Montag, 20. Juli 2009
Verrat am Selbst
Der Verrat am Selbst
beginnt meist schleichend,
selten plötzlich.
Manchmal nur ein Ja,
dort, wo man nein sagen wollte.
Oder ein nein,
wo man gern ja gesagt hätte.

Da wo man noch lächelt,
obwohl man schon längst
von Übelkeit geplagt wird.

Da beginnt der Verrat.
Da werden eigne Wände
wichtiger als eigne Wünsche.

Und langsam, langsam
wird aus einem Unikat
einfach nur noch Massenware.

Deswegen setzen wir so gern
Kinder in die Welt.
Wir haben es dann endlich wieder:
das Unikat, das uns in uns selbst
verloren ging.



Mittwoch, 8. Juli 2009
Ehe und Moral
Das Werk "Ehe und Moral" wurde 1929 von Bertrand Russel (1882 - 1970) verfaßt und 1950 mit dem Nobelpreis für Literatur ausgezeichnet. Russel gilt als der Begründer der "analytischen Philosophie".

Man mag kaum glauben, daß dieses Werk tatsächlich schon 80 Jahre alt ist noch weniger kann man sich vorstellen, daß dieses Buch zur damaligen Zeit nicht sofort verboten wurde - bricht es doch mit allen gängigen Moralvorstellungen und hätte von seiner kritischen Auseinandersetzung mehr in die 68er Bewegung gepaßt.

Meist ist das Eheleben dort am einfachsten, wo die Menschen am wenigsten differenziert sind. Wenn sich ein Mann von anderen Männern und eine Frau von anderen Frauen kaum unterscheidet, liegt kein besonderer Grund vor zu bedauern, daß man nicht jemand anderes geheiratet hat. Menschen aber mit vielseitigen Neigungen, Beschäftigungen und Interessen werden von ihren Partner eine gewisse Geistesverwandtschaft verlangen und unzufrieden sein, wenn sie feststellen, daß sie weniger erhalten haben, als sie vielleicht hätten erreichen können. Die Kirche, die dahin tendiert, die Ehe allein vom Gesichtspunkt der Sexualität aus zu betrachten, sieht keinen Grund, warum ein Partner nicht ebenso gut sein sollte wie ein anderer. Sie kann daher auf Unlösbarkeit bestehen, ohne sich um die Härten zu kümmern, die darin oft liegen (S. 93)

Man sollte nach meiner Meinung erwarten, daß die Verbindung lebenslang besteht, aber nicht, daß sie andere geschlechtliche Beziehungen ausschließt...Es darf keine gegenseitige Behinderung der Freiheit geben; es muß absolute körperliche und geistige Vertrautheit bestehen; es muß eine gewisse Übereinstimmung in bezug auf Wertmaßstäbe vorhanden sein... Wenn dieses Ideal bisher noch nicht oft verwirklicht wurde, so liegt es vor allem daran, daß Ehemänner und Ehefrauen sich gegenseitig als Aufpasser betrachtet haben (S. 98).

Ich bin der Ansicht, daß die Form der Liebe, welche ein Ehe glücklich bleiben und ihren sozialen Zweck erfüllen läßt, nicht romantisch ist, sondern etwas Tieferes, Innigeres und Realistischeres (S. 55).


Auch wenn Russel die romatische Liebe ablehnt, hört sich seine These träumerisch an. Träumerisch deswegen, weil auch er die Basis einer Beziehung im geistigen Bereich sieht. In der Realität ist alles viel profaner und die Gemeinsamkeiten liegen nicht so sehr im Geistigen sondern vielmehr im Materiellen: nicht gemeinsame Wertmaßstäbe und Ziele, sondern gemeinsame Einbauküche und Couchgarnitur bilden die Basis. Frauen möchten irgendwann ein- bis zwei Kinder und ein Haus. Männern bleibt da oftmals nicht viel Wahl.

Aber auch wenn bei Männern Haus und Kinder nicht die Hauptmotivation für eine Ehe bilden - geistige Übereinstimmung ist es meist auch nicht. Männer möchten gern emotionell und sexuell versorgt sein. Wer tagsüber den Buisinessmann abgibt, möchte gern nach der Arbeit mal etwas anderes als kaufmännisches Kalkül.

Natürlich muß es nicht zwangsläufig so materialistisch und platt ablaufen, aber dennoch sind die Motive für Eheschließungen selten die edelsten. Die Ehe bietet wie kaum eine andere Beziehung die Möglichkeit, in einer Art rechsfreiem Raum zu leben. Hier darf man sich all das herausnehmen, was bei Freunden und Bekannten unweigerlich zum Bruch der Beziehung führen würde. Mal so richtig die Sau rauslassen - wo sonst kann man das schon?

Ja, ich weiß, es hört sich alles so furchtbar negativ an. Aber vielleicht liegt das an der Überdosis Hochzeitssendungen und dergleichen. Diese elende, amerkanisch-zuckersüße Art, Lebensbereiche auf grausamste Weise in rosarotes Disneyland zu verwandeln. Und die Realität sieht eben nicht nur anders aus, sondern hat damit nicht mehr das Geringste zu tun. Meine Einbildungskraft ist damit hoffnungslos überfordert.



Dienstag, 23. Juni 2009
Stichwort MEIN-Gesellschaft, Homo oeconomicus und materialistische Liebe
Gerechtigkeit und MEIN-Gesellschaft

Hätte ich noch wenigstens zwei Jahre Zeit, so würde ich sie der ausführlicheren Darstellung und Begründung des folgenden Gedankengangs widmen: Was wir überall sehen und mit Händen greifen, ist die Ungerechtigkeit. Darüber ein ideales Gebilde der Gerechtigkeit freischwebend aufzuhängen, ist sinnlos. Den guten König, das edle Parlament, das gute und vernünftige Volk usw. Auszugehen ist vielmehr von der Ungerechtigkeit, und dabei höre ich schon den Einwand, wie soll denn diese umschrieben werden, wenn man nicht zuvor weiß, was Gerechtigkeit ist? Lassen wir uns von den Wörtern nicht täuschen: Ungerechtigkeit ist das Ursprüngliche, Gerechtigkeit müßte also heißen: Unungerechtigkeit, Gerechtigkeit kann nur in der Zerstörung von Ungerechtigkeit beobachtet werden.
Peter Noll "Diktate über Sterben und Tod"

In dem Zusammenhang J.D. Salingers „Fänger im Roggen“, die Thematik auf eine Kurzformel gebracht: Die viel stärkere Sensibilität der Jungen gegenüber Ungerechtigkeit, Routine, Langeweile und besonders: Lüge. Das Leben eines normalen, robusten und erfolgreichen Erwachsenen kann nur eine Lebenslüge sein.

Trauriges aber leider nicht zu widerlegendes Resümee: Gerechtigkeitssinn ist eine pubertäre Erscheinung, quasi eine Entwicklungsstörung ähnlich wie Akne. Der normale Erwachsene hat diese Störung glücklich überwunden und lebt frei von dieser Einengung. Der normale Erwachsene hat auch weitaus Wichtigeres zu tun als sich um Gerechtigkeit zu kümmern: Er muß Werte schaffen und sich fortpflanzen. Damit Kinder da sind, die ebenfalls Werte schaffen und sich ebenfalls fortpflanzen. Auf solche Nichtigkeiten wie Gerechtigkeit kann man da keine Rücksicht nehmen. So richtig glücklich wirken die meisten beim Werteschaffen und Fortpflanzen merkwürdigerweise nicht. Aber auf solche Nichtigkeiten wie Glück kann man da keine Rücksicht nehmen. Und Kinder sind Zukunft! Merkwürdigerweise sind die meisten Kinder aber eine ziemlich genaue Kopie ihrer Eltern. Der Modus Zukunft ist damit fehl am Platz, denn eine bloße Reproduktion der Gegenwart – und dies seit Urzeiten – hat noch nichts mit Zukunft zu tun.

Ein Leben nach der üblichen Maxime: Mein Haus, mein Auto, meine Frau, meine Kinder, mein Bausparvertrag, meine Einbauküche. Die MEIN-Gesellschaft. Etymologisch bemerkenswert ist die Ähnlichkeit des Wortes MEIN zu GEMEIN, und in dem Zusammenhang die Doppeldeutigkeit des Adjektivs GEMEIN, das sowohl GEWÖHNLICH als auch NIEDERTRÄCHTIG bedeuten kann. Auch im Englischen fällt die Ähnlichkeit zwischen MY und MEAN auf. Im Französischen stimmen nur die Anfangskonsonanten des MON mit MÉCHANT überein, der Plural MES klingt schon etwas ähnlicher. Das weibliche Possessivpronomen MA ähnelt übrigens dem MAL (schlecht). Das aber nur am Rande, als kleine, nicht besonders professionelle Wortspielerei. Aber zu leugnen ist es trotzdem nicht: Das Wort MEIN hat es in sich!


MEIN

Ein kleiner dicker Parasit

Frißt Gerechtigkeit, Glück und Zukunft

Oft auch Hirnmasse

Manchmal sogar ganze Landstriche

Frißt sogar Rückgrat

Nicht selten Liebe

MEIN – ein kleiner fetter Allesfresser

Nichts ist vor MEIN sicher

Hüte sich wer kann vor MEIN!