Donnerstag, 12. Januar 2012
Ein wirklich saublödes Sprichwort
Wer vor seinem dreißigsten Lebensjahr niemals Sozialist war, hat kein Herz. Wer nach seinem dreißigsten Lebensjahr noch Sozialist ist, hat keinen Verstand.
Benedetto Croce
(Italienischer Historiker, Philosoph und Politiker 1866 - 1952)

Dies ist einer von den Aussprüchen, bei denen mir die Haare zu Berge stehen. Im Klartext bedeutet diese Aussage, dass derjenige, der seinen Idealen treu geblieben ist, in seiner Entwicklung erheblich zurückgeblieben ist. Gleichzeitig wird Herz – dieses etwas antiquierte Wort kann man mit Anteilnahme gleichsetzen – als etwas angesehen, was dem Verstand entgegensteht. Und im Umkehrschluss bedeutet dies folglich das Gleiche: ein intelligenter Mensch kann keine Anteilnahme haben.

Wie mag wohl zu diesem mehr als dämlichen Ausspruch gekommen sein, der bedauerlicherweise immer gern und oft von denjenigen zitiert wird, die mittlerweile in die Jahre gekommen sind?

Ich glaube, dass man sich zur Beantwortung dieser Frage vor Augen halten muss, dass es zwei völlig unterschiedliche Gründe gibt, aus denen heraus jemand in jungen Jahren Sozialist wird. Bei einem großen Teil ist es nichts anderes als Opposition zu der satten und zufriedenen Welt der Eltern. Wenn Papa nichts anderes als Arbeit und Geldanlage im Kopf hat, dann gibt es eigentlich kaum Näherliegendes, als den in der Pubertät so wichtigen Schritt der Abgrenzung dadurch zu vollziehen, dass man ins feindliche Lager überläuft. Ein Paradebeispiel hierfür wäre der unsägliche Dieter Bohlen, der auch jetzt noch gern zum Besten gibt, dass er als Student auf dem elterlichen Haus eine rote Fahne gehisst hat. Damit konnte er Papa mal so richtig schocken. Natürlich ist Dieter inzwischen längst vernünftig geworden und stellt Papa in Bezug aufs Geldverdienen schon seit langem in den Schatten.

Kommen wir jetzt zu dem anderen Grund, aus dem heraus man Sozialist werden kann. Bei diesem Grund geht es nicht um Opposition, sondern um eigene Betroffenheit. Mir fallen sofort zwei Schulfreunde ein, die beide nach der Schule den ganzen Nachmittag Zeitungen ausgetragen haben. Bei dem einen rutschte die Familie durch die schwere Erkrankung des Vaters in die Sozialhilfe, bei der anderen durch die Scheidung. Es gab auch kein Einzelhaus, auf dem man eine rote Fahne hissen konnte, sondern nur eine enge Sozialwohnung. Während die Kinder aus gutbetuchten Familien sich netten Freizeitvergnügen widmen konnten, mussten die beiden im Alter von vierzehn Jahren Geld verdienen. Auch das eigene Zimmer, das man in der Pubertät auf keinen Fall missen will, ist in dieser Szene nicht für jeden selbstverständlich. Mein Freund hatte beispielsweise keins und schlief in einem Bett, das sich in der Küche neben einem brummenden Kühlschrank befand.

Ich könnte noch unzählige weitere Beispiele aufzählen, die deutlich machen, dass auch ein vierzigjähriger Sozialist durchaus noch bei Verstand sein kann. Aber das ist überhaupt nicht nötig. Das worauf es ankommt, ist die Beschränktheit des zitierten Ausspruchs zu erkennen. Er ist beschränkt auf all jene, deren politische Haltung niemals authentisch war, sondern einzig und allein auf einem pubertierenden Aufbegehren beruhte. All jene, die ihre Einstellung pünktlich mit der Beendigung des Studiums an den Nagel hängten. Um dann genauso zu werden wie der Papa.

Was immer Benedetto Croce sich bei seinem Ausspruch gedacht hat – er hat nur einen bestimmten Typus vor Augen gehabt. Und den anderen hat er bedauerlicherweise anscheinend nie kennengelernt.



Montag, 9. Januar 2012
Die Zeit wird zeigen...
Gerade läuft auf BR-Alpha die Tagesschau vor 25 Jahren, in der ein Ausschnitt aus den DDR-Nachrichten gezeigt wird. Es geht um die Reaktion auf den Vorwurf Kohls, es gäbe in der DDR Konzentrationslagern für politische Gefangene. Die DDR kontert entrüstet, dass es in der DDR keine Konzentrationslager, sondern nur Gefängnisse geben würde. In diesen befänden sich nur gewöhnliche kriminelle Straffällige und keine politischen Gefangenen. Abgesehen von Kohls erster polemischen Aussage, die Gefängnisse mit Konzentrationslagern gleichsetzt, hat sich seine zweite Aussage nach Öffnung der Mauer als durch und durch wahr erwiesen.

Mich macht dieses Lügen immer noch wütend – auch jetzt noch nach über zwanzig Jahren. Wütend, dass ein riesengroßes Unrecht einfach weggelogen wurde. Wütend über die unendlich vielen Diskussionen, in denen Ideologie gegenüber der Wahrheit immer den Kürzeren zog. Und vor allem wütend darüber, dass dieses Unrecht weder eingestanden geschweige denn gutgemacht wurde.

Und jetzt folgt auch noch eine kurze Meldung über die friedlichen Proteste chinesischer Studenten, die sich dagegen wehren, dass ihr Wunsch nach mehr Demokratie gleichgesetzt wird mit anarchistischer Zersetzung. Zwei Jahre später wurden die durch und durch friedliche Besetzung des Platzes des himmlischen Friedens in unvergleichlicher Brutalität grausam niedergeschlagen. Auch das macht mich unsagbar wütend. Mir fällt dabei der Kommentar Margot Honeckers ein, die dem chinesischen Regime vollste Berechtigung für ihr Gemetzel aussprach.

Merkwürdigerweise machen längst vergangene Nachrichten wütender als aktuelle. Denn inzwischen hat sich vieles, was damals nur vermutet wurde, als real herausgestellt. Die Zeit hat den glasklaren Beweis dafür erbracht, dass etwas zu Unrecht geschehen ist. Ändern tut sich deswegen aber noch lange nichts.



Mittwoch, 28. Dezember 2011
Schlecht geschlafen
Vorgestern habe ich mir im Fernsehen „Schindlers Liste“ angesehen. Bisher hatte ich den Film nie zu Ende gesehen und kannte nur Ausschnitte. Es ist kaum möglich, so einen Film anzusehen, ohne hinterher völlig aufgewühlt und fassungslos zu sein. Meinem Freund ging es genauso und insbesondere die Szenen mit den Kindern gingen ihm sehr nahe. Auf der anderen Seite weckt der Film auch eine Mordswut auf die Nazischergen, die mit unvergleichlichem Sadismus Menschen quälten. Ich habe im Anschluss an den Film noch ein wenig recherchiert und viele der Filmfiguren, wie z.B. die des Amon Göth, waren durchaus authentisch.

Und wie immer frage ich mich nach so einem Film nach dem Warum. Sind solche Menschen eigentlich noch Menschen oder einfach nur noch Bestien? Die Antwort lautet leider, dass es sich um Menschen handelt und dies macht die Sache noch schrecklicher, denn es wird der Abgrund deutlich, den das menschliche Wesen in sich birgt.

Bis zum Alter von etwa neunzehn Jahren war ich der Meinung, dass sich so eine Katastrophe nicht wiederholen könnte, da wir ja alle aus Auschwitz gelernt und uns weiterentwickelt hätten. Als ich dann aber eine Tätigkeit in einer Anwaltskanzlei aufnahm, kam meine Meinung ins Schwanken. Ich war plötzlich mit Menschen konfrontiert, deren Standardspruch lautete: „Issas mein Problem, oder was?“ Menschen, die vor dem Chef kuschten, als würde ihr Leben auf dem Spiel stehen. Menschen, die tagaus – tagein nur über Möbeleinkäufe, das Gedeihen ihrer Kinder und nicht anwesende Kolleginnen redeten und die nichts, absolut gar nichts anderes interessierte.

Um es deutlich zu sagen, ich glaube nicht, dass dieser Typ Mensch die Intention hätte, jemanden zu töten oder zu misshandeln. Aber dieser Typ Mensch wäre mit Sicherheit in der Lage, all diese Greultaten mitanzusehen ohne auch nur den geringsten Grund zum Eingreifen zu sehen – solange es nicht um eigene Angehörige geht. Das Gros der Menschen wird auch heute immer noch einzig und allein darauf achten, für sich selbst zu sorgen.

Und auch deswegen schlafe ich nach solchen Filmen schlecht – weil Auschwitz sich jederzeit wiederholen könnte. Auch wenn es heute mit Sicherheit wachsame Menschen gibt, die bei Absehbarkeit einer vergleichbaren Entwicklung laut aufschreien würden – an der menschlichen Natur hat sich nichts Grundlegendes geändert. Es gibt immer noch Menschen, die abgrundtief hassen. Und die Gruppe derer, auf die der Hass abzielt, ist austauschbar. Es kann sich um Menschen handeln, die einen anderen Glauben haben, einer anderen Kultur angehören, eine andere politische Meinung vertreten, eine andere Sexualität leben oder die sich keinen Geschlechtervorschriften unterwerfen wollen. Und es gibt immer noch Menschen, die ducken und selbst dann kuschen, wenn es gar nichts zu befürchten gibt.

Unweigerlich fragt man sich bei dem Ansehen eines Films wie „Schindlers Liste“, wie man selbst gehandelt hätte. Und genau das ist es, was so beunruhigend ist – man weiß es nicht. Man kann nicht sagen, wie sehr Angst das eigene Handeln gelähmt hätte. Wie groß die Furcht vor Misshandlung und Tod gewesen wäre. Der Krieg bringt im Menschen das Schlechteste hervor. Dieser Ausspruch ist leider erschreckend wahr.