Ein Totenbesuch
Eben gerade habe ich einen Totenbesuch gemacht. So etwas tut man in Deutschland eigentlich nicht mehr. Aber mein Lebensgefährte ist Nichtdeutscher und ich wollte ihn diesen Besuch nicht allein machen lassen.

Und im Angesicht der Toten ist mir bewußt geworden, welch unendlich tiefe Würde der Tod hat.

Der Tod gibt dem Menschen seine Authentizität wieder. Die ganze, im Laufe eines Lebens erlangte Fassade des Falschen ist plötzlich wieder verschwunden. Der Mensch wird wieder das, als was er geboren wurde.

Ein Totenzimmer ist ein Zimmer, in dem die Zeit auf merkwürdige Weise stillsteht. Alle Gegenstände dort haben ihren Bezug und ihren Sinn verloren. Auch der Tote selbst erfüllt keinen Zweck mehr. Stellt etwas dar, von dem man sich jetzt nur noch verabschieden kann.

Der Tote liegt still in seinem Bett. In einer Aufrichtigkeit und Würde, die er vielleicht im Leben nie hatte.

Früher hatte ich Angst vor dem Anblick eines Toten. Jetzt machen mir Tote viel weniger Angst als die Lebenden. Denn Tote lügen nicht. Tote wollen nichts mehr darstellen, was sie eigentlich gar nicht sind.

Tote sind vielleicht der letzte Bezug zur Realität, der uns noch geblieben ist.

Deswegen sind Totenbesuche ja auch aus der Mode kommen.