Ein Totenbesuch
Eben gerade habe ich einen Totenbesuch gemacht. So etwas tut man in Deutschland eigentlich nicht mehr. Aber mein Lebensgefährte ist Nichtdeutscher und ich wollte ihn diesen Besuch nicht allein machen lassen.
Und im Angesicht der Toten ist mir bewußt geworden, welch unendlich tiefe Würde der Tod hat.
Der Tod gibt dem Menschen seine Authentizität wieder. Die ganze, im Laufe eines Lebens erlangte Fassade des Falschen ist plötzlich wieder verschwunden. Der Mensch wird wieder das, als was er geboren wurde.
Ein Totenzimmer ist ein Zimmer, in dem die Zeit auf merkwürdige Weise stillsteht. Alle Gegenstände dort haben ihren Bezug und ihren Sinn verloren. Auch der Tote selbst erfüllt keinen Zweck mehr. Stellt etwas dar, von dem man sich jetzt nur noch verabschieden kann.
Der Tote liegt still in seinem Bett. In einer Aufrichtigkeit und Würde, die er vielleicht im Leben nie hatte.
Früher hatte ich Angst vor dem Anblick eines Toten. Jetzt machen mir Tote viel weniger Angst als die Lebenden. Denn Tote lügen nicht. Tote wollen nichts mehr darstellen, was sie eigentlich gar nicht sind.
Tote sind vielleicht der letzte Bezug zur Realität, der uns noch geblieben ist.
Deswegen sind Totenbesuche ja auch aus der Mode kommen.
behrens am 23. Dezember 09
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Klassentreffen – mein Haus, meine Frau, mein Auto?
Vor kurzem habe ich begonnen, ein Klassentreffen zu organisieren. Das letzte fand vor etwa 34 Jahren statt. Es macht Spaß und die meisten meiner ehemaligen Mitschüler reagieren ausgesprochen positiv und nur zwei haben kein Interesse.
Eine davon ist meine frühere Freundin F., die mir schrieb, daß sie weder Kinder noch Karriere vorzuweisen habe und sie daher gar nicht wüßte, worüber sie auf einem Klassentreffen sprechen sollte mit Leuten, die sie schon ewig lange nicht mehr gesehen hat. F. ist schon lange arbeitslos und ich hatte mit einer Absage gerechnet.
Ich unterhielt mich mit meiner Freundin (auch Mitschülerin) über die Absage von F., die früher auch lange Zeit zu unserer Clique gehört hatte. Meine Freundin meinte, wenn solche Kriterien gelten würden, dann dürfe sie letztendlich auch nicht kommen, denn sie habe zwar einen Job aber noch nicht einmal einen Partner.
Und jetzt sitze ich hier vor meinem Laptop und sinniere über Sinn und Unsinn eines Klassentreffens. Und dabei kommt man unweigerlich auf die Frage: was ist eigentlich Erfolg und was heißt es, wenn man es „zu etwas gebracht hat“? Und mir fallen die Aussprüche der Ehefrau eines Kollegen ein: "Aus dem wird nie etwas" oder „Man sieht ja, was aus dir geworden ist“. Außerdem fällt mir eine Auseinandersetzung mit meinem früheren Chef aus einem gemeinnützigen Verein ein, der mir meine Zukunft prognostizierte mit den Worten: „Wer mit 40 Jahren noch nichts geworden ist, aus dem wird nie etwas!“
Tja, wie sieht denn eigentlich jemand aus, aus dem „etwas geworden“ ist? Anscheinend handelt es sich um jemanden, der eine angesehene berufliche Stellung, Familie mit eigenen Kindern und ein eigenes Haus hat. Da spielt es keine Rolle, ob dies jemand nur durch Betrügereien oder nur durch Ducken erreicht hat. Oder ob jemand über Leichen geht und den Mitmenschen – natürlich bis auf Kinder und Ehepartner – nur in Bezug auf ihre Nützlichkeit interessieren. Ein Ehering ist wichtig, auch wenn der die Verbindung zu jemanden darstellt, der zum Fürchten ist. Eigene Kinder sind wichtig, auch wenn diese sich manchmal zu einer bisweilen schon besorgniserregenden Kopie der Eltern entwickeln. Das eigene Haus mit Einbauküche, Holzterasse und regelmäßig ausgewechselter Couchgarnitur ist Standart und wird – genauso wie der Zweitwagen – nur am Rande erwähnt.
Vor dem Hintergrund dieser Kriterien des „Es-zu-etwas-gebracht-haben“ steht natürlich ein Hartz-IV-Empfänger dumm da. Auch wenn dieser niemals jemanden betrogen hat und grundsätzlich jedem hilft, der Hilfe benötigt. Auch wenn der Hartz-IV-Empfänger ein vielseitiges Interesse an allem und jedem hat und über ein beeindruckendes Wissen verfügt, ist er ein Verlierer par Excellence. Da spielt es auch keine Rolle, daß Erfolgsmenschen außer ihren beruflich verwertbaren Kenntnissen oftmals ein grausam schwach ausgeprägtes Allgemeinwissen haben und keine anderen Gesprächsthemen als Altersvorsorge und schulische Entwicklung der Kindern zu bieten haben.
Und mein Resümee zum Thema Klassentreffen:
Ich glaube, daß manche Menschen es einfach deswegen „zu nichts“ bringen (um es mit den Worten meines früheren Chefs und der Ehefrau meines Kollegen auszudrücken), weil sie zuviel Rückgrat haben und zuwenig Skrupel. Zuviel Sozialverhalten und zuwenig Lust auf faule Kompromisse.
Solchen Menschen gestehe ich einen lebenslangen Bezug von Hartz-IV zu! Und solche Menschen sollten sich verdammt-noch-mal nicht schämen, auf ein Klassentreffen zu kommen! Das kann nämlich trotz - oder gerade wegen - fehlender Fotos von Haus, Kindern und Auto spannend werden!
Vielen Dank Herr Kant (und Herr Nietzsche)
Er (der Mensch von melancholischer Gemütsverfassung) hat ein hohes Gefühl von der Würde der menschlichen Natur. Er schätzet sich selbst und hält einen Menschen vor ein Geschöpf, das da Achtung verdienet. Er erduldet keine verworfene Untertänigkeit und atmet Freiheit in einem edlen Busen. Alle Ketten, von denen vergoldeten an, die man am Hofe trägt, bis zu dem schweren Eisen des Galeerensklaven sind ihm abscheulich. Er ist ein strenger Richter seiner selbst und anderer, und nicht selten seiner so wohl als der Welt überdrüssig.
Immanuel Kant
Eine nicht sehr weit verbreitete Ansicht, daß die Melancholie - heute sagt man Depression - aufs Engste mit Freiheitsdrang und Würde verwoben ist. Wer seine Würde geachtet wissen will und wer nicht in Ketten leben will, kann eigentlich nur depressiv werden. Jemand, der nicht treten will und auch nicht getreten werden will - was hat der schon für eine Chance im Leben?
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Beim Lesen eines Nietzsche Gedichtbands stieß ich auf sehr ähnliche Zeilen:
Der Einsame
Verhaßt ist mir das Folgen und das Führen.
Gehorchen? Nein! und aber nein - Regieren!
Wer sich nicht schrecklich ist, macht niemand Schrecken:
und nur wer Schrecken macht, kann andere führen.
Verhaßt ist mir's schon , selber mich zu führen!
Ich liebe es, gleich Wald- und Meerstieren,
mich für ein gutes Weilchen zu verlieren,
in holder Irrnis grüblerisch zu hocken,
von ferne her mich endlich heimzulocken,
mich selbst zu mir selber - zu verführen.
Der Titel spannt den Bogen zu dem Ausspruch Kants. Die Verweigerung des Führens und Folgens ist nicht lediglich eine Lebenseinstellung oder eine Charaktereigenschaft. Es macht den Menschen eben auch einsam. Denn im menschlichen Miteinander ist wenig Platz für solche Individualisten. Und die Einsamkeit ist immer auch der Schritt hin zur Melancholie.
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Und Else Lasker Schüler hat dies anders ausgedrückt. Nicht mit Melancholie oder Einsamkeit. Sondern mit Aufbegehren und Leidenschaft. Ihre Zeilen brennen wie Feuer:
Mein Tanzlied
Aus mir braust finst're Nachtmusik
Meine Seele kracht in tausend Stücken!
Der Teufel holt sich mein Missgeschick
Um es ans brandige Herz zu drücken.
Die Rosen fliegen mir aus dem Haar
Und mein Leben saust nach allen Seiten,
So tanz' ich schon seit tausend Jahr,
Seit meiner ersten Ewigkeiten
Else Lasker-Schüler (1889 – 1945)
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Leben jenseits fetter Behäbigkeit. Da muß es auch geben. Sogar zwingend. Sonst ersticken wir irgendwann.
behrens am 19. Dezember 09
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