon als ausgestorben betrauerte „Solidarität! Jenes Verhalten, das jemandem den Rücken stärkt, wenn er zu Unrecht angegriffen wird und das so unverzichtbar ist, wenn man nicht vor allem und jedem kuschen will. Dieses Verhalten, dass das genaue Gegenteil darstellt zu fadenscheinigen „Tu-quoque-Argumenten, die einzig und allein dazu dienen, sich aus der Verantwortung zu ziehen.

Was mich nachdenklich stimmt, ist der Umstand, dass ich von jemand mir völlig Unbekannten Rückendeckung erhalte, während gerade diejenigen aus meinem direkten Umfeld, für die ich mich in so mancher Situation vehement stark gemacht habe, nicht nur jede Solidarität vermissen ließen, sondern mir stattdessen auch noch in den Rücken fielen.

Aber nichtsdestotrotz ist es beruhigend, dass es doch noch Menschen gibt, die nachempfinden können, wie schlimm es ist, miesen Beleidigungen ausgesetzt zu sein. Menschen, die wissen, wie ungemein wichtig es in so einer Situation für den Betroffenen ist, von anderen Rückhalt zu erfahren.

Tja, ich muss wohl mein Weltbild überdenken. Aber in diesem Fall tue ich dies gern…

P.S.:
Was ist eigentlich das Gegenteil von Solidarität? Ich glaube, es ist Opportunismus. Während die Solidarität sich auf die Seite der Schwächeren stellt, stellt sich der Opportunist grundsätzlich auf die Seite der Stärkeren.



Donnerstag, 12. Januar 2012
Ein wirklich saublödes Sprichwort
Wer vor seinem dreißigsten Lebensjahr niemals Sozialist war, hat kein Herz. Wer nach seinem dreißigsten Lebensjahr noch Sozialist ist, hat keinen Verstand.
Benedetto Croce
(Italienischer Historiker, Philosoph und Politiker 1866 - 1952)

Dies ist einer von den Aussprüchen, bei denen mir die Haare zu Berge stehen. Im Klartext bedeutet diese Aussage, dass derjenige, der seinen Idealen treu geblieben ist, in seiner Entwicklung erheblich zurückgeblieben ist. Gleichzeitig wird Herz – dieses etwas antiquierte Wort kann man mit Anteilnahme gleichsetzen – als etwas angesehen, was dem Verstand entgegensteht. Und im Umkehrschluss bedeutet dies folglich das Gleiche: ein intelligenter Mensch kann keine Anteilnahme haben.

Wie mag wohl zu diesem mehr als dämlichen Ausspruch gekommen sein, der bedauerlicherweise immer gern und oft von denjenigen zitiert wird, die mittlerweile in die Jahre gekommen sind?

Ich glaube, dass man sich zur Beantwortung dieser Frage vor Augen halten muss, dass es zwei völlig unterschiedliche Gründe gibt, aus denen heraus jemand in jungen Jahren Sozialist wird. Bei einem großen Teil ist es nichts anderes als Opposition zu der satten und zufriedenen Welt der Eltern. Wenn Papa nichts anderes als Arbeit und Geldanlage im Kopf hat, dann gibt es eigentlich kaum Näherliegendes, als den in der Pubertät so wichtigen Schritt der Abgrenzung dadurch zu vollziehen, dass man ins feindliche Lager überläuft. Ein Paradebeispiel hierfür wäre der unsägliche Dieter Bohlen, der auch jetzt noch gern zum Besten gibt, dass er als Student auf dem elterlichen Haus eine rote Fahne gehisst hat. Damit konnte er Papa mal so richtig schocken. Natürlich ist Dieter inzwischen längst vernünftig geworden und stellt Papa in Bezug aufs Geldverdienen schon seit langem in den Schatten.

Kommen wir jetzt zu dem anderen Grund, aus dem heraus man Sozialist werden kann. Bei diesem Grund geht es nicht um Opposition, sondern um eigene Betroffenheit. Mir fallen sofort zwei Schulfreunde ein, die beide nach der Schule den ganzen Nachmittag Zeitungen ausgetragen haben. Bei dem einen rutschte die Familie durch die schwere Erkrankung des Vaters in die Sozialhilfe, bei der anderen durch die Scheidung. Es gab auch kein Einzelhaus, auf dem man eine rote Fahne hissen konnte, sondern nur eine enge Sozialwohnung. Während die Kinder aus gutbetuchten Familien sich netten Freizeitvergnügen widmen konnten, mussten die beiden im Alter von vierzehn Jahren Geld verdienen. Auch das eigene Zimmer, das man in der Pubertät auf keinen Fall missen will, ist in dieser Szene nicht für jeden selbstverständlich. Mein Freund hatte beispielsweise keins und schlief in einem Bett, das sich in der Küche neben einem brummenden Kühlschrank befand.

Ich könnte noch unzählige weitere Beispiele aufzählen, die deutlich machen, dass auch ein vierzigjähriger Sozialist durchaus noch bei Verstand sein kann. Aber das ist überhaupt nicht nötig. Das worauf es ankommt, ist die Beschränktheit des zitierten Ausspruchs zu erkennen. Er ist beschränkt auf all jene, deren politische Haltung niemals authentisch war, sondern einzig und allein auf einem pubertierenden Aufbegehren beruhte. All jene, die ihre Einstellung pünktlich mit der Beendigung des Studiums an den Nagel hängten. Um dann genauso zu werden wie der Papa.

Was immer Benedetto Croce sich bei seinem Ausspruch gedacht hat – er hat nur einen bestimmten Typus vor Augen gehabt. Und den anderen hat er bedauerlicherweise anscheinend nie kennengelernt.