Das Leben als Gladiatorenkampf
Zur Zeit wird in fast allen Medien Amy Chuas „Die Mutter des Erfolgs besprochen“. Ob dieses Buch es wirklich wert ist, so viel Aufmerksamkeit zu erhalten, sei dahingestellt. Aber anscheinend trifft die Amerikanerin chinesischer Abstammung mit ihrer Befürwortung einer Erziehung zum Erfolg einen wunden Punkt in unserer westlichen Gesellschaft. Während hier viele Eltern ratlos angesichts der Erziehungsschwierigkeiten mit ihren Kindern sind und es mittlerweile wahrscheinlich mehr Lehrer gibt, die Angst vor ihren Schülern haben als umgekehrt, hat beim Erziehungsmodell Amy Chuas alles noch seine Ordnung: Eltern bestimmen und Kinder gehorchen.
Mir geht es gar nicht darum, zu thematisieren, was mit einer Kinderseele geschieht, die so hartem Drill ausgesetzt ist. Mir geht es vielmehr um das, was mit einer Gesellschaft geschieht, in der jedes Kind dazu erzogen wird, Bestleistungen zu erlangen. In der das Ziel des sozialen Miteinanders gar nicht zu existieren scheint, sondern der Nächste nichts anderes als ein Konkurrent ist, den man auf Gedeih und Verderb übertrumpfen muss.
Und mir fallen zwei Berichte ein, die ich vor längerer Zeit gelesen habe, in denen es um das Leben der Menschen in China ging. Im dem einen Bericht ging es um junge Fabrikarbeiterinnen, die zehn Stunden am Tag für einen Mindestlohn Akkord arbeiten. Die Frauen waren so erschöpft, dass sie in ihrer Arbeitspause nicht in den Aufenthaltsraum oder die Kantine gingen, sondern versuchten, die kurze Zeit lieber zum Schlafen zu nutzen – sitzend und den Kopf auf die Arbeitsplatte gelegt. Der Fotograf hatte dies bildlich festgehalten und man sah endlos lange Arbeitstische mit Hunderten von Frauen, die völlig erschöpft auf ihrem Arbeitsplatz zusammengesunken waren.
In dem anderen Bericht wurden Arbeiter gezeigt, die in Steinbrüchen arbeiteten. Diese Arbeiter zogen schwere mit Steinen beladene Loren. Weil diese Arbeiter so wenig verdienen, dass es kaum für Kleidung reicht, haben sie, um ihre Kleidung zu schonen, die schwere Arbeit völlig nackt(!) verrichtet. Auch dies war auf einem Foto zu sehen. Nackte Menschen, die wie Zugvieh vor beladene Wagen gespannt waren.
Jetzt könnte man sagen – siehst du, eben deswegen erzieht eine Mutter ihre Kinder mit Drill und Härte – damit sie sich nicht so elendig abrackern müssen, wie Menschen, die vor Erschöpfung am Arbeitsplatz einschlafen oder wie Menschen, die zu Zugvieh degradiert werden. Alles geschieht nur aus Liebe und Verantwortung den Kindern gegenüber. Selbst die Verbote der Teilnahme an Kinderfesten und der Übernachtung bei Freunden scheinen vor diesem Hintergrund gerechtfertigt, denn Freundschaft ist nur hinderlich bei einem Konkurrenzkampf, in dem jeder ein potentieller gefährlicher Rivale ist.
Es gibt keinen Rückschluss, der verheerender ist als dieser. Eine Gesellschaft, die menschenunwürdige Lebensbedingungen hat, bedarf dringend der Veränderung. Und die wird nicht hervorgebracht durch Menschen, die schon als Dreijährige lesen und als Fünfjährige Bachsonaten spielen können.
Die Logik einer Erziehung wie die von Amy Chuas macht aus der Welt eine Gladiatorenarena. Und anstatt alles für eine Beendigung der unmenschlichen Gladiatorenkämpfe zu tun, wird lediglich alles getan, um die eigenen Kinder zu siegreichen Gladiatoren auszubilden, die im Kampf nicht unterliegen.
Das Modell von Amy Chuas ist eine gnadenlose und rigorose Befürwortung des Individualismus, in dem es immer nur um das eigene Fortkommen geht. Es geht immer nur um das „besser als“. Alles ist einem erbarmungslosen Konkurrenzkampf untergeordnet, in dem nur die Besten überleben. Allerdings liegt es nun mal im Wesen einer Gesellschaft, dass es nicht nur die Besten gibt, sondern eben auch die große Mehrheit derer, denen es nicht gelingt, unter die ersten Plätze zu gelangen.
Nur so nebenbei: Sowohl die Lehrer von Hermann Hesse als auch von Albert Einstein beklagten sich – zumindest zeitweilig – über deren schlechte schulische Leistungen und den mangelnden Einsatz. Beide haben später den Nobelpreis erhalten. Durch Drill und Disziplin schafft man erfolgreiche Geschäftsleute. Genies verhindert man damit.
Die Lüge hat sich wahrgelogen – warum ich glaube, dass Rainer Unrecht hat
Es ist demnach gleichgültig, was gezeigt wird, relevant ist lediglich, dass es überhaupt gezeigt wird: Das Fernsehbild gibt vor, das Abbild der Realität zu sein und wird so zum Vorbild für gerade diese Realität. Das führt zu dem Bumerang-Effekt. Der Mensch richtet sich nach dem Abbild der Wirklichkeit, und die Realität wird auf diesem Wege zu diesem verzerrten Abbild. Auf einmal stimmt, was im Fernsehen zu sehen ist: Die Lüge hat sich wahr – gelogen.
Günther Anders (1902 – 1992)
Das alles hat der Sozialphilosoph Günther Anders zu einer Zeit formuliert, als Fernsehen hauptsächlich noch aus Spielfilmen, Dokumentationen, Nachrichten, Quizsendungen und harmlosen Vorabendserien bestand. Damals hätte man vielleicht noch den ein- oder anderen Einwand gegenüber Anders’ These erheben können. Denn das war noch die Ära ohne Reality-TV, Big Brother, Casting-shows und Dschungelcamps. Jeder, der damals dem Krabbelalter entwachsen war, jeder der weder debil, noch psychotisch noch dement war, war sich bei einer Fernsehsendung bewusst, dass es sich um eine solche handelte. Man wusste, dass Ben Carthwright nicht wirklich auf der Ponterosa lebte, dass Marilyn Monroe gar nicht wirklich mit Tony Curtis in einer Mädchenband spielte sondern schon lange tot war, dass die Familie Hesselbach in Wahrheit gar nicht miteinander verwandt war und dass Tootsie in Wahrheit Dustin Hofman hieß.
„Die Lüge hat sich wahrgelogen“. Genau das ist passiert. Wo? Im Dschungelcamp zum Beispiel. Während die Familie Hesselbach ihre Rollen unter Regieanweisung auswendig lernte und sich – genau wie der Zuschauer – immer bewusst war, dass eine Rolle gespielt wurde, ist dies bei den Dschungelcampern nicht mehr der Fall. Jeder behält seinen Namen bei und muss nur sich selbst spielen. Aber dann handelt es sich doch nicht um eine Lüge? Eben doch. Sich selbst spielen und einfach man selbst sein hat nichts gemeinsam.
Rainer Langhans vertritt die Ansicht, dass zwischen dem Kommunenleben und dem Dschungelcamp kein grundsätzlicher Unterschied besteht – bei beiden würde sich in der gleichen Weise eine Gruppendynamik entwickeln. Rainer, da irrst du! Bei den Campern entwickelt sich eine Gruppenlüge. Jeder lügt ganz individuell vor sich hin und das Ganze ergibt eine kollektive Gruppenlüge. Und das eigentlich Gemeine ist, dass niemand – weder die Teilnehmer noch die Zuschauer – nach einer Weile noch wissen, was echt ist und was gespielt.
Nein Rainer – das Dschungelcamp gibt keinen Aufschluss darüber, welche Gruppendynamik sich bei elf im Dschungel lebenden und Ungeziefer fressenden Menschen entwickelt. Es gibt Aufschluss darüber, wie sich elf im Dschungel lebende und Ungeziefer fressende Menschen der Allgemeinheit präsentieren wollen. Zugegeben – auch das mag manchen soziologischen Aufschluss geben. Aber dies mehr in Bezug auf die verborgenen Inszenierungswünsche, die in der menschlichen Seele schlummern als über reales Gruppengeschehen.
„Die Lüge hat sich wahrgelogen“. Spannende Frage, ob es sich dann streng genommen überhaupt noch um eine Lüge handelt. Kann eigentlich auch der umgekehrte Fall eintreten: die Wahrheit hat sich unwahr „gewahrheitet“, „geehrlicht“ oder „geechtet“? So wie eine Lüge zur Realität werden kann, wenn sie kollektiv geglaubt wird, so kann vielleicht auch eine Wahrheit, die kollektiv als falsch empfunden wird, zur Lüge werden? Eine Wahrheit, die eben aus dem Grunde, weil sie die Realität darstellt, von niemandem als Wahrheit gesehen werden will, wandelt sich dadurch langsam zur Lüge. Vielleicht ist das Kriterium „wahr“ oder „unwahr“ einzig und allein abhängig von der Übereinstimmung in der kollektiven Wahrnehmung und man kann letztendlich einfach „voten“ ob etwas wahr oder unwahr ist.
Schade, dass Günther Anders – wie fast alle hellen Köpfe – nicht mehr unter uns Lebenden weilt. Dann würde ich ihm eine Mail schicken und fragen.
Virtuelle Hochstapelei – von potemkinschen Dörfern zu potemkinschen Websites
Potjomkin goes online...
Potemkinsche Dörfer gibt es heute nicht mehr. Potjomkins kleiner Schwindel war in dieser Form wohl mehr oder weniger einmalig in der Geschichte. Die Potemkinschen Dörfer haben sich nicht bewährt, da bei längerer Betrachtung der Attrappenschwindel auffliegt und dadurch dessen Erbauer unglaubwürdig wird.
Aber den Wunsch, etwas vorzutäuschen, wo gar nichts ist, gibt es nach wie vor – vielleicht sogar noch viel stärker denn je. Und das Vortäuschen ist einfacher geworden. Der Bau von Holzkulissen hat immerhin noch Arbeitskraft, Zeit und Material gekostet. Heute hat man es da einfacher. Heute es gibt Websites.
Websites erfüllen ihre Funktion genauso wie potemkinsche Dörfer. Nach dem gleichen Prinzip der Vortäuschung von etwas gar nicht Vorhandenem. Würde man nämlich ehrlich sagen, dass man einfach nur Geld verdienen will und sonst gar nichts, wäre dies nicht besonders werbewirksam sondern abschreckend. Aber mit Hilfe von Websites kann man auch dann ein nettes und ansprechendes Bild von etwas vortäuschen, wenn es gar nichts Nettes und Ansprechendes gibt. Man spricht beispielsweise vom Menschen, der im Mittelpunkt stehen würde, obwohl dort einzig und allein das Geld steht. Man behauptet, seine Arbeit an den Wünschen des anderen auszurichten, obwohl in Wahrheit bereits alles nach den eigenen Vorstellungen fest geplant ist. Kurzum – man täuscht Interesse für den Käufer vor, obwohl das Interesse lediglich seinem Geld gilt.
Zwei Dinge haben Potemkinsche Dörfer und Websites aber immer noch gemeinsam: einer näheren Betrachtung halten sie nicht stand. Früher oder später fliegt die Hochstapelei auf. Und – sie haben keinerlei Nutzwert.
behrens am 26. Januar 11
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