Die Lüge hat sich wahrgelogen – warum ich glaube, dass Rainer Unrecht hat
Es ist demnach gleichgültig, was gezeigt wird, relevant ist lediglich, dass es überhaupt gezeigt wird: Das Fernsehbild gibt vor, das Abbild der Realität zu sein und wird so zum Vorbild für gerade diese Realität. Das führt zu dem Bumerang-Effekt. Der Mensch richtet sich nach dem Abbild der Wirklichkeit, und die Realität wird auf diesem Wege zu diesem verzerrten Abbild. Auf einmal stimmt, was im Fernsehen zu sehen ist: Die Lüge hat sich wahr – gelogen.
Günther Anders (1902 – 1992)

Das alles hat der Sozialphilosoph Günther Anders zu einer Zeit formuliert, als Fernsehen hauptsächlich noch aus Spielfilmen, Dokumentationen, Nachrichten, Quizsendungen und harmlosen Vorabendserien bestand. Damals hätte man vielleicht noch den ein- oder anderen Einwand gegenüber Anders’ These erheben können. Denn das war noch die Ära ohne Reality-TV, Big Brother, Casting-shows und Dschungelcamps. Jeder, der damals dem Krabbelalter entwachsen war, jeder der weder debil, noch psychotisch noch dement war, war sich bei einer Fernsehsendung bewusst, dass es sich um eine solche handelte. Man wusste, dass Ben Carthwright nicht wirklich auf der Ponterosa lebte, dass Marilyn Monroe gar nicht wirklich mit Tony Curtis in einer Mädchenband spielte sondern schon lange tot war, dass die Familie Hesselbach in Wahrheit gar nicht miteinander verwandt war und dass Tootsie in Wahrheit Dustin Hofman hieß.

„Die Lüge hat sich wahrgelogen“. Genau das ist passiert. Wo? Im Dschungelcamp zum Beispiel. Während die Familie Hesselbach ihre Rollen unter Regieanweisung auswendig lernte und sich – genau wie der Zuschauer – immer bewusst war, dass eine Rolle gespielt wurde, ist dies bei den Dschungelcampern nicht mehr der Fall. Jeder behält seinen Namen bei und muss nur sich selbst spielen. Aber dann handelt es sich doch nicht um eine Lüge? Eben doch. Sich selbst spielen und einfach man selbst sein hat nichts gemeinsam.

Rainer Langhans vertritt die Ansicht, dass zwischen dem Kommunenleben und dem Dschungelcamp kein grundsätzlicher Unterschied besteht – bei beiden würde sich in der gleichen Weise eine Gruppendynamik entwickeln. Rainer, da irrst du! Bei den Campern entwickelt sich eine Gruppenlüge. Jeder lügt ganz individuell vor sich hin und das Ganze ergibt eine kollektive Gruppenlüge. Und das eigentlich Gemeine ist, dass niemand – weder die Teilnehmer noch die Zuschauer – nach einer Weile noch wissen, was echt ist und was gespielt.

Nein Rainer – das Dschungelcamp gibt keinen Aufschluss darüber, welche Gruppendynamik sich bei elf im Dschungel lebenden und Ungeziefer fressenden Menschen entwickelt. Es gibt Aufschluss darüber, wie sich elf im Dschungel lebende und Ungeziefer fressende Menschen der Allgemeinheit präsentieren wollen. Zugegeben – auch das mag manchen soziologischen Aufschluss geben. Aber dies mehr in Bezug auf die verborgenen Inszenierungswünsche, die in der menschlichen Seele schlummern als über reales Gruppengeschehen.

„Die Lüge hat sich wahrgelogen“. Spannende Frage, ob es sich dann streng genommen überhaupt noch um eine Lüge handelt. Kann eigentlich auch der umgekehrte Fall eintreten: die Wahrheit hat sich unwahr „gewahrheitet“, „geehrlicht“ oder „geechtet“? So wie eine Lüge zur Realität werden kann, wenn sie kollektiv geglaubt wird, so kann vielleicht auch eine Wahrheit, die kollektiv als falsch empfunden wird, zur Lüge werden? Eine Wahrheit, die eben aus dem Grunde, weil sie die Realität darstellt, von niemandem als Wahrheit gesehen werden will, wandelt sich dadurch langsam zur Lüge. Vielleicht ist das Kriterium „wahr“ oder „unwahr“ einzig und allein abhängig von der Übereinstimmung in der kollektiven Wahrnehmung und man kann letztendlich einfach „voten“ ob etwas wahr oder unwahr ist.

Schade, dass Günther Anders – wie fast alle hellen Köpfe – nicht mehr unter uns Lebenden weilt. Dann würde ich ihm eine Mail schicken und fragen.




Gibt es nicht sowieso nur die eine, individuelle Wahrheit und Sichtweise und ist es nicht eine ständige Aufgabe, andere Wahrheiten mit sich selber kongruent zu finden, zu bewerten oder zu sortieren?

Was die Mehrheit macht, ist wahr......
Wer die meiste Macht hat, sagt die Wahrheit

Lügen und Wahrheit, manchmal ganz dasselbe, je nach Standpunkt

Ich glaube, die Aufgabe besteht nicht allein darin, zu ergründen, wie sich andere Wahrheiten mit der eigenen decken, sondern die eigentliche Aufgabe ist die ständige Suche nach Wahrheit unabhängig von den eigenen Standpunkten und denen der anderen . Sich nicht auf den Schein zu verlassen, sondern die dahinterstehende Realität erfassen zu wollen. Hierzu gehört allerdings wiederum unter anderem auch das Vergleichen der verschiedenen Wahrheiten, denn durch die Relativität der Wahrheit kann die Erfahrung gemacht werden, dass Phänomene unterschiedlich wahrgenommen werden.

Vielleicht passt der Ausdruck der „Wahrhaftigkeit“ besser. Wahrheit ist immer etwas Philosophisches und damit unendlich interpretierbar. Wahrhaftigkeit ist der Zustand, in dem innere Überzeugung und äußeres Auftreten übereinstimmen und Anschein und Sein identisch ist.