Donnerstag, 18. Februar 2010
Bücherreservat
Ich lese momentan wie verrückt. Das ist mein Gegenmittel gegen die Unerträglichkeit der dumpfen Büroszene. Bücher, in denen Menschen über Menschen schreiben und nicht über ihre Projektionen über Menschen. Bücher von Frauen, die gern reisen. Frauen, die neugierig sind auf neue Welten. Gespannt darauf, was alles anders sein kann als das Gewohnte. Menschen, die authentisch über ihre widersprüchlichen Gefühle gegenüber dem Fremden und dem Bekannten schreiben. Die keine kaufmännischen Patentrezepte anbieten. Menschen, die nach Lösungen suchen. Menschen, deren Probleme nicht daraus bestehen, wer wem Anordnungen geben darf und für die der tägliche Büroablauf einem religiösen Ritual gleichkommt. Deren Gesprächsthemen sich nicht auf Geldanlage und Bemerkungen über das Äußere anderer Menschen beschränken.

Diese dumpfe Bürowelt mit ihren kleinkrämerischen Regeln und ihrem beschränkten Denken kann zermürben und krank machen.

Nein, keine Arroganz. Einfach nur Verzweiflung:

Wish I could find a good book, to live in.
Wish I could find a good book.
Well, if I will find a real good book,
I'd never have to come out and look.


"Look, what they've done to my song" von Melanie

Werde gleich mal nachsehen, ob der unter YouTube zu finden ist.



Dienstag, 16. Februar 2010
Zeiten das Neinsagens – Zeiten des Jasagens
Wenn man sich die Geschichte ansieht, dann gibt es Zeiten des Jasagens und des Neinsagens. Zeiten, in denen alles mitgemacht wird und Zeiten in denen rebelliert wird. Was dabei rauskommt, ist oftmals nicht das Erwartete. Aber wahrscheinlich gibt es auch diese beiden Menschentypen. Der an Veränderungen desinteressierte Mensch und der Mensch, der eine tiefe Sehnsucht nach Veränderung hat.

In den 70/80 er bestand eine ständige Skepsis gegen technische Neuerungen. Gegen zuviel Datentransparenz. Gegen Manipulation. Gegen Machtkonzentration. Gegen Diskriminierung von Minderheiten. Oftmals schoß man dabei übers Ziel hinaus. Aber man schoß zumindest und hielt nicht einfach den Mund.

Wo ist das eigentlich alles abgeblieben? Jede technische Neuerung wird mit tosendem Applaus begrüßt. Diskriminierung ist nicht nur gesellschaftsfähig geworden, sondern bringt zudem auch viel Geld, wenn man es gut in Szene setzt. Statt Demos gibt es jetzt Raveparaden. Statt unerträglichen politischen Diskussionen gibt es unerträgliche Castingshows, in denen sich Jugendliche zu kompletten Deppen machen lassen, bevor sie wieder vollständig in der Versenkung verschwinden. Joshkas Anzüge werden immer schicker und seine Ehefrauen immer jünger.

Es hilft, wenn man sich vor Augen hält, daß sich gesellschaftliche Entwicklungen in Wellen entwickeln. Die Generation der autoritätsgläubigen Jasager des Dritten Reichs hat eine Generation von autoritätskritischen Neinsagern hervorgebracht. Die jetzige Generation von Technik-Gläubigen Jasagern wird vielleicht auch wieder eine Generation hervorbringen, die auf kritische Distanz geht. Und wer weiß – vielleicht wird Bushido einen Sohn bekommen, dem Papas dumpfbackige Sprüche genauso peinlich sind, wie den Kindern von Nazis die dumpfbackigen Sprüche ihrer Papas peinlich waren.

Nein, ich meine nicht, daß früher alles besser war! Aber es gab früher nachdenkliche und mahnende Stimmen. Und die gibt es nicht mehr. Es gibt soviel Euphorie und viel gnadenlose Zustimmung, daß einem Bange wird. Das Motto des "Let's have fun" wird zur Religion.

Der Sohn von Osama bin Laden hat übrigens ein Buch geschrieben, indem er heftig mit seinem gewalttätigen Vater abrechnet. Das sollte eigentlich Anlaß zur Hoffnung geben, zumal der Sohn damit – anders als die Kinder von Nazis – sein Leben aufs Spiel setzt. Hoffen wir also auf die Wellenbewegung der Entwicklung und auf die nächste Welle...



Samstag, 6. Februar 2010
Paul Ricæur - Das Rätsel der Vergangenheit. Erinnern-Vergessen-Verzeihen
Gestern habe ich einen hochinteressanten Artikel des französischen Philosophen Paul Ricæur (1913-2005) gelesen, in dem es um das Verzeihen geht. Was mich an dem Artikel so beeindruckt, ist nicht nur die Tatsache, daß jemand sich die Mühe macht, diesen Begriff philosophisch zu durchleuchten, sondern vielmehr das kritische Hinterfragen eines Begriffs, der normalerweise grundsätzlich positiv besetzt wird. Sich dem fast schon heiligen Begriff des Verzeihens kritisch zu nähern, stellt etwas höchst Ungewöhnliches dar. Paul Ricæur geht nicht nur kritisch mit dem Begriff des Verzeihens um, sondern er spricht sogar von der Leichtfertigkeit im Umgang mit Verzeihen oder von der pervertierten Form des Verzeihens und er mahnt ausdrücklich vor dem leichten Verzeihen.

Der Artikel ist schwierig zu lesen, was vielleicht auch an der deutschen Übersetzung liegen mag. Ich mußte ihn mindestens viermal lesen und es gibt immer noch Passagen, die sich mir nicht erschließen.

Ricæur definiert das Verzeihen als eine Form des aktiven Vergessens, das er scharf abgrenzt gegen das passive Vergessen. Er schafft analog zum passiven Vergessen den Begriff eskapistisches Verzeihen (escape = flüchten, fliehen) mit dem er das Verzeihen als Flucht vor der eigentlichen Auseinandersetzung meint. Dem eskapistischen Verzeihen wirft er vor, zwar nicht das Ereignis an sich zu vergessen, aber dessen Bedeutung und ihren Ort im Sinne der Dialektik des geschichtlichen Bewußtseins.

Ricæur schafft weitere Kategorien, so das Verzeihen aus Selbstgefälligkeit, dem er vorwirft, sich damit die Pflicht der Erinnerung zu ersparen. Eine weitere Kategorie ist die des Verzeihens aus Wohlwollen, das sich einfach nur der Gerechtigkeit entziehen will und insgeheim nur jemandem Straffreiheit verschaffen möchte. Ein Teil der theologischen Tradition ist für Ricæur das Verzeihen aus Nachsicht, das für ihn Freispruch durch Vergebung bedeutet.

Endlich kommt aber auch ein Begriff des Verzeihens, der dem Ideal entspricht. Dies ist für Ricæur das schwere Verzeihen. Diese Form des Verzeihens nimmt die Tragik des Handelns ernst und zielt auf die Quelle der Konflikte und der Verfehlungen, die der Vergebung bedürfen. Es handelt sich darum, die Knoten unauflöslicher Konflikte zu lösen und nicht einfach nur auf der Ebene einer berechenbaren Bilanz ein Sollsaldo zu löschen. Als ersten Knoten bezeichnet Ricæur eben diese unauflöslichen Konflikte, als zweiten zu lösenden Knoten bezeichnet er die nicht wiedergutzumachenden Schäden und Verbrechen.

Für Ricæur muß an der Schuld selbst Trauerarbeit geleistet werden. Und dann zieht er eine Parallele, die normalerweise übersehen wird: das eskapistische Vergessen und die endlose Verfolgung der Schuldigen haben ihren Grund in derselben Problematik. Dies heißt, es muß eine Grenze gezogen werden zwischen Amnesie und unendlicher Schuld.

Ziel des Verzeihens muß sein, daß das Vergangene aufhören muß, die Gegenwart zu verfolgen um so zu verhindern, daß es eine Vergangenheit gibt die "nicht gehen will“.

Wenn ich hier mal den Bogen spanne zu Ricarda Huchs Gedicht Mein Herz mein Löwe, dann stellt Ricæurs Theorie für mich eine Art Versöhnungsversuch dar. Das Recht auf Haß einerseits – und die Chance des Verzeihens anderseits. Ein Verzeihen, daß entideologisiert ist vom rein Guten. Ein Verzeihen, das harte Arbeit bedeutet – für den, der verzeiht sowie für den, dem verziehen wird.