Der Tod des Eros
Sex ist unkompliziert, wenn man von keinem Komplex, sondern von einem Bedürfnis geleitet wird.
Georges Simenon (1903-1989)
Revolutionen enden meist anders, als man es sich erhofft hat und es treten Entwicklungen ein, die keiner erwartet hätte. Auch die sogenannte sexuelle Revolution war mit einer Menge Hoffnung verbunden. Und die schien sich zuerst auch zu erfüllen. Endlich war Schluss mit einer lebens- und lustfeindlichen Moral. Endlich wurde aufbegehrt gegen selbstgefällige Tugendwächter, die meinten, anderen vorschreiben zu müssen, was gut und was schlecht ist. Endlich durfte man die eigenen Wünsche ausleben. Endlich war Schluss mit überkommenen Rollenzwängen und lustfeindlichen Wertvorstellungen. Eigentlich hätte alles in paradiesische Zustände münden müssen. Sind wir aber tatsächlich im Paradies angekommen?
Leben wir jetzt tatsächlich im paradiesischen Zustand einer rundum erfüllten und glückseligen Sexualität? Eigentlich müsste dies der Fall sein. Denn mittlerweile gibt es keine einschränkenden Tabus mehr. Niemand muss sich mehr für seine Neigungen schämen. Es gibt nichts mehr, was noch mit irgendeinem Tabu belegt wäre oder was irgendjemandem peinlich wäre. Und da in einem von Medien geprägten und bestimmten Zeitalter nichts mehr privat ist, werden auch Neigungen und Vorlieben publik, von denen der ein- oder andere bisher nicht ahnte, dass es sie gibt. Sex im KZ-Ambiente, Sex in Windeln, Sex geknebelt und gefesselt, Sex im Swinger-Club vor den Augen dreißig Gleichgesinnter, Mumien-Sex e.t.c.
In den Medien tummeln sich unzählige Chantals, Nataschas und sexy-Sandys, die nach eigenen Aussagen „auch mal etwas zickig“ sind, oder „es auch mal etwas härter“ mögen. Frauen, die dringend nach einem Mann suchen, mit dem sie „Neues auf erotischem Gebiet“ ausprobieren können und die für „nahezu alles offen sind“. Für nur 1,99 €/min werden alle Wünsche erfüllt. Der einzige Wermutstropfen ist, dass den meisten Männer bewusst wird, dass die eigene Partnerin dem Vergleich mit diesen allzeit bereiten Superfrauen meist nicht standhält. Oder noch schlimmer - es gibt gar keine Partnerin, so dass man(n) in der realen Welt gar nicht weiß, wohin denn nun mit der entfachten Lust.
Auch wenn das Gebiet des Käuflichen (noch) vorwiegend auf männliche Kunden begrenzt ist, so sind es mittlerweile doch nicht mehr auschließlich Männer, die für sexuelle Darbietungen zahlen. Bei Betriebsausflügen oder Polterabenden zeigen Frauen, dass sie bei den Shows der sich auf der Bühne verausgabenden Chippendales genauso johlen können wie man es früher irrtümlich nur bei Männern für möglich hielt.
Und endlich dürfen wir auch unseren Körper zeigen. Vorbei sind die Zeiten, in denen knappe Badeanzüge oder durchsichtige Blusen Anstoß erregten. Jetzt ist es durchaus normal, Großaufnahmen seiner Geschlechtsteile ins Internet zu stellen oder aber live vor der Cam zu masturbieren. Oder man verschenkt in der Öffentlichkeit seinen String, so wie es Heidi Klum vor einiger Zeit auf einer Après-Oscar-Feier getan hat.
Auch das, was man jetzt so zum Sex benötigt, muss nicht mehr heimlich und verschämt gekauft werden. Genauso wie es Tupperfeten gibt, gibt es jetzt auch endlich Sextoyfeten. Nicht zu vergessen die diversen Sexshops, in denen man von plüschgepolsterten Handschellen bis hin zur Krankenschwesternoutfit ist alles findet, was der Unterleib begehrt.
All dies ist wird gleichgesetzt mit einer lustvollen und erfüllten Sexualität. Und wehe dem, der daran auch nur den leichtesten Zweifel äußert. Dabei kann es sich doch nur um jemanden handeln, der stockverklemmt und scheinheilig ist. Bei weiblichen Zweiflern wird zwangsläufig auch sofort ausgeprägte Frigidität, Unattraktivität oder biblisches Alter vermutet. Nein – niemand, der eine freie und natürliche Sexualität hat, würde jemals Zweifel an der großen Befreiung der sexuellen Revolution äußern. Es gibt doch nichts Schöneres, als der Zustand, in dem alles erlaubt ist. Und ein Erfolg für die Toleranz ist es allemal. Last-not-least dann das Argument, dass man andere doch so leben lassen solle, wie sie eben leben möchten.
Das tue ich auch – aber ich stimme nicht ein in das Hohelied der ach-so-freien Sexualität. Wer gern in einer KZ-Uniform Sex hat, soll das tun. Wem es Höhepunkte verschafft, Frauen als Schlampen zu bezeichnen oder wer gern das Geschlechtsteil seiner Frau im Internet – gemeinsam mit vielen anderen – betrachtet, soll das tun. Wem es sexuelle Glücksgefühle verursacht, in der Öffentlichkeit Windeln zu tragen, soll das tun. Was mich betrifft – ich empfinde weder KZ-Uniformen noch Windeln als besonders erotisch. Und Männer, deren Potenz davon abhängig ist, Sex mit einer Litanei von Fäkalausdrücken zu verbinden, langweilen mich. Männer, denen es Vergnügen bereitet, nächtelang mit offenem Mund und offener Hose vorm PC gynäkologische Großaufnahmen anzustarren, ebenfalls.
Das, was als ursprünglich als Befreiung anfing, endete woanders. Die Absage an Tabus ist zum zwanghaften Selbstzweck geworden. Aus dem Kampf gegen Verbote ist die Fixierung auf das Verbotene geworden. Von diesem Tabubruch wird jetzt der ultimative letzte Kick erwartet. Das tun, was man normalerweise nicht tut, wird zur Obsession. Das Ganze hat allerdings einen Haken – wenn es einzig und allein darum geht, Tabus zu brechen, wird irgendwann die Situation eintreten, dass es keine Tabus mehr gibt, und somit versiegt irgendwann die Quelle der Lust.
Etwas ist mit Sicherheit bei der ganzen Entwicklung endgültig verlorengegangen – Sinnlichkeit. Eros, der griechische Gott der Liebe und Erotik, den man so oft als kleinen pausbackigen Engel darstellt, der listig und unerwartet mit Liebespfeilen schießt, ist bei alldem arbeitslos geworden. Man braucht ihn einfach nicht mehr.
Arabischer Stolz – westlicher Atheismus
Ich war ein bisschen überrascht, dass die gerade angesehene Diskussion bei Anne Will über die Tötung Bin Ladens nicht ganz so platt lief, wie die meisten der bisherigen Diskussionen (auch hier in den Blogs).
Vom völkerrechtlichen Standpunkt aus gibt es keine Zwischenpositionen, sondern nur ein ganz klares Nein, denn es handelte sich nicht um zwei Völker, die sich im Kriegszustand befinden. Vom pragmatischen Standpunkt aus, der verhindern will, dass sofort mit Vergeltungsanschlägen gedroht werden würde, wenn man Bin Laden nicht freilässt, ist das Vorgehen wiederum verständlich.
Das eigentlich Problematische ist, dass gegen Terrorismus mit genau den Mitteln vorgegangen wird, die man vorgibt, bekämpfen zu wollen. Da wird es dann unlogisch und in letzter Konsequenz nicht mehr nachvollziehbar. Man will die Werte der Rechtsstaatlichkeit und der Demokratie verteidigen, indem man vermeintliche Feinde wider jegliche rechtsstaatlichen Prinzipien einfach liquidiert.
Herta Däubler-Gmelin sagte, sie hätte Bin Laden gern vor Gericht gesehen und sie wies auf den Eichmann-Prozess hin. Meiner Meinung gibt es allerdings erhebliche Unterschiede zwischen Eichmann und Bin Laden. Das Dritte Reich gab es nicht mehr, als Eichmann in Israel vor Gericht gestellt wurde. Man zog einen Mittäter eines bereits vergangenen Systems, von dem keine unmittelbare Bedrohung mehr ausging, zur Rechenschaft. Al Kaida ist nach wie vor aktiv und stellt Gegenwart dar.
Was allerdings wiederum vergleichbar ist, ist die Tatsache der offenen Auseinandersetzung. Der Eichmann-Prozess stellt für mich ein Lehrstück über den autoritätsgläubigen Charakter dar. Man ist in den Dialog getreten mit jemandem, der Teil eines Massenmordes war. In eben diesen Dialog ist man mit Bin Laden nicht getreten. Und genau wie Herta Däubler-Gmelin empfinde ich dies als ein Versäumnis.
Interessant war der Hinweis des Bruders einer beim Anschlag vom 11/09 ums Leben gekommenen Frau auf die völlige Ignoranz der Ursachen des Terrorismus. Seiner Meinung nach eine Folge der Verteilungsungerechtigkeit. Ich stimme da zwar nicht völlig zu, denn sowohl Bin Laden als auch die Attentäter vom 11/09 entstammten wohlhabenden und gebildeten Familien. Was allerdings die Masse der Mobilisierten betrifft, so muss man zustimmen, denn die große Mehrheit der Sympathisanten gehört der armen und bildungsschwachen Schicht an.
Was mir am meisten gefiel war der Ansicht Richard David-Prechts, der anzweifelte, dass man durch Kriegsbeteiligung in arabischen Ländern etwas für deren Demokratisierung tun würde. Und dann kam der Satz, den ich zehnmal unterstreichen könnte: „Arabische Länder verfügen über einen ungeheuren Stolz, der dadurch erheblich verletzt wird, dass die reichen Industrienationen ihnen vorschreiben wollen, wie sie zu leben hätten“. Genau darum geht es meiner Meinung nach. Dem Westen geht es - zumindest materieller Hinsicht – sehr viel besser. Die reichen Araber lassen ihre Söhne in westlichen Staaten studieren, lassen ihre Krankheiten in den Kliniken westlicher Staaten behandeln und kaufen Qualitätserzeugnisse aus dem Westen. Das versetzt dem Stolz auf die eigene Kultur einen empfindlichen Schlag. Für den der Westen aber erstmal nicht verantwortlich ist, denn niemand zwingt arabische Staaten zur Teilhabe an westlicher Kultur.
Es ist dieser ausgeprägte Stolz der arabischen Länder, der der Grund für die Auflehnung gegen die Vormachtstellung der westlichen Kultur ist. Und dabei verhalten sich die arabischen Länder bemerkenswert inkonsequent, denn einerseits gehen sie genauso wie wir der westlichen Philosophie des Materialismus auf den Leim und andererseits wollen sie ihre Identität behalten.
Die arabische Kultur ist eine Kultur, in der Religion immer noch ein wichtiger Teil der Gesellschaftsordnung ist. In der westlichen Welt hingegen spielt Religion kaum noch eine Rolle. Und nicht nur das, Religion wird von unserer westlichen Kultur mittlerweile als etwas so Rückständiges und Ungebildetes angesehen, dass die meisten sie so schnell wie möglich abgeschaffen möchten. Mit anderen Worten – Staaten, die nicht so säkular wie wir sind, müssen unserer Ideologie zufolge rückständig und ungebildet sein. Für die arabischen Staaten ist dies ein Affront. Trotzdem lassen sie sich von unserer schönen bunten Warenwelt beeindrucken. Das kann nicht funktionieren. Und endet in den Anschlägen des 11/09.
World Trade Center – das Welthandelszentrum. Der Ort, an dem bestimmt wird, was wo gekauft und verkauft wird. Der Ort, an dem sich Macht und Geld konzentriert hatte. Mir tut es um jedes einzelne der Opfer leid. Aber wären bei dem Anschlag keine Menschen ums Leben gekommen – mir hätte es nicht leid getan.
Und jetzt wieder zurück zur Frage, ob Amerika Bin Laden töten durfte oder nicht. Hätte es meiner Meinung nach nicht. Aber mein Mitleid hält sich in Grenzen. Und ich empfinde es als völlig fehl am Platz, jetzt darüber Diskussionen anzuzetteln, ob man sich über Bin Ladens Tod freuen dürfe oder nicht. Man sollte stattdessen mal das tun, was der Bruder eines Opfers vorschlägt: Sich Gedanken über die Verteilungsgerechtigkeit machen. Und darüber hinaus sollte man sich auch mal Gedanken darüber machen, ob der Erhalt und die Steigerung unserer schönen bunten Warenwelt tatsächlich das Optimum einer Kultur darstellt. Und Gedanken darüber, ob tatsächlich jeder Gläubige ein zurückgebliebener Idiot ist.
Und als Hausaufgabe für die arabischen Länder: sich endlich mal Gedanken darüber machen, ob Menschenrechte nicht genauso eine Berechtigung wie Religion haben. Und Gedanken darüber, ob Gleichberechtigung, Demokratie und Freiheit tatsächlich Teufelswerk sind.
Ein altes Lebensgefühl
Eben gerade bin ich zurückgekommen vom Hamburger Hafengeburtstag. Es ist schon Ewigkeiten her, dass ich an diesem Fest teilgenommen habe, da es mir meist zu voll ist. Jetzt wollte ich aber unbedingt mal wieder die Einlaufparade der Schiffe sehen. Da es am Kai zu drängelig war, machten wir kurzentschlossen eine Hafenrundfahrt. Und dadurch waren wir mittendrin im Geschehen. Herrliche alte Segelschiffe, Dampfer und sogar ein paar Kreuzfahrtschiffe. Außerdem ein kurzer Abstecher in die schöne alte Speicherstadt. Dazu schönster Sonnenschein und der Geruch von Meer, den ich so liebe.
Wieder zurück an Land haben wir uns dann in das Getümmel gestürzt. Und nach langer Zeit habe ich mal wieder getanzt, denn ich bin tatsächlich auf eine Gruppe gestoßen, die genau die Musik spielte, die mir gefällt. Mir tun die Füße weh und ich bin total erschöpft. Ich hatte völlig vergessen, dass Tanzen Spaß macht. Summer in the city von Lovin Spoonful, Rollin on the river von Ike & Tina Turner, Sweet Home Alabama von Lynyrd Skynyrd und Whatever you want von Status Quo. Dazu noch zwei Gläser eiskalter Sangria und vielleicht sogar ein – oder zwei kleine Flirts – und plötzlich erinnert man sich wieder an das Lebensgefühl, das man hatte, als man noch inmitten des Geschehens war und nicht irgendwo am Rande.
Je länger die Gruppe spielte, desto mehr Menschen kamen hinzu, denen die Musik ebenfalls gefiel. An sich etwas völlig Normales. Aber irgendwie auch nicht. Die Menschen unterschieden sich völlig von denjenigen, mit denen ich in meinem Alltag zu tun habe. Ich habe mich unter diesen Menschen heute Abend nicht viel anders gefühlt, als vor dreißig Jahren. Menschen, die vor Lebensfreude strotzen und nichts anderes verkörpern wollen, als das, was sie tatsächlich sind.
Mir gibt es zu denken, das es mir zu denken gibt. Etwas, was früher so normal war, das ich es gar nicht wahrgenommen habe, löst heute bei mir philosophische Anwandlungen aus. Ich habe einen Abend in einer Situation verbracht, die Welten entfernt ist von der Welt, in der ich normalerweise lebe. Meine normale Welt ist die der Bürofräulein und der schauerlichen Gespräche über gänzlich überflüssige Dinge. Eine Welt, deren Geistlosigkeit und Konformität von der ängstlichen Sorge geprägt wird, irgendwo aufzufallen.
Das Leben kann herrlich unkompliziert sein – daran habe ich mich heute wieder erinnert. Es gibt Orte und Situationen, an denen man Kraft auftanken kann. Es gibt Dinge und Menschen, die krank machen. Aber es gibt eben auch Dinge und Menschen, an denen man gesunden kann. Durch die man wieder spürt, dass man völlig richtig ist, so wie man ist und absolut nichts verkehrt ist.
Nichts, aber auch gar nichts ist verkehrt daran, kein kleines Bürofräulein zu sein.
behrens am 07. Mai 11
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