Sonntag, 7. November 2010
Manchmal irren auch große Dichter
Es bleibt einem jeden immer noch so viel Kraft, das auszuführen, wovon er überzeugt ist.
Johann Wolfgang von Goethe (1749-1832)

Schön wär’s ja, aber leider ist das in der Realität nicht immer so.

In meiner Tageszeitung gibt es einen täglichen Aphorismus, und manche davon schreibe ich auf. So auch diesen hier. Obwohl der eigentlich gar nicht zutrifft.

Überzeugungen können schwinden. Oder sich langsam aufreiben. Die Ursachen hierfür sind vielfältig. Vielleicht resigniert der Mensch einfach irgendwann, wenn sich nie Erfolg einstellt. Vielleicht weiß man irgendwann einfach nicht mehr genau, wovon man eigentlich überzeugt ist. Oder zweifelt daran, ob der Aufwand lohnt.

Es gibt sicherlich Überzeugungen, für die die Kraft nie ausgeht. Wenn jemand überzeugt ist davon, einmal viel Geld zu verdienen. Oder wenn jemand davon überzeugt ist, seinen Vorteil durchzusetzen. Oder davon, sich durchzuboxen. Oder sich jedem und allem anzupassen. Dann ist der natürliche Egoismus die Kraftquelle. Und die ist somit unerschöpflich.

Bei Überzeugungen ideeller Art ist es aber schwieriger. Wer überzeugt davon ist, dass man gegen Ungerechtigkeit kämpfen sollte, braucht dafür viel Kraft. Und einen langen Atem. Aber manchmal geht die Puste aus. Man wird müde und muss sich ausruhen.

Manchmal braucht man auch eine Schulter, an die man sich lehnen kann. Aber Schultern werden seltener. Und selbst wenn sich doch eine findet, reicht auch das irgendwann nicht mehr. Und deswegen stimmt es nicht, was Goethe schreibt. Manchmal bleibt einfach nicht mehr genug Kraft, um das auszuführen, wovon man überzeugt ist. Der Mensch ist kein Pepetuum mobile und funktioniert nicht einfach aus sich heraus.



Donnerstag, 4. November 2010
In vino veritas und Chapeau
Manchmal gibt es trotz aller Schwierigkeiten und Probleme doch noch ein paar Glücksmomente. Ich komme gerade von einem Restaurantbesuch zurück. Jede Menge Sushis und jede Menge grüner Veltliner. Ich bin eigentlich nicht mehr nüchtern genug, um einen Blogbeitrag zu schreiben – aber notfalls kann man den ja löschen, wenn man wieder nüchtern ist.

Ich habe etwas gefeiert. Und zwar das Rückgrat meines Kollegen. Und gleichzeitig eine Premiere. Gewissermaßen eine Rückgrat-Premiere. Das erste Mal in vielen Arbeitsjahren hat jemand Rückgrat bewiesen und sich nicht durch Alphamännchen-Gehabe beeindrucken lassen. Ein Kollege, der eigentlich eher ruhig ist und kein Freund der großen Töne. Aber dem es genauso wie mir zuwider ist, wenn jemand andere plattwalzt.

Ich glaube, es gibt so etwas wie Lust am Rückgrat. Eine unbändige Lust, nicht alles mit sich machen zu lassen. Sich nicht zu verbiegen. Sich nicht in eine Richtung drängen lassen, in der sich alles nur noch ums Geld dreht und in der man deswegen ständig etwas vortäuschen muss, so dass das ganze Leben zu einer lächerlichen Farce wird.

Rückgrat. Auch dann noch, wenn die Kolleginnen dies gern ein bisschen biegen wollen „Das ist das falsche Zeichen, was du da setzt“. Irrtum liebe Kollegin – sich gegen Meinungsdiktatoren zu wehren und dagegen, aus allem Kapital zu schlagen, ist das einzig richtige. Menschen, die mit anderen umgehen wie mit Immobilien, sollten sich mal wieder an das kleine Wörtchen „Nein“ gewöhnen. Meine Freundinnen sind des Lobes voll für jemanden, der die Zivilcourage hat, endlich mal das längst fällige „Das geht zu weit“ zu sagen. Es wären nicht meine Freundinnen, wenn es anders wäre.

Ich liebe dieses kleine Wort, das heute notwendiger den je ist. Dieses Wort, das Einhalt gebietet, wenn Menschen anfangen, anderen zu schaden. Dieses Wort, das dem Zweck dient, Machtgehabe zu verhindern. Und das die Garantie dafür ist, dass nicht alles missbraucht wird, um damit Geschäfte machen.

Ich trinke jetzt das letzte Glas Veltliner und fühle etwas, was ich schon fast vergessen hatte – ein Gefühl von Glück. In vino veritas – und diese Wahrheit ist, dass Rückgrat genauso wichtig wie Luft und Wasser ist. Aber eben nicht nur das eigene – auch das Rückgrat der anderen.

Ich trinke auf das Rückgrat!
Ich trinke auf das Wörtchen „Nein“!
Ich trinke auf die Lust am Leben, die man haben kann,
wenn es an beiden nicht mangelt
(aber nur dann).

Ich lösche das bestimmt morgen. Aber heute bleibt es stehen. Als Chapeau für meinen Kollegen. Den hat er wirklich verdient.



Mittwoch, 3. November 2010
Manchmal ist es besser, doch nicht soviel zu wissen?
Gestern habe ich mir den Film „Der Stellvertreter“ angesehen, in dem es um die Rolle des Vatikans zur Zeit der Nazis ging. Der Film basierte auf einer Erzählung Rolf Hochhuths. Im Vordergrund steht die Figur des SS-Offiziers Kurt Gerstein, der einerseits gläubiger Christ war und andererseits für den Einsatz von Zyklon B verantwortlich war. Vor der Kenntnis von der Massenvernichtung war Gerstein als Hygienefachmann mit dem Einsatz des Zyklon B im Bereich der Schädlingsbekämpfung beschäftigt. Nachdem Gerstein davon Kenntnis hatte, wozu das Gift tatsächlich verwendet wurde, blieb er weiterhin in der Tötungsmaschinerie, tat aber alles, um die Information an die Öffentlichkeit zu bringen und insbesondere den Vatikan zur Intervention zu bewegen.

Einige sehen in Gerstein jemanden, der versuchte, die Greuel der Nazis zu bekämpfen, andere sehen in Gerstein einen Mittäter am Massenmord. Bewiesen ist allerdings zweifellos, dass er tatsächlich alles Mögliche unternommen hat, um das Massenmorden an die Öffentlichkeit zu bringen und dabei – das darf man meines Erachtens auf keinen Fall außer Acht lassen – natürlich auch sein Leben und Gefahr für seine Familie riskierte.

Und wie immer, wenn mich ein Film sehr berührt, bleibe ich hinterher förmlich im Internet kleben. Und das Internet macht es einem ja auch einfach, sich immer noch gezielt weitere Informationen zu holen. Was ich dabei – konkret auf das Thema Widerstand zur NS-Zeit – entdeckte, war mir zwar nicht neu, aber in seiner Fülle doch schockierend. Was ich damit konkret meine, ist die Zeit, die man sich dafür gelassen hat, auf der einen Seite Widerständler als solche anzuerkennen und auf der anderen Seite Schuldige schuldig zu sprechen. Mir war nicht bekannt, dass die Todesurteile gegen die Widerstandskämpfer noch bis in die 1990er (!) als wirksam galten und dadurch Verwandten der Anspruch auf eine Entschädigung als Verfolgte des Naziregimes verwehrt wurde.

Der Witwe von Kurt Gerstein hatte da noch Glück und ihr wurde immerhin „schon“ im Jahr 1969 durch Anerkennung Gersteins als Entlasteter eine Hinterbliebenenrente zugestanden. Und dies auch nur, weil sich ein ehemaliger KZ-Häftling und der Zentralrat der Juden sich für eine Rehabilitation eingesetzt haben.

Und dann die andere Seite: Chefrichter Otto Thorbeck, der für den Tod vieler Widerstandskämpfer verantwortlich war und dafür erst 1955 zu ganzen vier Jahren Zuchthaus verurteilt wurde, von denen er wiederum nur ein Jahr abgesessen hat, da er schon ein Jahr später vom Vorwurf der Beihilfe zum Mord freigesprochen wurde. SS-Offinzier Walter Huppenkothen bekam immerhin sechs Jahre, allerdings nicht wegen Mordes, sondern weil er die Bestätigung der Todesurteile nicht abgewartet hatte! Generalrichter Manfred Roeder, mitverantwortlich für 56 Todesurteile von NS-Gegnern, wurde überhaupt nicht verurteilt und war nach dem Krieg angesehenes und aktives Mitglied der CDU.

Und es wird noch viele, viele andere Namen geben, die denjenigen, die eine bessere politische Bildung als ich haben, natürlich auch bekannt sein werden. Wie bereits gesagt – neu war dies alles auch für mich nicht. Aber etwas im Großen und Ganzen zu kennen, ist nicht das Gleiche, wie sich im Detail damit zu beschäftigen. Und als ich dies in der vergangenen Nacht versucht habe, hatte ich das Gefühl, in einen Sumpf einzutauchen. Schon immer wusste ich, dass es diesen Sumpf gab, aber gestern habe ich es mir mal zugemutet, mir diesen Sumpf näher anzusehen. Aber ich weiß gar nicht, ob dies wirklich gut ist. Denn man riskiert dabei, auch noch das allerletzte Fünkchen Glauben an die Menschheit und an die Hoffnung auf eine gerechtere Welt zu verlieren.

Die Rechtsprechung im Falle der Verurteilung von NS-Verbrechern und im Falle der Rehabilitation von Widerstandskämpfern ist ihren Namen nicht wert.