Mittwoch, 13. April 2011
Die Lust am Verdrängen
„Sei froh, dass du das nicht mitgemacht hast“ ist die Antwort, die in Kirsten Boies Buch ”Ringel Rangel Rosen” all den Kindern gegeben wird, die danach fragen, was im Krieg passiert ist. Es scheint ein allgemeines Übereinkommen aller Erwachsenen darin zu bestehen, dieses Kapitel mit einem Erwähnungsverbot zu belegen. Traumen verarbeitet man nicht, sondern verdrängt sie. Und es gab ja auch eine neue Beschäftigung, der man sich mit viel Begeisterung widmete – Fernsehen. Zuerst noch in nachbarschaftlicher Gemeinschaft, denn anfangs konnten sich nicht alle einen Fernseher leisten. Auf diese Weise wurden Fernsehsendungen zu Gemeinschaftserlebnissen und später zu kollektiven Kindheitserinnerungen. „Familie Hesselbach“, „Bonanza“, „Am Fuß der blauen Berge“ und „Zum blauen Bock“. Endlich mal keine Politik. Endlich mal wieder Spaß haben. Und das Wirtschaftswunder mit seinen scheinbar unbegrenzten Möglichkeiten hat sein Übriges dazu beigetragen.

Um Traumen zu verarbeiten, braucht man Abstand. Abscheuliches und Furchtbares braucht seine Zeit, um überhaupt in Worte gefasst zu werden. Die eigene Position kann oftmals erst aus der Ferne richtig erkannt werden. Wer mitten im Geschehen steckt, verfügt nicht über die notwendige Distanz, um zu erkennen, was überhaupt geschieht. Erst wenn einige Zeit verstrichen ist, kann das beginnen, was man als Trauerarbeit bezeichnet. Die kam allerdings nie. Dazu ließ das Fernsehen den Menschen auch nicht genug Zeit. Und die Möglichkeit des Geldverdienens mit seinem Häuslebauen, Ratenzahlungskäufen und Supermärkten nahmen die Menschen dann vollends in Beschlag. Materialismus lässt weder Platz für Gefühle noch zum Nachdenken.

Eigentlich kann man die Nachkriegszeit als „fröhliche Verdrängung“ bezeichnen. Für diejenigen, die in diesem Klima heranwuchsen, war der Krieg etwas, von dem man zwar irgendwie wusste, aber irgendwie auch nicht mehr. Das seltsame Redeverbot wurde niemals hinterfragt.

Verdrängung ist immer das Verschenken einer Chance. Wer verdrängt, macht Weiterentwicklung unmöglich. Verdrängen ermöglicht es, dass sich Tragödien wiederholen. Warum verdrängt man trotzdem? Weil Aufarbeiten anstrengend und mühevoll sein kann. Und Fernsehen und Einkaufen mehr Spaß machen.



Mittwoch, 6. April 2011
Verlorene Paradiese
Meine Freundin hat mir vor kurzem das Buch "Ringel Rangel Rosen" von Kirsten Boie geschenkt. Die Geschichte der dreizehnjährigen Karin spielt zur Zeit der Hamburger Flutkatastrophe 1962. In der Erzählung bekommen mehrere Ebenen Bedeutung – die Gefühlswelt einer 13jährigen, die Zeit der Nachkriegsära, die Flutkatastrophe und das Verdrängen der Zeit des Nationalsozialismus. Die Zeit vor dem großen Luxus des Wirtschaftswunders wird sehr liebevoll beschrieben. Eine einfache Zeit, die noch von einer Überschaubarkeit geprägt war, die man heute nicht mehr kennt.

Ich selbst habe die Flut nicht miterlebt. Unser Dorf war zwar von der Flutkatastrophe betroffen, aber ich war zu dem Zeitpunkt bei meiner Oma in einem anderen Stadtteil. Und dort habe ich in auch in einem der sogenannten „Behelfsheimen“ gelebt, das von der Erzählerin beschrieben wird. Den Ausdruck „Behelfsheim“ habe ich erst viel später im Erwachsenenalter kennengelernt. Dieser Ausdruck bezeichnete in der Nachkriegszeit die Häuser, die man in der Schnelle für die Flüchtlinge aus dem Osten und für die Ausgebombten gebaut hatte. Als Kind hätte er mich sehr verwundet, denn für mich war es ein ganz normales Haus.

Unser „Behelfsheim“ hatte zwei Zimmer, eine Toilette (immerhin schon ein Wasserklo), eine kleine Küche und eine Speisekammer und zwei merkwürdige angebaute Flure. Es gab keine Einbauküche, keine Heizung, sondern außer dem Kohleofen in der Küche nur Elektroöfen und es gab auch kein Bad, sondern nur ein steinernes Waschbecken, das durch einen Vorhang abgetrennt war. Aber es gab einen riesigen Garten mit Kirsch-, Pflaumen und Birnenbäumen und jeder Menge Blumen. Und mein Opa hatte mir eine Schaukel gebaut, die ganz allein mir gehörte. Statt Regentonnen gab es draußen zwei alte Badewannen, in denen ich, wenn es warm genug war, plantschen konnte.

Ich habe weder das Bad vermisst noch das eigene Zimmer. Einmal samstags baden fand ich immer völlig ausreichend und nicht allein schlafen zu müssen, empfand ich – wie die meisten Kinder – nicht als Nachteil. Ich konnte auch als kleines Kind schon unbeaufsichtigt draußen im Garten spielen, da es keine Autos in der Nähe gab. Es gab einen Schuppen und außerdem auch viele Nischen zwischen den Hecken und Büschen, in denen man ungestört spielen konnte.

Es ist immer ein schönes Gefühl, wenn man sich in jemand anderem wiedererkennen kann. So ging es mir beim Lesen des Buchs, als die Autorin beschreibt, dass ihr später bewusst wurde, dass sie im Paradies gelebt hat. Genauso ging es mir auch. Als meine Großeltern in eine „normale“ Wohnung umzogen, fand ich alles ziemlich schick – das Badezimmer, die moderne Küche und die bequeme Zentralheizung. Aber es hatte auch etwas von einem Käfig. Das primitive Behelfsheim war gegen einen bequemen Käfig ausgetauscht worden. Und auch die im Buch beschriebene Sitte, dass alle möglichen Nachbarn immer einfach vorbeikamen, gab es im Mietshaus nicht mehr. In einen angrenzenden Hof oder Garten zu gehen, war anscheinend mit einer geringeren Hemmschwelle belegt, als an einer verschlossenen Tür zu klingeln.

Ich will die damalige Zeit nicht idealisieren, darum geht es mir nicht. Mir geht es vielmehr darum, ein bestimmtes Lebensgefühl zu beschreiben. Ein Lebensgefühl, das dadurch geprägt ist, dass man eigentlich alles hat, was man zum Glück braucht. Das Gefühl des Behütetseins in einer Welt, in der es an nichts mangelt. Ich glaube, dass Kinder noch nicht korrumpierbar sind und sehr genau spüren, worauf es ankommt. In einem Häuschen inmitten eines wunderschönen Gartens – mit dem unglaublichen Luxus einer eigenen Schaukel – braucht man weder ein eigenes Zimmer, noch ein Badezimmer, noch Einbauküche oder Zentralheizung. Damit kann man Erwachsene ködern – Kindern nicht. Und irgendwann tauscht man dennoch all das ein gegen Bequemlichkeit. Und spätestens dann weiß man, dass man im Paradies gelebt hat.

Ich würde sofort wieder in ein Behelfsheim ziehen, wenn es denn eines geben würde. Meinetwegen auch mit Plumpsklo.

Als meine Freundin das Buch gelesen hat, wusste sie sofort, dass das genau das Richtige für mich ist. Schön, dass es Menschen gibt, die einen so gut kennen.



Freitag, 25. März 2011
Er war immer gut zu den Kindern – das Eva Braun-Syndrom
Wenn Medien im Zusammenhang mit Gewaltverbrechen auf den familiären Hintergrund der Täter eingehen, kommt es oftmals zu einem sonderbaren Phänomen. Auch bei den scheußlichsten Greueltaten wie Mord, Raub, schwerer Körperverletzung, Misshandlung oder Missbrauch führen die Täter nicht selten ein ganz normales bürgerliches Leben mit Ehefrau und Kindern. Und in den polizeilichen Verhören darauf angesprochen, ob sie denn nie etwas von dem Doppelleben des Ehemannes bemerkt hätten, äußern eben diese Ehefrauen oftmals den denkwürdigen Satz „Er war ein guter Familienvater und er war immer gut zu den Kindern“.

Ist es wirklich möglich, jahrelang Seite an Seite mit einem Monster zu leben, ohne jemals zu bemerken, was sich außerhalb der Familienidylle abspielt? Anscheinend ja. Und das macht nachdenklich. Was sind das für Frauen, die so wenig von ihrem Mann wissen, dass sie später in einer merkwürdigen Mischung aus Hilflosigkeit und Trotz keine andere Erklärung für ihr Nichtwissen abgeben als die des „Er war immer gut zu den Kindern“?

Ich glaube, dass es sich bei diesen Frauen um einen ganz bestimmten Typus handelt. Und das Phänomen, das diesem Typus zugrunde liegt, nenne ich das Eva Braun-Syndrom. Benannt nach einer Frau, die mit einer bemerkenswerten Fähigkeit des Wegschauens ausgestattet war. Eine Frau, für die die Welt außerhalb des Privaten und Persönlichen nicht zu existieren schien. Wäre Eva Braun eine unversöhnliche Judenhasserin oder eine glühende Vaterlandsverteidigerin gewesen, würde die Beziehung zu Hitler noch eine gewisse Logik enthalten haben. Aber dem war nicht so, sondern vielmehr war für sie die große Liebe verbunden mit einem ausgesprochenen Desinteresse für alles, was sich außerhalb der Beziehung abspielte.

Betrachtet man die vielen Fotos und Filme von Eva Braun, dann scheint die damalige Zeit aus fröhlichen Badeausflügen und lustigen Nachmittagen auf der Sonnenterrasse bestanden zu haben. In einer Zeit, in der Angst und Schrecken herrschte, gab es abseits von Konzentrationslagern und Schlachtfeldern eine kleine Oase des Glücks und der Zufriedenheit, in der fröhlich vor der Kamera herumgeflaxt wurde.

Hätte Eva Braun sich nicht umgebracht und wäre den Alliierten lebend in die Hände gefallen, was hätte sie wohl gesagt, wenn man sie gefragt hätte, ob sie von all den Greueltaten nichts gewusst hat? Wahrscheinlich hätte sie sich, ähnlich wie die Frauen von Gewaltverbrechern, auch hilflos und trotzig darauf berufen, dass Hitler sie immer gut und zuvorkommend behandelt hätte.

Was mag in den Köpfen dieser Frauen vorgehen, für die die Liebe zu einem Mann gleichbedeutend ist mit der Erteilung einer rigorosen Absolution jeglichen Handelns? Diese Frauen, die in ihrer kleinen heilen Welt mit ihren Kindern Plätzchen backen und Ostereier bemalen, während die Ehemänner über die Eltern anderer Kinder Leid und Unheil bringen? Frauen, die streng darauf achten, dass die eigenen Kinder regelmäßig zum Klavier- und Sprachunterricht gehen und die gewissenhaft die Schularbeiten und die tägliche Körperpflege kontrollieren. Diese Frauen, deren wichtigstes Ziel es ist, ihren Kindern ein kuscheliges Zuhause zu bieten. Bleibt vor lauter Plätzchenbacken und Vokabelabhören nicht genug Zeit, um zu bemerken, dass der fürsorgliche Ehemann anderen Menschen das Leben zerstört?

Die Problematik des Ausblendens und Wegschauens ist eine universelle, die sich nicht nur auf die großen Verbrechen und Tragödien erstreckt. Auch in der ganz normalen Welt, in der Menschen sich entscheiden, ob sie sich sozial gegenüber ihren Mitmenschen verhalten wollen, oder aber ob sie auf Kosten anderer leben wollen, muss man sich zwischen Wegsehen und Hinsehen entscheiden und damit die Wahl für oder gegen ein soziales Miteinander treffen.

Das Eva Braun-Syndrom kann man interessanterweise sogar bei denjenigen Frauen beobachten, deren Ehemänner weder gute Familienväter noch gute Ehemänner sind. Das klingt paradox – ist es aber nicht. Denn hier werden an den Ehemann noch weniger Anforderungen gestellt. Es wird nicht nur ausgeblendet, was der Ehemann anderen antut, sondern das Ausblenden bezieht sich diesmal auch auf das eigene Ich und die eigenen Kinder. Egal, um was für ein Scheusal es sich handelt – es reicht aus, dass es sich bei diesem Scheusal um den Mann handelt, der der eigene ist. Als Dank für das große Glück, auserwählt worden zu sein, gibt es bedingungslose Loyalität bis zu Schmerzgrenze – und manchmal sogar weit darüber hinaus.

Und anders als Eva Braun kann es sich bei diesen Frauen sogar um Frauen handeln, die ein ausgeprägtes Sozialverhalten haben und die selbst weit davon entfernt sind, andere auszunutzen. Aber geht es um den eigenen Ehemann, dann verlieren alle moralischen und sozialen Normen plötzlich ihre Verbindlichkeit. Wo sich vorher vielleicht nur ein kleiner blinder Fleck im Gesichtsfeld befand, klafft jetzt ein rabenschwarzer Abgrund, in dem der gesunde Menschenverstand gemeinsam mit dem sozialen Gewissen spurlos verschwindet. Und selbst dann, wenn es noch nicht einmal den Hauch von einer guten und fürsorglichen Behandlung gibt, mit der man den Ehemann entschuldigen könnte, wird in vorbildlicher Nibelungentreue jegliche seiner Taten sofort entschuldigt.

Das Eva Braun-Syndrom gehört zu einer Welt, deren Grenze nur bis zur Haustür oder maximal bis zum Gartenzaun reicht. Selbst wenn sich hinter dieser Grenze alles in Schutt und Asche auflöst – Eva Braun und ihre Schwestern knipsen weiter fröhlich Fotos, backen eifrig Plätzchen und stärken ihrem Mann bei all seinem Tun unermüdlich und mit voller Kraft den Rücken.