Sonntag, 3. Januar 2016
Plädoyer für Ratlosigkeit
Zum zweiten Mal habe ich heute den Film „Der Vorleser“ angesehen, der auf dem gleichnamigen Buch von Bernhard Schlink basiert. Manchmal löst ein Film oder auch ein Buch beim zweiten Mal eine größere Reaktion aus als beim ersten Mal. Vielleicht ist man einfach nur in einer anderen Stimmung oder vielleicht war man beim ersten Mal nicht wirklich konzentriert dabei. Wie dem auch sei, heute ging mir der Film sehr viel näher. Der Film hinterließ bei mir ein Gefühl, das man am besten mit Ratlosigkeit beschreiben könnte. Ratlos ist man dann, wenn das übliche Schema von Gut und Böse fehlt und dies ist hier der Fall. Bei Hanna, der weiblichen Protagonistin des Films, gespielt von Kate Winslet, handelt es sich um eine frühere KZ-Aufseherin, die in den 60er Jahren für ihre Taten angeklagt und lebenslänglich verurteilt wird. Der männliche Protagonist Michael hatte als 15jähriger mit der über 20 Jahre älteren Frau ein Liebesverhältnis und sieht diese erst bei jenem Prozess wieder, an dem er im Rahmen seines Jurastudiums teilnimmt.

Die Frau, mit der er eine heftige und sinnliche Liebesbeziehung hatte und die von einem Tag auf den anderen spurlos verschwand, taucht jetzt in Michaels Leben als angeklagte Massenmörderin wieder auf, was verständlicherweise ein gefühlsmäßiges Chaos in dem inzwischen erwachsenen Mann auslöst, der hin- und hergerissen ist zwischen zärtlichen Erinnerungen auf der einen Seite und Sprachlosigkeit auf der anderen Seite angesichts Tatsache, dass die ehemalige Geliebte den Tod von Hunderten von Menschen auf dem Gewissen hat. Während des Prozesses wird Michael klar, warum Hanna ihn während ihrer Beziehung hartnäckig zum Vorlesen drängte – Hanna ist offensichtlich Analphabetin. Obwohl sich Michael nicht zu einem persönlichen Kontakt durchringen kann, schickt er Hanna regelmäßig Kassetten, die er mit literarischen Werken bespricht. Kurz vor der anstehenden Entlassung nimmt sich Hanna das Leben. Der Film endet damit, dass Michael eine der KZ-Überlebenden aufsucht, um ihr gemäß Hannas Wunsch deren Geld und eine Teedose zu überbringen. Verständlicherweise löst dies eher eine Reaktion der Befremdung und Ablehnung aus.

Warum hinterlässt dieser Film bei mir ein Gefühl von Ratlosigkeit? Weil es einfacher ist, sich kaltblütig mordende Menschen als gefühlslose Monster vorzustellen, die weder eine Seele noch eine Biographie noch sonst irgendetwas besitzen, das Menschen von Monstern unterscheidet. Und weil man gern von anderen Menschen eine strikte und glasklare Parteilichkeit gegen das Böse fordert. Da wirkt es irritierend, dass der männliche Protagonist sich beim Erkennen der wahren Identität seiner ehemaligen Geliebten nicht sofort angeekelt abwendet und das Weite sucht, sondern immer noch mit Gefühlen kämpft.

Ich las nach dem Film noch ein paar Filmkritiken. Ich hatte es mir schon vorher gedacht – dem Film wurde vorgeworfen, die Täter des Dritten Reichs zu verharmlosen. Dabei wurde kritisiert: „die Deutschen der Nazizeit davon freizusprechen, von der Endlösung gewusst zu haben“ und es wurde konstatiert: „Problematisch sei die Sichtweise auf die Täterin, eine attraktive, geheimnisvolle Verführerin“. Dies passt anscheinend nicht so recht in das Klischee, dass Mörder per se immer grobschlächtig und abstoßend sind und selbstverständlich ist es völlig undenkbar, für solche Kreaturen auch noch andere Gefühle als Ekel und Hass zu empfinden.

Eine ähnliche Kritik gab es übrigens auch für den Film „Der Untergang“ von einigen Seiten (unter anderen auch von der Psychoanalytikerin Margarete Mitscherlich). Man hätte Hitler nach Meinung einiger Kritiker viel zu menschlich dargestellt und der Film wäre angelegt, das Dritte Reich zu verharmlosen und Verständnis zu wecken. Für mich ist diese Einschätzung noch nicht einmal ansatzweise nachvollziehbar, denn der Film hat meines Erachtens das Szenario im Führerbunker mit all seinem Irrsinn und seiner Verblendung schonungslos dargestellt. Da zu meinem Bekanntenkreis auch viele Nichtdeutsche gehören, bin ich immer wieder froh, auch mal die Meinung von Menschen zu hören, die keine deutschen Scheuklappen tragen. Als ich einen an deutscher Geschichte sehr interessierten Franzosen von der negativen Einschätzung zum Film „Der Untergang“ erzählte, reagierte er genauso mit Unverständnis wie ich.

Ich frage mich immer wieder, warum Menschen so ein ausgesprochen starkes Bedürfnis danach haben, jeden Versuch, eine Thematik differenziert darzustellen, sofort durch den Vorwurf einer einseitigen Sichtweise zu entwerten. Im Grunde ein Paradoxon schlechthin – die eigene einseitige Sichtweise wird auch bei dem anderen vorausgesetzt. Wer auch nur den Hauch des Verständnisses für einen Täter zeigt, wird rigoros als jemand bewertet, der sich voll und ganz auf dessen Seite stellt und das Leid der Opfer strikt leugnet. Dies ist beileibe nicht nur bei Filmen so, sondern zieht sich durch alle Lebensbereiche.

Was den hier beschriebenen Film „Der Vorleser“ betrifft, so ist es gerade das Fehlen eines Schwarz-Weiß-Schemas, das ihn für mich so sehenswert macht. Der Film macht das, was einen guten Film ausmacht: er wirft Fragen auf und verunsichert. Konfrontation mit der Komplexität menschlicher Gefühle anstatt Reduktion auf plumpe Einteilung in Gut und Böse.



Montag, 16. November 2015
Je suis Paris

Meine Voraussicht hat sich leider auf schmerzliche Weise bestätigt. Und genauso schmerzlich ist es, zu wissen, dass noch viele andere Orte folgen werden...

Auch am dritten Tag nach dem Massaker herrscht bei uns Entsetzen und Trauer und ich hoffe, dass ich möglichst lange von der Konfrontation mit Begriffen wie "Vorratsdatenspeicherung" und "Generalverdacht" verschont bleibe.

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Mittwoch, 21. Oktober 2015
Israel (7) – Vertriebene
Fortsetzung von Fortsetzung von Israel (6)
Seit zwei Wochen bin ich wieder zuhause und komme jetzt endlich dazu, ein paar meiner Fotos in meine Beiträge einzufügen. Unweigerlich ruft dies jede Menge Erinnerungen hoch. Etwas war diesmal anders als bei meinen bisherigen Reisen, allerdings kann ich dies nur schwer benennen. Ist es die große Widersprüchlichkeit dieses Landes? Man könnte diesen Widerspruch vielleicht so formulieren, dass ein Volk, dessen Geschichte aus Verfolgung und Vertreibung bestand, jetzt selbst Menschen vertreibt. Aber dies ist eben nur zum Teil zutreffend, denn ein großer Teil der Israelis lehnt die Behandlung der Palästinenser ab und steht der Siedlungspolitik äußerst kritisch gegenüber. Die KZ-Überlebende Esther Bejarano kehrte beispielsweise unter anderem auch wegen der Unterdrückung der Palästinenser wieder aus Israel nach Deutschland zurück. Und die Philosophin Hannah Arendt bezeichnet die Gründung des Staates Israel sogar als „Selbstüberschätzung des Judentums“. Der jüdische Schriftsteller Arthur Koestler beschreibt die im Jahr 1917 erfolgte Balfour-Deklaration kritisch als eine Erklärung „ in der eine Nation einer zweiten Nation das Land einer dritten verspricht.“

Während meiner Jugend trugen viele meiner Bekannten ein Palästinensertuch und es war klar vorgegeben, dass man sich solidarisch mit den Palästinensern zu zeigen hatte, denn schließlich waren es die Schwächeren. Und die Schwächeren waren unhinterfragt immer diejenigen, die im Recht sind und denen genauso unhinterfragt jegliches Mittel zur Gegenwehr zugestanden wurde. Als dann im Jahr 1977 die Landshut entführt wurde und drei der palästinensischen Flugzeugentführer bei der Befreiung getötet wurden, bestand demzufolge bei vielen meiner Bekannten die Reaktion auch eher aus Bedauern als aus Erleichterung. Für mich war das tiefe Mitleid mit Menschen, die ohne Skrupel bereit sind, andere Menschen in die Luft zu jagen, kaum nachvollziehbar. Die Schilderungen der Geiseln in Bezug auf den Anführer skizierten von diesem ein Bild, das man ohne Übertreibung als die arabische Version eines Obersturmführers bezeichnen könnte. Als ich dann erst vor kurzem Einzelheiten über die Entebbe-Flugzeugentführung Entführung las, bei der jüdische und nichtjüdische Passagiere selektiert wurden, empfand ich einfach nur noch tiefe Abscheu.

Es steht für mich außer Frage, dass man Menschen nicht einfach aus ihrem Land vertreiben darf und der Anspruch auf ein Land nicht einfach aus dem Umstand abgeleitet werden kann, dort vor über 2000 Jahren ansässig gewesen zu sein. Aber für mich steht genauso außer Frage, dass es nichts gibt, mit dem man Flugzeugentführungen, Bombenattentate und Massakrierungen rechtfertigen kann. Die eigentliche Tragik an dem Palästinakonflikt besteht darin, dass es auf beiden Seiten durchaus viele Menschen gibt, die sich eine friedliche Lösung wünschen, deren Stimme jedoch weitgehend unbeachtet bleibt.

Ich habe mich immer wieder gefragt, welche Rolle bei all der Gewalt die Religion spielt. Ich nehme nicht für mich in Anspruch, fundierte Kenntnisse über die jüdische Religion zu haben, aber für mich ist es erstaunlich, welch himmelweiter Unterschied zwischen orthodoxen und säkularen Juden besteht. Orthodoxe Religiosität stellt immer einen anachronistischen Aspekt dar, nicht nur im Judentum. Allerdings gibt es beim Vergleich zu anderen Religionen etwas, das darüber hinausgeht. Ausgehend von meinen ganz persönlichen Erfahrungen will ich den Versuch machen, dies in Worte zu fassen. Wenn ich zum Beispiel an die Begegnung mit einer in einer Hütte (oder war es eine Höhle?) lebenden hinduistischen Eremitin auf Bali zurückdenke, dann stellt deren Leben selbstverständlich einen riesigen Kontrast zu meinem Leben dar. Aber trotz dieses Kontrastes gibt es etwas, das ich zumindest teilweise nachvollziehen kann, nämlich den Wunsch nach einem spirituellen Leben in der Natur fernab von Technik und Ablenkung. Das gleiche gilt für die vielen buddhistischen Mönche, die mir in Klöstern begegnet sind, die für sich den Weg der Kontemplation gewählt haben.

Wesentlich schwerer fällt es mir jedoch nachzuvollziehen, dass es aus religiösen Gefühlen wichtig sein kann, an bestimmten Tagen keinen Fahrstuhl zu fahren, kein Einschreiben anzunehmen, das Licht nicht an- oder auszuknipsen oder sich nicht mit dem Rollstuhl fortzubewegen. Mir ist noch gut in Erinnerung, dass während meiner Kindheit die Sonntage auch mit bestimmten Geboten belegt waren – man trug festlichere Kleidung, die Geschäfte waren geschlossen und es gab etwas Besonderes zu essen. Dennoch besteht für mich ein Unterschied zwischen den Sonntags- und Sabbatsbräuchen, denn auch wenn es bestimmte verbindliche Sonntagsbräuche gab, so herrschte dennoch eine relative Toleranz gegenüber denjenigen, die diese Regeln nicht einhielten. Und vor allem gab es nicht die merkwürdige Praxis, dass man für bestimmte, am Sonntag unübliche Verrichtungen Andersgläubige beauftragte. Dies ist jedoch durchaus gängig unter ultraorthodoxen Juden, die am Sabbat jemanden – meistens Araber – beispielsweise damit beauftragen, jemanden ins Krankenhaus zu fahren, das Licht anzuknipsen oder die Klimaanlage einzuschalten. Diese Eigentümlichkeit wird noch merkwürdiger dadurch, dass auch hierbei ein wenig getrickst wird, denn eigentlich darf man den jüdischen Vorschriften zufolge für verbotene Tätigkeiten nicht einfach jemanden um deren Ausführung bitten und so wird der Wunsch nach einer Dienstleistung zum Beispiel umgesetzt durch die Mitteilung, jemand sei krank und im Schlafzimmer sei es zu hell oder zu heiß.

Ich will mit meiner Kritik nicht dem allgemein üblichen Brauch anschließen, sich über religiöse Regeln lustig zu machen, mir geht es um etwas anderes, nämlich darum, mir näher anzusehen, was durch bestimmte Regeln erkennbar wird. Wenn eine religiöse Einstellung nur dann konsequent umsetzbar ist, wenn man sich derer bedient, die diese Einstellung nicht haben, bekommt diese Einstellung zwangsläufig etwas Fragwürdiges. Wobei betont sei, dass dies nicht nur im Judentum der Fall ist, sondern derartiges auch in anderen Religionen vorkommt. So ist zum Beispiel in vielen buddhistischen Strömungen der Beruf des Schlachters verpönt, aber dennoch wird dessen Fleisch gekauft und gegessen. Im Hinduismus ist beispielsweise der Beruf des Bestatters sehr schlecht angesehen, aber selbstverständlich werden dessen Dienste in Anspruch genommen.

Ein System, in dem Regeln und Gebote nur dann funktionieren, wenn es dort Menschen gibt, für die diese Regeln und Gebote nicht gelten, offenbart ein elitäres Wertesystem, in dem die Vorstellung von der Gleichheit unter Menschen kein anzustrebendes Ziel darstellt. Für Religionsgegner mag dies der eindeutige und unwiderlegbare Beweis dafür sein, dass Religion sowieso nur Übel mit sich bringt und Religiosität nicht mit Intelligenz und Aufklärung vereinbar ist. Für mich hingegen besteht die Lösung nicht in der Abschaffung der Religion (was wohl auch kaum gelingen dürfte….), sondern darin, Religion immer wieder zu hinterfragen. Es mag sein, dass bestimmte Regeln und Gesetze zu früheren Zeiten sinnvoll waren, es jedoch heute nicht mehr sind. Und dies wird man nur dann herausfinden, wenn man sich immer wieder kritisch mit ihr auseinandersetzt. Für ein vertriebenes und verschlepptes Volk mag es durchaus überlebenswichtig gewesen zu sein, sich seine Identität über die Betonung seiner Stammeszugehörigkeit und die Aufrechterhaltung seines Brauchtums zu bewahren. Aber wenn die Situation sich geändert hat, sollte dies auch wahrgenommen werden und darf sich nicht in das Gegenteil – die Vertreibung anderer – verkehren.

Ich schließe mich der Ansicht des (jüdischen) Philosophen Ernst Bloch an, der davon sprach, man müsse die christliche Religion „beerben“. Diesen Ausspruch halte ich für so wertvoll, dass ich ihn noch dahingehend erweitern möchte, jede Religion zu beerben in Bezug auf diejenigen Werte, die dem Streben nach Gerechtigkeit und friedlichem Zusammenleben dienlich sind. Und genauso, wie man sich nach dem Antritt eines Erbes der unbrauchbaren Anteile entledigt, so sollte man auch mit den Anteilen verfahren, die mit dem Anspruch auf Gerechtigkeit und friedlichem Miteinander unvereinbar sind.

Toleranz2
Diese witzige Zeichnung habe ich im Schaufenster einer kleinen Galerie in Jaffa entdeckt.