Plädoyer für Ratlosigkeit
Zum zweiten Mal habe ich heute den Film „Der Vorleser“ angesehen, der auf dem gleichnamigen Buch von Bernhard Schlink basiert. Manchmal löst ein Film oder auch ein Buch beim zweiten Mal eine größere Reaktion aus als beim ersten Mal. Vielleicht ist man einfach nur in einer anderen Stimmung oder vielleicht war man beim ersten Mal nicht wirklich konzentriert dabei. Wie dem auch sei, heute ging mir der Film sehr viel näher. Der Film hinterließ bei mir ein Gefühl, das man am besten mit Ratlosigkeit beschreiben könnte. Ratlos ist man dann, wenn das übliche Schema von Gut und Böse fehlt und dies ist hier der Fall. Bei Hanna, der weiblichen Protagonistin des Films, gespielt von Kate Winslet, handelt es sich um eine frühere KZ-Aufseherin, die in den 60er Jahren für ihre Taten angeklagt und lebenslänglich verurteilt wird. Der männliche Protagonist Michael hatte als 15jähriger mit der über 20 Jahre älteren Frau ein Liebesverhältnis und sieht diese erst bei jenem Prozess wieder, an dem er im Rahmen seines Jurastudiums teilnimmt.

Die Frau, mit der er eine heftige und sinnliche Liebesbeziehung hatte und die von einem Tag auf den anderen spurlos verschwand, taucht jetzt in Michaels Leben als angeklagte Massenmörderin wieder auf, was verständlicherweise ein gefühlsmäßiges Chaos in dem inzwischen erwachsenen Mann auslöst, der hin- und hergerissen ist zwischen zärtlichen Erinnerungen auf der einen Seite und Sprachlosigkeit auf der anderen Seite angesichts Tatsache, dass die ehemalige Geliebte den Tod von Hunderten von Menschen auf dem Gewissen hat. Während des Prozesses wird Michael klar, warum Hanna ihn während ihrer Beziehung hartnäckig zum Vorlesen drängte – Hanna ist offensichtlich Analphabetin. Obwohl sich Michael nicht zu einem persönlichen Kontakt durchringen kann, schickt er Hanna regelmäßig Kassetten, die er mit literarischen Werken bespricht. Kurz vor der anstehenden Entlassung nimmt sich Hanna das Leben. Der Film endet damit, dass Michael eine der KZ-Überlebenden aufsucht, um ihr gemäß Hannas Wunsch deren Geld und eine Teedose zu überbringen. Verständlicherweise löst dies eher eine Reaktion der Befremdung und Ablehnung aus.

Warum hinterlässt dieser Film bei mir ein Gefühl von Ratlosigkeit? Weil es einfacher ist, sich kaltblütig mordende Menschen als gefühlslose Monster vorzustellen, die weder eine Seele noch eine Biographie noch sonst irgendetwas besitzen, das Menschen von Monstern unterscheidet. Und weil man gern von anderen Menschen eine strikte und glasklare Parteilichkeit gegen das Böse fordert. Da wirkt es irritierend, dass der männliche Protagonist sich beim Erkennen der wahren Identität seiner ehemaligen Geliebten nicht sofort angeekelt abwendet und das Weite sucht, sondern immer noch mit Gefühlen kämpft.

Ich las nach dem Film noch ein paar Filmkritiken. Ich hatte es mir schon vorher gedacht – dem Film wurde vorgeworfen, die Täter des Dritten Reichs zu verharmlosen. Dabei wurde kritisiert: „die Deutschen der Nazizeit davon freizusprechen, von der Endlösung gewusst zu haben“ und es wurde konstatiert: „Problematisch sei die Sichtweise auf die Täterin, eine attraktive, geheimnisvolle Verführerin“. Dies passt anscheinend nicht so recht in das Klischee, dass Mörder per se immer grobschlächtig und abstoßend sind und selbstverständlich ist es völlig undenkbar, für solche Kreaturen auch noch andere Gefühle als Ekel und Hass zu empfinden.

Eine ähnliche Kritik gab es übrigens auch für den Film „Der Untergang“ von einigen Seiten (unter anderen auch von der Psychoanalytikerin Margarete Mitscherlich). Man hätte Hitler nach Meinung einiger Kritiker viel zu menschlich dargestellt und der Film wäre angelegt, das Dritte Reich zu verharmlosen und Verständnis zu wecken. Für mich ist diese Einschätzung noch nicht einmal ansatzweise nachvollziehbar, denn der Film hat meines Erachtens das Szenario im Führerbunker mit all seinem Irrsinn und seiner Verblendung schonungslos dargestellt. Da zu meinem Bekanntenkreis auch viele Nichtdeutsche gehören, bin ich immer wieder froh, auch mal die Meinung von Menschen zu hören, die keine deutschen Scheuklappen tragen. Als ich einen an deutscher Geschichte sehr interessierten Franzosen von der negativen Einschätzung zum Film „Der Untergang“ erzählte, reagierte er genauso mit Unverständnis wie ich.

Ich frage mich immer wieder, warum Menschen so ein ausgesprochen starkes Bedürfnis danach haben, jeden Versuch, eine Thematik differenziert darzustellen, sofort durch den Vorwurf einer einseitigen Sichtweise zu entwerten. Im Grunde ein Paradoxon schlechthin – die eigene einseitige Sichtweise wird auch bei dem anderen vorausgesetzt. Wer auch nur den Hauch des Verständnisses für einen Täter zeigt, wird rigoros als jemand bewertet, der sich voll und ganz auf dessen Seite stellt und das Leid der Opfer strikt leugnet. Dies ist beileibe nicht nur bei Filmen so, sondern zieht sich durch alle Lebensbereiche.

Was den hier beschriebenen Film „Der Vorleser“ betrifft, so ist es gerade das Fehlen eines Schwarz-Weiß-Schemas, das ihn für mich so sehenswert macht. Der Film macht das, was einen guten Film ausmacht: er wirft Fragen auf und verunsichert. Konfrontation mit der Komplexität menschlicher Gefühle anstatt Reduktion auf plumpe Einteilung in Gut und Böse.




Auf der anderen Seite geschieht es in der heutigen Rechtsprechung doch oft, dass man mehr Verständnis für den Täter als für das Opfer hat.

Menschen sind nicht rationell, wenn ihre Emotionen auf den Plan gerufen werden. Der Kopf hat dann nicht die geringste Chance.

In beiden Punkten stimme ich Dir zu. Auch ich frage mich bei der heutigen Rechtssprechung oft, warum man Unmengen an Zeit (und somit auch Geld) für langwierige Gerichtsprozesse investiert, wenn dabei lediglich lächerlich geringe Bewährungsstrafen oder ebenso lächerliche Arbeitsauflagen herauskommen. Auch bei mir ist es übrigens der Fall, dass mir oftmals jegliches Verständnis für die Täter fehlt, wie z.B. die Kotzbrocken von den Mongols oder Hells Angels, die sich hier in Hamburg gerade Straßenkämpfe wie Mafiaclans in Chicago liefern. Aber dennoch urteile ich es nicht pauschal ab, wenn man sich den biographischen Hintergrund eines Täters näher anschaut, denn nur durch Hintergrundwissen und die Frage nach dem Warum kann die Möglichkeit entstehen, etwas zu verändern.

Dein Blogname "Birgit bedeutet angeblich die Starke" trifft auch auf den Wortstamm meines Vornamens zu. Ich habe allerdings festgestellt, dass diese Deutung in meinem Fall leider doch (zumindest oftmals) daneben liegt.