Schlecht geschlafen
Vorgestern habe ich mir im Fernsehen „Schindlers Liste“ angesehen. Bisher hatte ich den Film nie zu Ende gesehen und kannte nur Ausschnitte. Es ist kaum möglich, so einen Film anzusehen, ohne hinterher völlig aufgewühlt und fassungslos zu sein. Meinem Freund ging es genauso und insbesondere die Szenen mit den Kindern gingen ihm sehr nahe. Auf der anderen Seite weckt der Film auch eine Mordswut auf die Nazischergen, die mit unvergleichlichem Sadismus Menschen quälten. Ich habe im Anschluss an den Film noch ein wenig recherchiert und viele der Filmfiguren, wie z.B. die des Amon Göth, waren durchaus authentisch.

Und wie immer frage ich mich nach so einem Film nach dem Warum. Sind solche Menschen eigentlich noch Menschen oder einfach nur noch Bestien? Die Antwort lautet leider, dass es sich um Menschen handelt und dies macht die Sache noch schrecklicher, denn es wird der Abgrund deutlich, den das menschliche Wesen in sich birgt.

Bis zum Alter von etwa neunzehn Jahren war ich der Meinung, dass sich so eine Katastrophe nicht wiederholen könnte, da wir ja alle aus Auschwitz gelernt und uns weiterentwickelt hätten. Als ich dann aber eine Tätigkeit in einer Anwaltskanzlei aufnahm, kam meine Meinung ins Schwanken. Ich war plötzlich mit Menschen konfrontiert, deren Standardspruch lautete: „Issas mein Problem, oder was?“ Menschen, die vor dem Chef kuschten, als würde ihr Leben auf dem Spiel stehen. Menschen, die tagaus – tagein nur über Möbeleinkäufe, das Gedeihen ihrer Kinder und nicht anwesende Kolleginnen redeten und die nichts, absolut gar nichts anderes interessierte.

Um es deutlich zu sagen, ich glaube nicht, dass dieser Typ Mensch die Intention hätte, jemanden zu töten oder zu misshandeln. Aber dieser Typ Mensch wäre mit Sicherheit in der Lage, all diese Greultaten mitanzusehen ohne auch nur den geringsten Grund zum Eingreifen zu sehen – solange es nicht um eigene Angehörige geht. Das Gros der Menschen wird auch heute immer noch einzig und allein darauf achten, für sich selbst zu sorgen.

Und auch deswegen schlafe ich nach solchen Filmen schlecht – weil Auschwitz sich jederzeit wiederholen könnte. Auch wenn es heute mit Sicherheit wachsame Menschen gibt, die bei Absehbarkeit einer vergleichbaren Entwicklung laut aufschreien würden – an der menschlichen Natur hat sich nichts Grundlegendes geändert. Es gibt immer noch Menschen, die abgrundtief hassen. Und die Gruppe derer, auf die der Hass abzielt, ist austauschbar. Es kann sich um Menschen handeln, die einen anderen Glauben haben, einer anderen Kultur angehören, eine andere politische Meinung vertreten, eine andere Sexualität leben oder die sich keinen Geschlechtervorschriften unterwerfen wollen. Und es gibt immer noch Menschen, die ducken und selbst dann kuschen, wenn es gar nichts zu befürchten gibt.

Unweigerlich fragt man sich bei dem Ansehen eines Films wie „Schindlers Liste“, wie man selbst gehandelt hätte. Und genau das ist es, was so beunruhigend ist – man weiß es nicht. Man kann nicht sagen, wie sehr Angst das eigene Handeln gelähmt hätte. Wie groß die Furcht vor Misshandlung und Tod gewesen wäre. Der Krieg bringt im Menschen das Schlechteste hervor. Dieser Ausspruch ist leider erschreckend wahr.




Ich kann verstehen, dass Du schlecht geschlafen hast. Ich weiß noch, wie ich mit 17 aus dem Kino kam und mich das tage- und wochenlang beschäftigte. Ich habe Seiten meines Tagebuches mit Gedanken dazu gefüllt - fassungslos auch deshalb, weil kein Geschichtsbuch mir bis dahin in dieser Drastik deutlich machen konnte, was eigentlich im Dritten Reich geschah.

Du solltest mal Arno Gruen lesen, falls Du nicht schon hast. Ich habe jüngst zwei Bücher von ihm verschlungen, und ich will bestimmt nicht nachbeten, was er schreibt, aber ich hatte bei vielem das Gefühl, seine Überlegungen zu dem Thema sind stimmig. Wenn auch an manchen Stellen etwas konfus, bewegt und beschäftigt mich "Der Verlust des Mitgefühls" am meisten.

Und demzufolge liegt auch für mich der Schluss nah, dass sich Auschwitz wiederholen könnte - so wir nicht erkennen, was es ist, das uns Menschen zu solchen Dingen befähigt.

Ich habe mir in Wikipedia den Artikel über Arno Grün durchgelesen, klingt sehr interessant und erinnert mich an Alice Miller und auch an H.E. Richter. Insbesondere die Geschichte mit dem Stock fand ich sehr bezeichnend – Kinder, die sich darum reißen, einen Stock zu kaufen, mit dem sie dann geschlagen werden.

Ich weiß, es ist immer eine heikle Sache, etwas mit Auschwitz zu vergleichen und im Studium hat es mich ziemlich genervt, dass mit dem Begriff „faschistoid“ inflationär umgegangen wurde. Allerdings bin ich nicht auch nicht ganz frei davon und bei manchen Menschen, frage ich mich schon manchmal, ob es Ähnlichkeiten mit dem Denken eines „Herrenmenschen“ gibt.

Es kann sein, dass jemand, der andere gewissenlos ausnutzt und der nur an sich und seine Abkömmlinge denkt, noch weit davon entfernt ist, an einer Todesmaschinerie wie Auschwitz mitzumachen und Menschen in den Tod zu schicken. Aber es gibt eben auch eine Grauzone. In der befinden sich all jene, die völlig skrupellos alles tun würden um sich selbst Vorteile zu verschaffen. Menschen, die zwar keine Sadisten sind, aber die durch ihre Drang nach Vorteilssuche andere im Dreck verrecken lassen.

Wenn ich an meinen früheren Chef denke, dem einerseits die Ausbildung seines begabten Lehrlings schnurz-piepe-egal war und der andererseits einen Riesenaufstand veranstaltet hat, damit sein eigenes lernschwaches Kind doch noch irgendwie zum Abitur kommt, dann kann ich mir – bei aller Phantasie – nicht vorstellen, dass es ihn sonderlich belasten würde, wenn Nachbarn plötzlich verschwinden würden oder wenn vor seinen Augen jemand misshandelt werden würde. Besagter Chef hatte einen ausgesprochenen Standesdünkel, der sich kaum noch von einer „Herrenmenschenhaltung“ unterschied. Der Gegensatz zu den „Herrenmenschen“ des dritten Reichs bestand darin, dass er diejenigen, auf die er herabguckte, nicht mit Hass verfolgte und vernichten wollte, sondern ihm das Ausnutzen völlig ausreichte.

Ich weiß, es sind immer die eigenen Anteile, die man an anderen Menschen so hasst. Aber können es nicht auch Identifikationen sein? Sich nicht mit dem Stärkeren, sondern mit dem Schwächeren zu identifizieren? Vielleicht ist auch das eine Altlast, nämlich die dem Menschen innewohnende Erinnerung daran, dass man selbst einmal schutzbedürftig und hilflos war.

Genau darauf nahm Gruen in den beiden Büchern, die ich bislang von ihm las, Bezug. Dass die Identifikation mit den Tätern aus genau dem Grund heraus entsteht, dass man im Grunde seines Herzens weiß, was es bedeutet zu leiden und dass man diesen Zustand und seine Wiederholung fürchtet. Sich dem wirklich zu stellen bedeutete eine Auseinandersetzung mit dem Gefühl von Schwäche, Furcht und Nichtswürdigkeit, und anstatt das erneut erleben zu wollen, geht man hin und projiziert das Ausmaß an Selbsthass, dass man angesichts der eigenen Schwäche erlebt, auf andere, die man dann stellvertretend verachtet.

Ich fand diese Erklärungen sehr stimmig - wie gesagt, ich will Gruen nicht nachbeten, aber ich hatte manchen Aha-Effekt. Auch mich erinnerte er an Richter und Miller, und ich weiß ja, dass Du beide gelesen hast. Falls sich also Möglichkeit und Zeit ergeben, lohnt sich die Lektüre von Gruen.

Ab welchem Punkt der besagte Standesdünkel umkippt in brutale Gewalt, kann ich natürlich auch nicht genau sagen. Aber dazu war z.B. das Milgram-Experiment recht aufschlussreich.

Dir ein schönes neues Jahr, übrigens.

Auch ich wünsche Dir ein schönes Neues Jahr, in dem sich Deine Wünsche und Hoffnungen erfüllen.

Das Milgram-Experiment habe ich ausführlich in der Schule durchgenommen, war sehr schockierend. Es gibt dazu übrigens mittlerweile eine Art "Neuauflage"

Dass sich diese ganzen Psychopathen in den Lagern austoben konnten, verdanken sie den Millionen, die "nur ihren Job gemacht haben".

Sollte sich so etwas wie die Shoa wiederholen, dann unter anderen, wesentlich "moderneren" Bedingungen; das 21. Jahrhundert steckt schließlich noch in den Kinderschuhen und mit ihm auch eine mögliche neue Ideologie, die einer großen Masse von Menschen das (industrialisierte) Töten anderer zu "verkaufen" in der Lage wäre.

Dummheit ist zeitlos
Wobei die möglichen neuen Technologien bei mir weniger Angst auslösen, als eben jene Menschen, die „nur ihren Job machen“ – oder wie es die Bürohilfe eines Kollegen in steter Regelmäßigkeit formuliert „ihren Arbeitsauftrag erfüllen“.

Habe gerade den Film „Der Vorleser“ gesehen, in dem es ja haargenau so formuliert wurde: „Wir hatten doch unseren Auftrag!“. Ich hätte nie gedacht, dass sich diese plumpe Denkweigerung so hartnäckig bis in die jetzige Zeit erhalten würde.

Stimmt, neue Technologien an sich sind nicht das Problem. Die Frage ist halt, wie Staaten, Gruppen oder einzelne Individuen damit umgehen. Hinzu kommt das wachsende Element der "Entfremdung".

Was geht z. B. eigentlich in einem Soldaten vor, der in irgendeiner Kommandozentrale vor dem Bildschirm sitzt, eine Drohne mit dem Joystick bedient und Ziele bombardiert, wo er doch nicht mal (wie ein Pilot) vor Ort ist?

Oder man stelle sich vor, das Nazi-Regime hätte über Überwachungsmethoden verfügt, die es heute gibt.

Und so weiter und so fort ...