Winifred und Eva
Gestern und vorgestern wurde ein fünfstündiges Interview aus dem Jahre 1975 mit Winifred Wagner, der Schwiegertochter Richard Wagners, im Fernsehen gezeigt. Obwohl hochinteressant, so doch auch ziemlich anstrengend und infolge dessen habe ich längst nicht alles verfolgt. Meine Reaktion ist eine merkwürdige Mischung aus Staunen und einer Art Faszination. Faszination deswegen, weil die zum Zeitpunkt des Interviews 78jährige Winifred Wagner so verwachsen mit dem Werk ihres Schwiegervaters war und fast all ihre Positionen so messerscharf und überzeugt formuliert, dass es einen irgendwie in den Bann zieht. Erstaunt war ich deswegen, weil Winifred Wagner es schaffte, voll und ganz alles an der damaligen politischen Realität auszublenden.

Zwei Zitate:
„Mich interessiert an einem Menschen immer nur die ganz persönliche Erfahrung“.
„Ich war (bei den Verhören) immer erstaunt, dass man mir immer meine unpolitische Haltung vorwarf“.


Ich habe mir bisher einen durch und durch unpolitischen Menschen meist mehr oder weniger als nicht besonders intelligent vorgestellt – jemand, der gar nicht in der Lage ist, wirkliches geistiges oder künstlerisches Interesse zu entwickeln. Genau dies trifft aber auf Winifred Wagner nicht zu, denn sie hat sich der Aufgabe der Leitung der wagnerischen Festspiele mit Leib und Seele gewidmet. Sie tat dies in einem Maße, die keinen Platz mehr ließ für irgendwelche anderen Bereiche. Dies hat es ihr möglich gemacht, Hitler einfach nur als einen Wohltäter anzusehen, der die Liebe zu Wagner teilt und sie bei der Umsetzung ihrer Aufgabe nach besten Vermögen unterstützt.

Natürlich wird sie im Interview auch darauf angesprochen, wie es ihr möglich war, trotz der Greueltaten des Dritten Reichs mit Hitler befreundet zu sein. Bei der Beantwortung dieser Frage wirkt Winifred Wagner nicht mehr ganz so souverän, dennoch kann sie auch diese Frage klar begründen, wie ihr Ausspruch deutlich macht, dass sie an einem Menschen immer nur die ganz persönliche Erfahrung interessiert.

Den Antisemitismus Richard Wagners sieht sie nicht als geistige Wegbereitung der Ausrottung der Juden sondern lediglich als den Wunsch nach „Stilllegung des geistigen Einflusses der Juden“.

Winifred Wagner ist das genaue Gegenteil von Eva Braun. Während Winifred Wagner verwachsen mit ihrer Lebensaufgabe der Leitung der Bayreuther Festspiele war, gab es bei Eva Braun keine Lebensaufgabe außer der, Hitlers Geliebte zu sein. Entsprechend kann man die Einstellung Winifred Wagners gegenüber Eva Braun auch als reine Ignoranz bezeichnen, denn Eva Braun existierte für sie schlichtweg gar nicht.

Zwei Frauen, die Hitler anbeteten und die ihrerseits im Leben Hitlers eine wichtige Rolle spielten. Zwei Frauen, die unterschiedlicher gar nicht hätten sein können und die trotzdem in einem Punkt identisch waren: im rigorosen Ausblenden all dessen, was über das Private hinausgeht. Ein Ausblenden, das in einer erschreckenden und kaum noch fassbaren Gleichgültigkeit und Ignoranz gegenüber all dem unermesslichen und unbeschreiblichen Leid mündet, das Hitler über fast die ganze die Welt gebracht hat.

Es übersteigt mein Vorstellungsvermögen, dass menschliche Wesen zu einer derartigen Ignoranz fähig sind. Verständlich wäre es für mich allenfalls dann noch, wenn Menschen von dem gleichen Hass wie Hitler zerfressen gewesen wären und folglich in ihm den Vollstrecker ihres Hasses gesehen hätten. Dies war aber weder bei Winifred Wagner noch bei Eva Braun der Fall. Bei beiden war es kein Hass, sondern Freundschaft und Liebe, die es möglich machten, seelenruhig und unbeteiligt zuzusehen, wie eine Katastrophe ihren Lauf nimmt.