Mittwoch, 4. Mai 2011
Für Iris
Ich habe gewusst, dass es irgendwo in meinen Gedichtbänden ein Gedicht gibt, dass zu unserem Grabstein passt. Was man bei den lebenden Menschen nicht findet, findet man bei toten Dichtern:

Auf dem Kirchhof
Der Tag ging regenschwer und sturmbewegt
ich war an manch vergessnem Grab gewesen.
Verwittert Stein und Kreuz, die Kränze alt,
die Namen überwachsen, kaum zu lesen.

Der Tag ging sturmbewegt und regenschwer,
auf allen Gräber fror das Wort: Gewesen.
Wie sturmestot die Särge schlummerten,
auf allen Gräbern taute still: Genesen.

Detlev Liliencron (1844-1909)



Sonntag, 1. Mai 2011
Verlorenes und Wiedergefundenes
War nach längerer Zeit mal wieder in meinem Heimatdorf im Alten Land. Und wie immer war dies aufwühlend. Einerseits die Dinge, die unverändert sind, wie die Pracht der Obstblüte, die Schönheit der über 400 Jahre alten Kirche und die alten Bauernhäuser mit dem Altländer Tor. Und andererseits die Dinge, die sich völlig verändert haben. Durch die Airbuserweiterung wurden Häuser aufgekauft, die jetzt leer stehen und langsam verfallen, wodurch der Eindruck einer Geisterstadt entsteht. Da das Versprechen von mehr Arbeitsplätzen mittlerweile zu etwas fast schon Heiligem geworden ist, vor dem man sich ehrfürchtig beugen muss, konnte die Airbuserweiterung nach anfänglichem Protest durchgesetzt werden. Mit den vielen neuen Arbeitsplätzen hat es trotz allem nicht geklappt.

Das alte Strohdachhaus meiner Großeltern, das Haus meiner Freundin, unsere Schule und der Spielplatz vor der Kirche – alles erscheint immer viel kleiner, als man es aus der Kindheit in Erinnerung hat. Bei den Apfelbäumen hat dies übrigens einen ganz realen Grund: die früher großen und ein wenig verknorpelten Apfelbäume sind einer Züchtung von kleinen Bäumen gewichen, da man jetzt ohne Leiter Apfel ernten kann. Erinnert mich ein wenig an Bonsai-Bäumchen. Schon lange gibt es auch die sogenannten Klappermühlen nicht mehr, deren Klang für mich immer mit dem Sommer verbunden war. Jetzt schützt man sich vor den hungrigen Vögeln mit großen Netzen.

Ich sah mir auch die schöne alte Kirche an, in der ich und diverse meiner Vorfahren getauft wurden und in der ebenfalls meine Vorfahren geheiratet hatten und konfirmiert wurden. Und bevor man eine spezielle Beerdigungskapelle geschaffen hatte, wurde dort auch der Trauergottesdienst abgehalten.

Und jetzt möchte ich kurz die Geschichte dieses Fotos erklären. Als Kind bin ich mit meiner Freundin einmal über den alten Friedhof gegangen. Der um die Kirche angelegte alte Friedhof wurde schon seit vielen Jahren nicht mehr genutzt und es gab nur noch sehr alte Gräber. Auf evangelischen Friedhöfen ist es eher unüblich, Grabsteine mit Fotos zu versehen und so fiel uns beiden sofort der einzige Grabstein mit einem Foto auf. Das Foto zeigt eine Frau in der Altländer Tracht. Meine Freundin und ich waren sehr beeindruckt. Irgendwann wurden dann die meisten der Gräber bis auf einige wenige entfernt.

Vor einigen Jahren als Erwachsene besuchten meine Freundin und ich wieder unser Heimatdorf und dabei auch die Kirche und den alten Friedhof. Und wir waren über alles enttäuscht, dass „unser“ Grabstein nicht mehr vorhanden war. Ich erinnere noch, wie meine Freundin nochmals betonte, wie ungewöhnlich der Grabsein sei und wie schade, dass man alles der Modernisierung opferte.

Meine Freundin war genau wie ich eine Liebhaberin alles Alten und genau wie ich liebte sie Reetdachhäuser, Kachelöfen und alte Möbel. So konnte sie sich immer wieder darüber aufregen, dass die inzwischen in ihrem Elternhaus lebende Familie als erstes den alten schönen Kachelofen rausriss und stolz die Zentralheizung präsentierte. Und genau wie ich empfand sie es ausgenommenen Stilbruch, dass man die alten mit viel Schnitzereien verzierten Eingangstüren der Bauernhäuser durch geschmacklose 60er Jahre Kunststofftüren ersetzt hatte.

Als ich jetzt wieder einmal über den alten Friedhof ging, nahm ich mir sehr viel Zeit für jedes Grab. Und plötzlich stand ich vor „unserem“ Grab. Irgendwie mussten wir es bei unserem letzten Besuch übersehen haben. Ich dachte sofort an meine Freundin, die inzwischen verstorben ist. Gern würde ich es ihr erzählen, dass die Freunde der gnadenlosen Modernisierung doch soviel Erbarmen hatten, den schönen alten Grabstein nicht zu zerstören.

Von dem Paradies unserer Kindheit ist inzwischen viel zerstört worden. Immer dem Prinzip folgend, dass Altes dem Neuen weichen muss. Zumindest dann, wenn es um Geld geht oder um Rationalisierung. Es ist so wenig übrig von dem, was mir vertraut ist und was mir etwas bedeutet. Und deswegen hat dieses kleine Fundstück für mich soviel Bedeutung. Die Frau auf dem Bild, die irgendwann Mitte 1800 gestorben ist, kenn ich nicht. Und trotzdem bedeutet mir ihr Grabstein etwas.



Samstag, 23. April 2011
Das Eva Braun Syndrom ist kein deutsches Phänomen (auch oder gerade in der Light-Version)
Vor kurzem habe ich mir eine Reportage über die Reaktionen zu den Mohammed- Karikaturen angesehen. Ich will hier nicht auf den Wahnwitz eingehen, dass ein paar Zeichnungen bürgerkriegsähnliche Zustände mit etlichen Todesopfern auslösten. Was bei den Bildern der Demonstrationen und Gewaltausbrüchen meine Aufmerksamkeit auf sich zog, waren die im Hintergrund jubelnden und kreischenden Frauen. Jene Frauen, die ihre Männer, Brüder und Söhne beim Stürmen von Gebäuden und beim Brandbombenwerfen hysterisch anfeuerten. Die gleichen Frauen, die vielleicht nur wenige Stunden vorher liebevoll mit ihren Kindern gespielt haben, fürsorglich das Essen für die Familie gekocht haben und die aufmerksam dafür sorgen, dass das Heim gemütlich und behaglich gestaltet ist.

Eben diese fürsorglichen und liebevollen Frauen feuern ihre Männer bei ihren Gewaltausbrüchen an. Frauen, die kein Problem damit haben, dass der eigene Ehemann vielleicht gerade vor ein paar Stunden mit einem Anschlag Menschen (darunter vielleicht auch Kinder) getötet hat.

Die Welt ist voll von solchen Frauen, die die Gewalt ihrer Männer bejubeln. Es ist ein weltweites Phänomen, das seit Urzeiten existiert, und das ich als Eva Braun-Syndrom bezeichne. Dieses Syndrom ist weder auf die arabische Welt noch auf Deutschland beschränkt, sondern es ist ein Phänomen, dass sich durch ausnahmslos alle Kulturen und durch alle Epochen zieht. Eva Brauns Schwestern sind überall und heißen Margot, Aischa, Jian, Elena, Khieu, Evita oder Carmen.

Manche dieser Frauen bleiben ihr Leben lang im Schatten, andere steigen zu eigenem Ruhm auf. Einige beteiligen sich der Politik, anderen reicht der Raum des Privaten völlig aus. Einige gehen voll und ganz in der Rolle der mütterlichen Gefährtin und Gebärerin auf, andere bevorzugen die Rolle der mondänen in Haute Couture gekleideten Schönheit.

Aber alle diese Frauen haben eines gemeinsam – die Sehnsucht nach dem starken Mann, der Schutz und Sicherheit verspricht. Und wenn irgend möglich, nicht irgendeinen Mann, sondern die Nummer eins – das Alphamännchen. Denn was stellt eine bessere Garantie für die sichere Aufzucht des Nachwuchses und ein sorgenfreies Leben dar als ein Alphamännchen? Und so wie es für Eva Braun sogar mitten im Bombenfeuer und drohendem Untergang nichts Wichtigeres gab, als endlich den eigenen Namen loszuwerden und gegen den des Führers einzutauschen, so ist es Evas Schwestern auch heute noch völlig gleichgültig, in was für Monstrositäten ihr Alphamännchen verstrickt sein mag – Hauptsache, sie werden geheiratet.

Dafür wird dann so manches in Kauf genommen, wie z.B. der Umstand, dass Alphamännchen in der Regel mit anderen Dingen beschäftigt sind als mit ihren Gefährtinnen. “Von nichts kommt schließlich nichts” ist dann die knappe Erklärung für die häufige Abwesenheit und den geringen Einsatz im familiären Feld. Aber da Alphamännchen naturgemäß zu den wohlsituierten Vertretern ihres Geschlechts gehören, gibt es ausreichend materiellen Ersatz für persönliche Mankos.

Eva Brauns Schwestern leben überall. Und diese Schwestern verbindet eine ausgeprägte Gleichgültigkeit für alles, was nicht unmittelbar mit der Familie zu tun hat. Und während der Mann Bomben wirft, Todesurteile unterzeichnet oder Menschen wie Sklaven schuften läßt, bereitet Maria liebevoll die Erstkommunion des Sohnes vor, läßt Leyla sich im Hamam verschönern, versorgt Jian fürsorglich die Familienmitglieder mit lukrativen Posten und plant Katharina die erste Modenschau der Tochter.

Jedes Mal, wenn ich etwas über Folter, Krieg, Terrorismus oder Ausbeutung lese, höre oder sehe, kommt mir sofort der Gedanke, dass zu all diesen Monstern auch eine Frau gehört. Jeder Kapo, jeder Henker, jeder Juntaanghörige, jeder Diktator, jedes Mafiamitglied hat eine Frau oder Geliebte an seiner Seite. Und ich muss ehrlich sagen - manchmal ekel ich mich vor meinen Geschlechtsgenossinen. Und mich beschwichtigt dabei weder die Arme-Opfer-Theorie noch irgendwelche psychoanalytischen Erklärungsmodelle.

Und selbst wenn ich mich dieser Thematik nicht mehr widmen würde – es gibt immer noch die alltägliche Realität, der man nicht entfliehen kann. Hier gibt es zwar keine Militärjunta, keine Mafia und keine Folter. Aber es gibt jede Menge Alphamännchen, die ihren Fuß überall hinsetzen und vor denen nichts sicher ist. Männer, die andere auf erbärmliche Art ausnutzen, Männer, die sich an allem und jedem bereichern und die das Auftreten von Obersturmführern haben, das andere in Angst und Schrecken versetzt. Männer, die erbarmunglos jeden Hauch von Kritik niederwalzen und die damit eine Kettenreaktion von Unterwerfung auslösen.

Man könnte diese Exemplare “Diktator-light” nennen. Und auch diese Light-Diktatoren finden bei der Partnerwahl ihre Entsprechung. Denn für jeden "Light-Diktator” findet sich irgendwann auch eine “Eva Braun-light”. Eine kleine unpolitische immer nette Eva. Eine Mutter Theresa, die alles verzeiht und alles versteht. Mit einer Ausnahme – man darf ihr Pendant nicht angreifen. Dann weckt man in ihr die Löwenmutter, die ihr Junges verteidigt. Eva Braun-light ist die passive Variante einer Komplizin. Sie schießt nicht selbst, aber sie guckt milde lächelnd zu, wenn ihr Mann schießt. Sie würde niemanden betrügen, aber keine Macht der Welt würde sie dazu bringen, einzugreifen, wenn ihr Mann betrügt (es sei denn, sie selbst ist die Betrogene…). Eva Braun-light ist der Archetypus der Jasagerin, der immer Angepassten. Der Archetypus der ewig Zuschauenden, die für sich immer die Generalentschuldigung “Ich habe doch gar nichts getan” in Anspruch nimmt – und damit noch nicht einmal Unrecht hat.

Männer legen die Welt in Schutt und Asche. Und ihre Frauen sehen ihnen dabei zu. Manchmal laut jubelnd, manchmal nachsichtig lächelnd. Aber auf jeden Fall die archaische Rolle des ewig Passiven beibehaltend.