Freitag, 24. Mai 2013
Winifred und Eva
Gestern und vorgestern wurde ein fünfstündiges Interview aus dem Jahre 1975 mit Winifred Wagner, der Schwiegertochter Richard Wagners, im Fernsehen gezeigt. Obwohl hochinteressant, so doch auch ziemlich anstrengend und infolge dessen habe ich längst nicht alles verfolgt. Meine Reaktion ist eine merkwürdige Mischung aus Staunen und einer Art Faszination. Faszination deswegen, weil die zum Zeitpunkt des Interviews 78jährige Winifred Wagner so verwachsen mit dem Werk ihres Schwiegervaters war und fast all ihre Positionen so messerscharf und überzeugt formuliert, dass es einen irgendwie in den Bann zieht. Erstaunt war ich deswegen, weil Winifred Wagner es schaffte, voll und ganz alles an der damaligen politischen Realität auszublenden.

Zwei Zitate:
„Mich interessiert an einem Menschen immer nur die ganz persönliche Erfahrung“.
„Ich war (bei den Verhören) immer erstaunt, dass man mir immer meine unpolitische Haltung vorwarf“.


Ich habe mir bisher einen durch und durch unpolitischen Menschen meist mehr oder weniger als nicht besonders intelligent vorgestellt – jemand, der gar nicht in der Lage ist, wirkliches geistiges oder künstlerisches Interesse zu entwickeln. Genau dies trifft aber auf Winifred Wagner nicht zu, denn sie hat sich der Aufgabe der Leitung der wagnerischen Festspiele mit Leib und Seele gewidmet. Sie tat dies in einem Maße, die keinen Platz mehr ließ für irgendwelche anderen Bereiche. Dies hat es ihr möglich gemacht, Hitler einfach nur als einen Wohltäter anzusehen, der die Liebe zu Wagner teilt und sie bei der Umsetzung ihrer Aufgabe nach besten Vermögen unterstützt.

Natürlich wird sie im Interview auch darauf angesprochen, wie es ihr möglich war, trotz der Greueltaten des Dritten Reichs mit Hitler befreundet zu sein. Bei der Beantwortung dieser Frage wirkt Winifred Wagner nicht mehr ganz so souverän, dennoch kann sie auch diese Frage klar begründen, wie ihr Ausspruch deutlich macht, dass sie an einem Menschen immer nur die ganz persönliche Erfahrung interessiert.

Den Antisemitismus Richard Wagners sieht sie nicht als geistige Wegbereitung der Ausrottung der Juden sondern lediglich als den Wunsch nach „Stilllegung des geistigen Einflusses der Juden“.

Winifred Wagner ist das genaue Gegenteil von Eva Braun. Während Winifred Wagner verwachsen mit ihrer Lebensaufgabe der Leitung der Bayreuther Festspiele war, gab es bei Eva Braun keine Lebensaufgabe außer der, Hitlers Geliebte zu sein. Entsprechend kann man die Einstellung Winifred Wagners gegenüber Eva Braun auch als reine Ignoranz bezeichnen, denn Eva Braun existierte für sie schlichtweg gar nicht.

Zwei Frauen, die Hitler anbeteten und die ihrerseits im Leben Hitlers eine wichtige Rolle spielten. Zwei Frauen, die unterschiedlicher gar nicht hätten sein können und die trotzdem in einem Punkt identisch waren: im rigorosen Ausblenden all dessen, was über das Private hinausgeht. Ein Ausblenden, das in einer erschreckenden und kaum noch fassbaren Gleichgültigkeit und Ignoranz gegenüber all dem unermesslichen und unbeschreiblichen Leid mündet, das Hitler über fast die ganze die Welt gebracht hat.

Es übersteigt mein Vorstellungsvermögen, dass menschliche Wesen zu einer derartigen Ignoranz fähig sind. Verständlich wäre es für mich allenfalls dann noch, wenn Menschen von dem gleichen Hass wie Hitler zerfressen gewesen wären und folglich in ihm den Vollstrecker ihres Hasses gesehen hätten. Dies war aber weder bei Winifred Wagner noch bei Eva Braun der Fall. Bei beiden war es kein Hass, sondern Freundschaft und Liebe, die es möglich machten, seelenruhig und unbeteiligt zuzusehen, wie eine Katastrophe ihren Lauf nimmt.



Dienstag, 26. März 2013
Irgendwie sind das nicht mehr die gleichen Aussagen
„Ich kann keine Stellung zur Rolle von P. Bergoglio in diesen Vorgängen nehmen“.
P. Franz Jalics SJ
15. März 2013

„Dies sind nun die Tatsachen: Orlando Yorio und ich wurden nicht von Pater Bergoglio angezeigt“.
Franz Jalics SJ
20. März 2013

Ich verfolge nun schon einige Zeit die Einträge in Wikipedia zur Vergangenheit des neuen Papstes. Und weiß nicht so recht, was ich von den beiden Aussagen halten soll, zwischen denen ganze 5 Tage liegen.

Franz Jalics ist jemand, von dem ich tief beeindruckt bin. Gerade wegen seiner Fähigkeit des Verzeihens, zu der die meisten Menschen, wenn sie das Gleiche wie er hätten durchmachen müssen, sicher nicht in der Lage wären. Das macht ihn als spirituellen Lehrer - im Gegensatz zu vielen anderen - auch so glaubwürdig und authentisch. Ich habe Franz Jalics zwar noch nicht persönlich kennengelernt, aber ich kenne einige, die an seinen Seminaren teilgenommen haben und die meinen Eindruck bestätigen.

Und ich bin in Bezug auf Bergoglio außerdem der Meinung, dass man jemanden für einen Fehler in der Vergangenheit nicht sein ganzes Leben lang verurteilen darf. Aber ich kann mich nicht völlig des Gedankens erwehren, dass etwas jetzt einfach weggelassen wird. Und dabei wäre dies doch gerade so wichtig: zu bekennen, dass man in einer bestimmten Situation sich hinter jemanden hätte stellen müssen. Es ist doch gerade die Erkenntnis des eigenen Irrtums, die die Entwicklung eines Menschens kennzeichnet.



Donnerstag, 14. März 2013
Persönliches und kollektives Verzeihen
Ich interessiere mich eigentlich relativ wenig für die Papstwahl, da meiner Einschätzung nach mit ziemlicher Sicherheit sowieso niemand zum Papst gewählt werden würde, der sich für entscheidende Reformen einsetzen wird. Aber da ich nun mal gerade den Laptop in Betrieb hatte, habe ich bei Ansehen der Nachrichten bei Erwähnung des Namens Jorge Mario Bergoglio diesen sofort bei Wikipedia eingegeben – und war völlig erstaunt, dass ein paar Sekunden nach Verkündigung dieses Namens automatisch zu Franziskus I weitergeleitet wurde.

Und dann schockierte es mich doch, zu lesen, dass es wohl Bergoglio war, dessen Denunziation dazu geführt hatte, dass Franz Jalics entführt und monatelang in Geiselhaft gehalten wurde.

Franz Jalics hat jahrelang an diesem Trauma gelitten und alles versucht, um die Hintergründe offenzulegen. Und er beschreibt, wie er irgendwann die Entscheidung traf, seinen Entführern und deren Helfern zu verzeihen. Und wie er daraufhin alle schon vorhandenen schriftlichen Beweismittel verbrannte. Es wird somit wohl immer im Dunkeln bleiben, welche Rolle Bergoglio tatsächlich bei der Entführung spielte. Und jemand wie Franz Jalics wird dies auch innerlich akzeptieren.

Bleibt die Frage, ob der Rest der Welt das auch tun sollte.



Mittwoch, 19. Dezember 2012
Schießen schafft Lösungen - den Kopf wegblasen
Schießen lehrt die jungen Leute Gutes.
Tom Selleck

Amerika wurde mit Waffen aufgebaut, das liegt in unseren Genen.
Brad Pitt

Mein Gewehr können Sie mir erst aus der Hand nehmen, wenn diese eiskalt ist.
Charlton Heston

„Hätte die Direktorin (der Sandy Hook-Grundschule) eine Waffe gehabt, hätte sie dem Killer den Kopf wegblasen können, ehe er an die Kinder rankommt“.
Louie Gohmert, republikanischer Repräsentant des Abgeordnetenhauses

Die Amerikanische Verfassung von 1791 garantiert den US-Bürgern ein Recht auf Waffen. Unabhängigkeitskrieg, Bedrohung durch die Indianer (die auf ihre Bedrohung reagierten), Bürgerkrieg, wilde Tiere in den Wäldern – damit wird historisch für das Recht auf Waffen argumentiert.

Nur mal so nebenbei: Kriege, Bürgerkriege, wilde Tiere und Ureinwohner gab es übrigens auch in der Geschichte anderer Nationen und trotzdem wird das Recht auf Waffen nicht verfassungsrechtlich geschützt.

Auch nur mal so nebenbei: Louie Gohmert hat natürlich Recht - vorausgesetzt, die Direktorin hätte zuerst geschossen. Bei Überraschungsangriffen ist dies aber meist leider nicht der Fall, Mister Gohmert!



Samstag, 10. November 2012
Damals nach der DDR – Verlust einer Utopie
Ich habe noch nicht alle sechs Folgen der Dokumentation „Damals nach der DDR“ gesehen, sondern nur die ersten vier. Während die meisten großen geschichtlichen Ereignisse sich vor meiner Zeit abgespielt haben, habe ich den Mauerfall und den Zusammenbruch der DDR ganz bewusst erlebt. Am 9. November arbeitete ich als Kellnerin in einer Freizeitsauna. Kurz nach dem Mauerfall kamen dann auch schon die ersten DDR-Bürger, die von ihren Westverwandten eingeladen worden waren. Es waren Begegnungen, die von einer merkwürdigen Mischung aus Neugier und Scheu geprägt waren.

Ich empfand es spannend und bewegend, was sich in dieser Zeit tat. Als jemand, der für sein Leben gern reist, war es für mich immer ein Albtraum, hinter einer Mauer eingesperrt zu sein. Und genauso wichtig wie das Reisen ist für mich seit ich denken kann, das Recht auf freie Meinungsäußerung. Und so gab kein Land unter den vielen Ländern, die ich schon bereist habe, in dem ich mich so fremd wie in der DDR gefühlt habe. Als dann am 9. November im Fernsehen nonstop die Menschenmassen gezeigt wurden, die zum ersten Mal den Grenzübergang passierten, war dies etwas, was auch für mich etwas unbeschreiblich Befreiendes verkörperte.

Wenn man die mittlerweile dreiundzwanzig Jahre komprimiert in ein paar Stunden aus der Retrospektive ansieht, wirkt es sehr bedrückend, wie schnell sich die große Begeisterung in Ernüchterung gewandelt hat. Während Kohl kurz nach dem Mauerfall frenetisch bejubelt wurde, flogen kaum vier Jahre später Eier.

Was ich jetzt das erste Mal gesehen habe, waren die vielen Arbeitsorte, die kurze Zeit nach dem Mauerfall völlig verwaisten und schon bald verfielen. Ein Land, in dem jeder ein Recht auf Arbeit hat, ist binnen kürzester Zeit mit Massenarbeitslosigkeit konfrontiert. Noch heute habe einige Tränen in den Augen, wenn sie von dem plötzlichen Verlust ihres Arbeitsplatzes sprechen.

Ich hatte damals in einer grenzenlosen Naivität daran geglaubt, dass zwar die Mauer für immer und ewig abgerissen wird, aber die DDR trotzdem ein eigener Staat bleibt. Den Sozialismus mit der Freiheit verbinden, so hatte ich mir dies ganz arglos vorgestellt. Und manchmal frage ich mich, ob das wirklich nur naiv und blauäugig ist, oder ob es vielleicht doch eine Möglichkeit gewesen wäre.

Es hätte mit ziemlicher Sicherheit nicht geklappt. Der allseits präsenten Konsumwelt des Westens hätte die DDR nicht standgehalten. Andererseits liebten viele ihr Land und es wären nach dem Mauerfall vielleicht endlich einmal die wirklichen Sozialisten ans Ruder gekommen.

Manchmal frage ich mich immer noch, ob der Sozialismus eine Chance hätte, wenn man ihn nicht mit einer Diktatur verknüpft hätte. Wenn jeder frank und frei seine Gedanken hätte äußern dürfen und sich jederzeit an jeden Ort der Welt hätte begeben dürfen. Wenn das unsäglich dumpfe Schmähwort Konterrevolutionär mit einen heftigen Tritt in den marxistisch-leninistischen Hintern beantwortet worden wäre.

Wenn, wenn, wenn…..Nein, alles war wohl so oder so zum Scheitern verurteilt. Ein Traum, der nur so lange schön war, wie er noch geträumt und nicht in die Wirklichkeit umgesetzt wurde. Jetzt gibt es keine Träume mehr. Man muss sich wohl mit diesem elendigen menschenverheizenden Turbokapitalismus abfinden und das Beste draus machen. Wobei ich nicht weiß, was das Beste sein soll. Wenn mittlerweile selbst der soziale Bereich nicht mehr sozial, sondern gewinnorientiert ist, dann gibt es keine Nischen mehr für diejenigen, denen noch etwas anderes vorstrebt. Vielleicht sollte man Künstler werden? Aber das beruht nicht auf einer Entscheidung, sondern auf einer Berufung und die habe ich leider nicht. Bleibt noch das Reisen, das das kurzzeitige Begeben in Lebensräume ermöglicht, deren Weg in den mit Entfremdung verbundenen Fortschritt noch nicht so weit vorangeschritten ist wie bei uns. Aber das stellt immer nur eine kleine Auszeit dar.

Letztendlich muss man lernen, ohne Utopien zu leben. Schön ist das nicht. Und einfach auch nicht.



Sonntag, 5. August 2012
Uneingeschränkte Zustimmung
Man mag musikalisch andere Neigungen haben, aber mir imponiert ihr Mut, gegen dieses waffengeile Alphamännchen anzutreten.

Seit fast einem halben Jahr sitzen die Frauen jetzt schon im Gefängnis nur weil ihre Kritik dem Alphamännchen anscheinend Potenzschwierigkeiten bereitet. Goliath gegen vier weibliche Davids. Ich habe leider Zweifel, ob dies wie in der Bibel ausgeht.

Manche glauben an den menschlichen Verstand. Ich nicht.
https://youtu.be/ALS92big4TY



Samstag, 14. Juli 2012
Le chagrin et la pitié – Das Haus nebenan
Es war anstrengend, eine Dokumentation von über vier Stunden anzusehen und von der ersten Hälfte habe ich auch nicht alles gesehen. Aber es war aufwühlend, diese Interviews zu hören, die sowohl mit Kollaborateuren und Besatzern als auch mit Résistancekämpfern geführt wurden. Mein aus Frankreich stammender Freund hat noch viel emotionaler als ich reagiert – wenn die Kollaborateure zu Wort kamen, platzte ihm vor Wut fast der Kragen.

Ein deutscher ehemaliger Offizier, der schon fast wie eine zu dick aufgetragene Karikatur eines satten Wirtschaftswunderdeutschen aussah – feistes Grinsen und dicke Zigarre bei seinen Antworten, die alle den gleichen Tenor hatten: „Wir haben doch nichts Schlimmes getan!“

Aber viel aufwühlender war das Interview mit einem Mitglied der Résistance, Alexis Grave. Ein um die sechzig Jahre alter Mann, der in ruhigen Worten von seinen Erlebnissen während der Besatzung durch die Nazis erzählte. In einer Weise, die solchen Menschen eigen ist – sich auf das Notwendigste beschränkend und vermeidend, die eigene Person hervorzuheben. Aber genau dazu hätte er eigentlich das Recht gehabt, denn er setzte in seinem Kampf sein Leben aufs Spiel. Was mich aber noch viel mehr berührte, war die Friedfertigkeit dieses Mannes. Eigentlich ein Widerspruch, denn er hatte ja gekämpft und Kampf bedeutet das Gegenteil von Friedfertigkeit. Aber es war in seinen Schilderungen nichts von Hass zu spüren. Als er gefragt wurde, ob er jemals den Gedanken hatte, sich an denjenigen zu rächen, die ihn bei den Besatzern denunziert hatten, schüttelte er nur ruhig den Kopf und sagte: „Nein“.

Welten liegen zwischen diesem einfachen Mann vom Lande und einem kommunistischen Funktionär, der nach Kriegsende vor einer großen Menge ins Mikrophon schrie, dass jetzt Köpfe rollen müssen. Ein kleiner Robbespièrre, der am liebsten die Guillotine selbst bedienen würde. Und ein riesiger Unterschied besteht auch zwischen ihm und den johlenden Gaffern, die sich köstlich darüber amüsierten, dass denjenigen Französinnen, die mit deutschen Soldaten befreundet waren, als eine Art Zirkusvorführung öffentlich der Kopf kahlgeschoren wurde.

Ich habe den allergrößten Respekt vor Menschen wie Alexis Grave, die dem Unrecht die Stirn geboten haben. Deren Motivation für den Widerstand nicht durch Ideologie oder Hass bedingt ist, sondern einzig und allein durch Zivilcourage und durch Widerwillen gegen Unrecht. Denen es einfach nicht möglich ist, tatenlos zuzusehen, wenn Menschen Leid und Unrecht zugefügt wird. Man muss schon sehr mutig sein, einer Übermacht die Stirn zu bieten, wenn dies Folter und Tod bedeuten kann. Ich habe Zweifel daran, ob ich selbst so einen Mut aufgebracht hätte.

Es ist ungemein beruhigend, dass es solche Menschen gibt. Und das meine ich wortwörtlich, denn nach dem insgesamt sehr aufwühlenden Film, kam ich doch irgendwie zur Ruhe als ich an diesen Mann dachte. Denn irgendwie gibt die Existenz solcher Menschen ein Gefühl von Geborgenheit und des Sich-beschützt-Fühlens.

Solange es solche Menschen gibt, ist noch nicht alles verloren.



Sonntag, 10. Juni 2012
Zwei äußerst verschiedene Formen des Idealismus
Manche Begebenheiten liegen schon lange zurück und trotzdem kann die erneue Konfrontation zutiefst schockieren. So erging es mir, als ich mir vor einigen Tagen eine – allerdings relativ neue – Dokumentation über die Operation Entebbe ansah. In der Doku wurde die Befreiungsaktion einer Flugzeugentführung geschildert. Im Jahr 1976 wurde von Mitgliedern der Revolutionären Zellen und der Volksfront zur Befreiung Palästinas ein Air-France-Passagierflugzeug entführt um damit inhaftierte Gefangene, unter anderem der RAF und der Bewegung 2. Juni, freizupressen. Ich hatte die Entführung damals nur am Rande mitbekommen.

Jetzt habe ich zum ersten Mal davon erfahren, dass die Entführer eine Separation unter den Geiseln vorgenommen haben, indem jüdische Passagiere von den nichtjüdischen getrennt wurden. Die nichtjüdischen wollte man dann freilassen. In der Doku schilderte einer der damaligen Passagiere ein Gespräch, das er mitbekommen hatte. Ein anderer Passagier zeigte dem Geiselnehmer seine tätowierte KZ-Nummer und sagte ihm, dass er bisher seinen Kindern immer erklärt hätte, dass man auch nach dem Holocaust nicht alle Deutschen gleich beurteilen dürfe. Jetzt könne er dies seinen Kindern nicht mehr sagen. Daraufhin gab der Flugzeugentführer Wilfried Böse die denkwürdige Antwort, dass er kein Nazi sei, sondern ein Idealist.

Menschen, die den Massenmord von Auschwitz überlebt haben, erfahren Jahre später ebenfalls durch Deutsche die gleiche menschenverachtende Behandlung ein zweites Mal. Diesmal allerdings nicht durch Nazis, sondern genau von denjenigen, die vorgeben, die einzigen wirklichen Kritiker des Naziregimes zu sein. Und ich frage mich, wieso ich davon eigentlich damals nichts mitbekommen habe. Sicher, es gab damals ohne Internet, nur mit einem auf drei Sender beschränktem Fernsehprogramm und ohne die Möglichkeit einer Videoaufzeichnung nur einen Bruchteil der heutigen Möglichkeiten, sich auch im nachherein über aktuelle politische Ereignisse zu informieren. Aber trotzdem hätte es doch einen Aufschrei in der linken Szene geben müssen, der auch noch später irgendwo seine Spuren in den Medien hinterlassen haben müsste. Gab es aber nicht. Jedenfalls war es anscheinend niemandem aus der Szene so wichtig, dass es nachhaltig thematisiert wurde.

Flugzeugentführungen sind immer menschenverachtend und als politische Handlung grundsätzlich immer indiskutabel. Aber hier geht es nicht nur darum, dass ein völlig indiskutables und verabscheuenswürdiges Mittel angewandt wurde. Hier geht es darum, dass es Menschen gibt, bei denen Auschwitz nicht das geringste Nachdenken hervorgerufen hat. Noch nicht einmal einen Hauch. Und das ruft bei mir Schrecken und Ekel hervor.

Ich habe mir übrigens noch am gleichen Abend ein Buch über den Nahostkonflikt bestellt, da ich leider zu dieser Thematik erhebliche Lücken habe. Momentan verschlinge ich das Buch „Streit um das heilige Land“, dessen Fülle an hochinteressanter Information mir das Thema hoffentlich besser zugänglich macht.

Edit:
Dass es auch bei den verabscheuenswürdigsten Greultaten Menschen gibt, die durch ihre menschliche Größe und ihre Selbstlosigkeit auffallen zeigt der Umstand, dass der Flugkapitän sich weigerte, die jüdischen Passagiere im Stich zu lassen und eine französische Nonne sich ebenfalls der Aufforderung zum Verlassen des Flugzeugs widersetzte.

Da haben wir dann in der Tat zwei sehr unterschiedliche Formen des Idealismus. Zum einen jemanden, der sich selbst als Idealisten bezeichnet, weil er Menschen aufgrund ihrer Zugehörigkeit zum Judentum in die Luft sprengen will. Zum anderen zwei Menschen, die – ohne sich als Idealisten zu bezeichnen – ihr Leben riskieren um andere zu retten und um ein Zeichen gegen menschenverachtende Brutalität zu setzen.

Und einmal mehr bestätigt sich für mich, dass Menschen, die sich selbst positive Attribute verleihen, zum Fürchten sind.



Mittwoch, 4. April 2012
Eine ewig Gestrige kommt noch mal zu Wort
Gestern habe ich mir die Dokumentation „Der Sturz“ angesehen, in der es um das Ende der DDR ging und unter anderem auch ein langes Interview mit Margot Honecker gezeigt wurde. Mir war schon zuvor klar, dass mich so eine Sendung aufregen könnte. Und so war es dann auch. „ Es gab doch auch Feinde in der DDR, das kann man doch nicht leugnen und das welche davon eingesperrt wurden, ist doch normal, oder?“ Dazu kann man eigentlich nichts mehr sagen, denn das Mindeste, was für eine Diskussion vorhanden sein muss, ist der Konsens, dass es auch immer im Bereich des Möglichen liegt, dass eine Ansicht auch falsch sein kann. Und dieser Mindestkonsens fehlt bei Margot Honecker. Eine schon ans Pathologische grenzende Überzeugung von der eigenen Unfehlbarkeit.

Die Überzeugung von der eigenen Unfehlbarkeit hat dann auch die vielen menschlichen Tragödien verursacht. Wie zum Beispiel die eines jungen Mannes, der wegen eines Diebstahls und der simplen Tatsache, ein Punker zu sein, für viele Jahre in dem geschlossenen Jugendwerkhof Torgau, einer Disziplinierungseinrichtung der DDR-Jugendhilfe, einsaß. Die Aussage „Man wurde dort in seinem Menschsein entwürdigt. Man kann mit seiner Vergangenheit nicht abschließen, Torgau ist lebenslänglich“ läßt ahnen, welch großes Leid man dort den Kindern und Jugendlichen angetan hat. Auch die Tatsache, dass es in der DDR zu schätzungsweise 7.000 Zwangsadoptionen kam, in denen regimekritischen Eltern ihre Kinder weggenommen wurden, lässt nur ahnen, was Menschen erleiden mussten, die als regimekritisch galten.

Merkwürdig mutet an, dass sich Erich und Margot Honecker m Januar 1990 nach Verlust ihrer Wohnung nicht an die Parteigenossen wandten, sondern ausgerechnet an die Institution, die sie zeitlebens vehement bekämpft hatten – die Kirche. Ausgerechnet ein Pastor, dessen Kindern einzig und allein aufgrund der Tatsache, Pastorenkinder zu sein, ein Studium verboten wurde, gab den Honeckers Asyl. Und nicht nur das, er stellte sich auch schützend vor die beiden, als sich wütende Gruppen vor dem Haus formierten. Ein Zeitzeuge formuliert treffend: „Der oberste Atheist bittet um Asyl und ein vom Regime verfolgter Christ stellt sein Haus zur Verfügung und wohnt mit ihm zehn Wochen zusammen“. Man kann schon fast Mitleid mit den Honeckers bekommen, wenn man sich vorstellt, wie sie gelitten haben mögen in engster Nähe mit Menschen, die an Unsinn wie Nächstenliebe und Gewaltverzicht glauben anstatt an die Diktatur des Proletariats.

Der Film kreist um die Gründe für das Aufbegehren in der DDR und um den Zorn, der sich über die Willkür der Staatsgewalt und über die rigorose Unterdrückung jeglichen kritischen Denkens gebildet hatte. Es kommt sowohl die Wut als auch der Schmerz über das Erlittene zum Ausdruck. Von all dem bleibt Margot Honecker allerdings völlig unberührt. Sie versteht diese neue Welt nicht mehr, in der einer unfehlbaren Frau wie ihr nicht mehr bedingungslos gehorcht wird.

Und dennoch sagt auch jemand wie Margot Honecker ab und zu etwas, dem man zustimmen muss. Zum Beispiel, wenn sie Politiker als Spielbälle der Banken bezeichnet. Dies ist es vielleicht auch, was so manchem der den alten Zeiten Nachtrauernden den Blick zurück so verklärt. Denn die lang ersehnte Freiheit entpuppte sich nicht als Paradies. Kapitalismus ist eine Riesenkrake, die nur diejenigen leben lässt, die sich in einem durch das Recht des Stärkeren bestimmten System behaupten können. Ein System, in dem Gewinnmaximierung zur erklärten Lebensdevise geworden ist. Aber selbst ein barbarisches und unmenschliches Prinzip rechtfertigt es nicht, Menschen einzusperren und ihnen das Denken zu verbieten. Gott-sei-Dank haben das mittlerweise viele begriffen. Allerdings eben nicht Margot Honecker. Sie ist ein erschreckendes Beispiel für einen gegen jeglichen Lernprozess resistenten Menschen.

Für mich besteht das eigentlich Bedeutsame im Zusammenbruch der DDR und der Wiedervereinigung in der Entlarvung der Ideologien. Die Ideologie der Chancengleichheit hat genauso wenig überlebt wie die Ideologie der Freiheit. Chancengleichheit steht zum Widerspruch zu einem System, in dem nur die Parteikonformen Chancen erhalten. Freiheit steht im Widerspruch zu einem System, in dem immer mehr Menschen zu arm sind, um ihre Freiheit nutzen zu können.



Donnerstag, 12. Januar 2012
Ein wirklich saublödes Sprichwort
Wer vor seinem dreißigsten Lebensjahr niemals Sozialist war, hat kein Herz. Wer nach seinem dreißigsten Lebensjahr noch Sozialist ist, hat keinen Verstand.
Benedetto Croce
(Italienischer Historiker, Philosoph und Politiker 1866 - 1952)

Dies ist einer von den Aussprüchen, bei denen mir die Haare zu Berge stehen. Im Klartext bedeutet diese Aussage, dass derjenige, der seinen Idealen treu geblieben ist, in seiner Entwicklung erheblich zurückgeblieben ist. Gleichzeitig wird Herz – dieses etwas antiquierte Wort kann man mit Anteilnahme gleichsetzen – als etwas angesehen, was dem Verstand entgegensteht. Und im Umkehrschluss bedeutet dies folglich das Gleiche: ein intelligenter Mensch kann keine Anteilnahme haben.

Wie mag wohl zu diesem mehr als dämlichen Ausspruch gekommen sein, der bedauerlicherweise immer gern und oft von denjenigen zitiert wird, die mittlerweile in die Jahre gekommen sind?

Ich glaube, dass man sich zur Beantwortung dieser Frage vor Augen halten muss, dass es zwei völlig unterschiedliche Gründe gibt, aus denen heraus jemand in jungen Jahren Sozialist wird. Bei einem großen Teil ist es nichts anderes als Opposition zu der satten und zufriedenen Welt der Eltern. Wenn Papa nichts anderes als Arbeit und Geldanlage im Kopf hat, dann gibt es eigentlich kaum Näherliegendes, als den in der Pubertät so wichtigen Schritt der Abgrenzung dadurch zu vollziehen, dass man ins feindliche Lager überläuft. Ein Paradebeispiel hierfür wäre der unsägliche Dieter Bohlen, der auch jetzt noch gern zum Besten gibt, dass er als Student auf dem elterlichen Haus eine rote Fahne gehisst hat. Damit konnte er Papa mal so richtig schocken. Natürlich ist Dieter inzwischen längst vernünftig geworden und stellt Papa in Bezug aufs Geldverdienen schon seit langem in den Schatten.

Kommen wir jetzt zu dem anderen Grund, aus dem heraus man Sozialist werden kann. Bei diesem Grund geht es nicht um Opposition, sondern um eigene Betroffenheit. Mir fallen sofort zwei Schulfreunde ein, die beide nach der Schule den ganzen Nachmittag Zeitungen ausgetragen haben. Bei dem einen rutschte die Familie durch die schwere Erkrankung des Vaters in die Sozialhilfe, bei der anderen durch die Scheidung. Es gab auch kein Einzelhaus, auf dem man eine rote Fahne hissen konnte, sondern nur eine enge Sozialwohnung. Während die Kinder aus gutbetuchten Familien sich netten Freizeitvergnügen widmen konnten, mussten die beiden im Alter von vierzehn Jahren Geld verdienen. Auch das eigene Zimmer, das man in der Pubertät auf keinen Fall missen will, ist in dieser Szene nicht für jeden selbstverständlich. Mein Freund hatte beispielsweise keins und schlief in einem Bett, das sich in der Küche neben einem brummenden Kühlschrank befand.

Ich könnte noch unzählige weitere Beispiele aufzählen, die deutlich machen, dass auch ein vierzigjähriger Sozialist durchaus noch bei Verstand sein kann. Aber das ist überhaupt nicht nötig. Das worauf es ankommt, ist die Beschränktheit des zitierten Ausspruchs zu erkennen. Er ist beschränkt auf all jene, deren politische Haltung niemals authentisch war, sondern einzig und allein auf einem pubertierenden Aufbegehren beruhte. All jene, die ihre Einstellung pünktlich mit der Beendigung des Studiums an den Nagel hängten. Um dann genauso zu werden wie der Papa.

Was immer Benedetto Croce sich bei seinem Ausspruch gedacht hat – er hat nur einen bestimmten Typus vor Augen gehabt. Und den anderen hat er bedauerlicherweise anscheinend nie kennengelernt.