Montag, 16. November 2015
Je suis Paris

Meine Voraussicht hat sich leider auf schmerzliche Weise bestätigt. Und genauso schmerzlich ist es, zu wissen, dass noch viele andere Orte folgen werden...

Auch am dritten Tag nach dem Massaker herrscht bei uns Entsetzen und Trauer und ich hoffe, dass ich möglichst lange von der Konfrontation mit Begriffen wie "Vorratsdatenspeicherung" und "Generalverdacht" verschont bleibe.

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Mittwoch, 21. Oktober 2015
Israel (7) – Vertriebene
Fortsetzung von Fortsetzung von Israel (6)
Seit zwei Wochen bin ich wieder zuhause und komme jetzt endlich dazu, ein paar meiner Fotos in meine Beiträge einzufügen. Unweigerlich ruft dies jede Menge Erinnerungen hoch. Etwas war diesmal anders als bei meinen bisherigen Reisen, allerdings kann ich dies nur schwer benennen. Ist es die große Widersprüchlichkeit dieses Landes? Man könnte diesen Widerspruch vielleicht so formulieren, dass ein Volk, dessen Geschichte aus Verfolgung und Vertreibung bestand, jetzt selbst Menschen vertreibt. Aber dies ist eben nur zum Teil zutreffend, denn ein großer Teil der Israelis lehnt die Behandlung der Palästinenser ab und steht der Siedlungspolitik äußerst kritisch gegenüber. Die KZ-Überlebende Esther Bejarano kehrte beispielsweise unter anderem auch wegen der Unterdrückung der Palästinenser wieder aus Israel nach Deutschland zurück. Und die Philosophin Hannah Arendt bezeichnet die Gründung des Staates Israel sogar als „Selbstüberschätzung des Judentums“. Der jüdische Schriftsteller Arthur Koestler beschreibt die im Jahr 1917 erfolgte Balfour-Deklaration kritisch als eine Erklärung „ in der eine Nation einer zweiten Nation das Land einer dritten verspricht.“

Während meiner Jugend trugen viele meiner Bekannten ein Palästinensertuch und es war klar vorgegeben, dass man sich solidarisch mit den Palästinensern zu zeigen hatte, denn schließlich waren es die Schwächeren. Und die Schwächeren waren unhinterfragt immer diejenigen, die im Recht sind und denen genauso unhinterfragt jegliches Mittel zur Gegenwehr zugestanden wurde. Als dann im Jahr 1977 die Landshut entführt wurde und drei der palästinensischen Flugzeugentführer bei der Befreiung getötet wurden, bestand demzufolge bei vielen meiner Bekannten die Reaktion auch eher aus Bedauern als aus Erleichterung. Für mich war das tiefe Mitleid mit Menschen, die ohne Skrupel bereit sind, andere Menschen in die Luft zu jagen, kaum nachvollziehbar. Die Schilderungen der Geiseln in Bezug auf den Anführer skizierten von diesem ein Bild, das man ohne Übertreibung als die arabische Version eines Obersturmführers bezeichnen könnte. Als ich dann erst vor kurzem Einzelheiten über die Entebbe-Flugzeugentführung Entführung las, bei der jüdische und nichtjüdische Passagiere selektiert wurden, empfand ich einfach nur noch tiefe Abscheu.

Es steht für mich außer Frage, dass man Menschen nicht einfach aus ihrem Land vertreiben darf und der Anspruch auf ein Land nicht einfach aus dem Umstand abgeleitet werden kann, dort vor über 2000 Jahren ansässig gewesen zu sein. Aber für mich steht genauso außer Frage, dass es nichts gibt, mit dem man Flugzeugentführungen, Bombenattentate und Massakrierungen rechtfertigen kann. Die eigentliche Tragik an dem Palästinakonflikt besteht darin, dass es auf beiden Seiten durchaus viele Menschen gibt, die sich eine friedliche Lösung wünschen, deren Stimme jedoch weitgehend unbeachtet bleibt.

Ich habe mich immer wieder gefragt, welche Rolle bei all der Gewalt die Religion spielt. Ich nehme nicht für mich in Anspruch, fundierte Kenntnisse über die jüdische Religion zu haben, aber für mich ist es erstaunlich, welch himmelweiter Unterschied zwischen orthodoxen und säkularen Juden besteht. Orthodoxe Religiosität stellt immer einen anachronistischen Aspekt dar, nicht nur im Judentum. Allerdings gibt es beim Vergleich zu anderen Religionen etwas, das darüber hinausgeht. Ausgehend von meinen ganz persönlichen Erfahrungen will ich den Versuch machen, dies in Worte zu fassen. Wenn ich zum Beispiel an die Begegnung mit einer in einer Hütte (oder war es eine Höhle?) lebenden hinduistischen Eremitin auf Bali zurückdenke, dann stellt deren Leben selbstverständlich einen riesigen Kontrast zu meinem Leben dar. Aber trotz dieses Kontrastes gibt es etwas, das ich zumindest teilweise nachvollziehen kann, nämlich den Wunsch nach einem spirituellen Leben in der Natur fernab von Technik und Ablenkung. Das gleiche gilt für die vielen buddhistischen Mönche, die mir in Klöstern begegnet sind, die für sich den Weg der Kontemplation gewählt haben.

Wesentlich schwerer fällt es mir jedoch nachzuvollziehen, dass es aus religiösen Gefühlen wichtig sein kann, an bestimmten Tagen keinen Fahrstuhl zu fahren, kein Einschreiben anzunehmen, das Licht nicht an- oder auszuknipsen oder sich nicht mit dem Rollstuhl fortzubewegen. Mir ist noch gut in Erinnerung, dass während meiner Kindheit die Sonntage auch mit bestimmten Geboten belegt waren – man trug festlichere Kleidung, die Geschäfte waren geschlossen und es gab etwas Besonderes zu essen. Dennoch besteht für mich ein Unterschied zwischen den Sonntags- und Sabbatsbräuchen, denn auch wenn es bestimmte verbindliche Sonntagsbräuche gab, so herrschte dennoch eine relative Toleranz gegenüber denjenigen, die diese Regeln nicht einhielten. Und vor allem gab es nicht die merkwürdige Praxis, dass man für bestimmte, am Sonntag unübliche Verrichtungen Andersgläubige beauftragte. Dies ist jedoch durchaus gängig unter ultraorthodoxen Juden, die am Sabbat jemanden – meistens Araber – beispielsweise damit beauftragen, jemanden ins Krankenhaus zu fahren, das Licht anzuknipsen oder die Klimaanlage einzuschalten. Diese Eigentümlichkeit wird noch merkwürdiger dadurch, dass auch hierbei ein wenig getrickst wird, denn eigentlich darf man den jüdischen Vorschriften zufolge für verbotene Tätigkeiten nicht einfach jemanden um deren Ausführung bitten und so wird der Wunsch nach einer Dienstleistung zum Beispiel umgesetzt durch die Mitteilung, jemand sei krank und im Schlafzimmer sei es zu hell oder zu heiß.

Ich will mit meiner Kritik nicht dem allgemein üblichen Brauch anschließen, sich über religiöse Regeln lustig zu machen, mir geht es um etwas anderes, nämlich darum, mir näher anzusehen, was durch bestimmte Regeln erkennbar wird. Wenn eine religiöse Einstellung nur dann konsequent umsetzbar ist, wenn man sich derer bedient, die diese Einstellung nicht haben, bekommt diese Einstellung zwangsläufig etwas Fragwürdiges. Wobei betont sei, dass dies nicht nur im Judentum der Fall ist, sondern derartiges auch in anderen Religionen vorkommt. So ist zum Beispiel in vielen buddhistischen Strömungen der Beruf des Schlachters verpönt, aber dennoch wird dessen Fleisch gekauft und gegessen. Im Hinduismus ist beispielsweise der Beruf des Bestatters sehr schlecht angesehen, aber selbstverständlich werden dessen Dienste in Anspruch genommen.

Ein System, in dem Regeln und Gebote nur dann funktionieren, wenn es dort Menschen gibt, für die diese Regeln und Gebote nicht gelten, offenbart ein elitäres Wertesystem, in dem die Vorstellung von der Gleichheit unter Menschen kein anzustrebendes Ziel darstellt. Für Religionsgegner mag dies der eindeutige und unwiderlegbare Beweis dafür sein, dass Religion sowieso nur Übel mit sich bringt und Religiosität nicht mit Intelligenz und Aufklärung vereinbar ist. Für mich hingegen besteht die Lösung nicht in der Abschaffung der Religion (was wohl auch kaum gelingen dürfte….), sondern darin, Religion immer wieder zu hinterfragen. Es mag sein, dass bestimmte Regeln und Gesetze zu früheren Zeiten sinnvoll waren, es jedoch heute nicht mehr sind. Und dies wird man nur dann herausfinden, wenn man sich immer wieder kritisch mit ihr auseinandersetzt. Für ein vertriebenes und verschlepptes Volk mag es durchaus überlebenswichtig gewesen zu sein, sich seine Identität über die Betonung seiner Stammeszugehörigkeit und die Aufrechterhaltung seines Brauchtums zu bewahren. Aber wenn die Situation sich geändert hat, sollte dies auch wahrgenommen werden und darf sich nicht in das Gegenteil – die Vertreibung anderer – verkehren.

Ich schließe mich der Ansicht des (jüdischen) Philosophen Ernst Bloch an, der davon sprach, man müsse die christliche Religion „beerben“. Diesen Ausspruch halte ich für so wertvoll, dass ich ihn noch dahingehend erweitern möchte, jede Religion zu beerben in Bezug auf diejenigen Werte, die dem Streben nach Gerechtigkeit und friedlichem Zusammenleben dienlich sind. Und genauso, wie man sich nach dem Antritt eines Erbes der unbrauchbaren Anteile entledigt, so sollte man auch mit den Anteilen verfahren, die mit dem Anspruch auf Gerechtigkeit und friedlichem Miteinander unvereinbar sind.

Toleranz2
Diese witzige Zeichnung habe ich im Schaufenster einer kleinen Galerie in Jaffa entdeckt.



Dienstag, 13. Oktober 2015
Israel (6) – ein orangefarbener Hoffnungsschimmer
Fortsetzung von Israel (5)
Eine Frage, die mich während meiner ganzen Reise beschäftigt hat, ist die Frage, ob es jemals Hoffnung auf Frieden für Israel geben wird. Obwohl ich schon vor meiner Reise sehr viel über Israel und Judentum gelesen habe, habe ich keine Antwort auf diese Frage gefunden. Allerdings gab es eine kleine Begebenheit an meinem letzten Tag in Israel. Beim Schlendern durch die Stadt sah ich vor mir zwei Jugendliche in leuchtend orangen T-shirts auf denen zu lesen war „jews and arabs in coexistence“. Die beiden Jugendlichen verschwanden zu schnell aus meinem Blickfeld, als dass ich sie hätte ansprechen können – was ich liebend gern getan hätte. Aber auch wenn dies nicht möglich war, so wecken diese fünf Worte Hoffnung. Es gibt sie also – Menschen, die die gegenseitige Zerstörung beenden wollen und auf Frieden setzten.
Jews and Arabs
Fortsetzung Israel (7) hier



Israel (5) – ein wenig wie Klassenreise
Fortsetzung von Israel (4)
Old Jaffa Hostel, 09.10.2015
Das kann in Israel passieren, wenn man nicht vorher bucht – mein Einzelzimmer war nur für 2 Tage frei und zunächst sieht es so aus, als ob noch nicht einmal ein Dormitory frei ist, aber dann bleibt doch noch ein Bett unbelegt. Ich ziehe also in ein Zehnbettzimmer um, das genau über einer Restaurantzeile liegt. Das letzte Mal habe ich im Alter von 19 in einer Jugendherberge übernachtet. Schon die beiden letzten Nächte konnte ich nur mit Ohrstöpseln schlafen, die allerdings auch keine vollständige Stille verschaffen. Heute Nacht kommt dann noch eine Schlafmaske hinzu, weil die helle Außenbeleuchtung das Zimmer fast taghell scheinen lässt. Mit diesen Hilfsmitteln lässt es sich dann aber wider Erwarten doch ganz gut schlafen. Old Jaffa Hostel Übrigens unterscheiden sich sowohl das jetzige Hostel als auch das Fauzi Azar in Nazareth optisch sehr von unseren Jugendherbergen, denn sowohl Gemeinschaftsräume als auch Einzelzimmer sind nicht so nüchtern wie bei uns gestaltet, sondern mit Unmengen von alten Schwarzweiß-Familienfotos dekoriert. Dadurch fühlt man sich ein bisschen wie jemand, der privat bei einer Familie zu Gast ist.

Ich stelle mir unweigerlich die Frage, ob ich nicht doch etwas zu alt für solche Art zu reisen bin. Aber ich bin längst nicht die Älteste hier, da ist zum Beispiel noch die 82jährige Südafrikanerin Ruth, die zuvor sogar auf dem Boden (!) der Dachterrasse geschlafen hat. Ruth hat bis vor kurzem ehrenamtlich in der Armee im Bereich des Recyclings gearbeitet. Sie ist überzeugte Christin und möchte Israel unbedingt unterstützen. Es ergibt sich ein lebhaftes Gespräch zwischen uns beiden, bei dem deutlich wird, dass Ruth trotz ihres proisraelischen Engagements die Behandlung der Palästinenser verurteilt. Wir unterhalten uns auch über ihre Situation in Südafrika und sie sagt mir, dass die Gewalt gegen Weiße so zugenommen hat, dass sie sich dort nicht mehr wohl fühlt und so manche jüngere Menschen jetzt Südafrika verlassen. Sie erzählt auch von der dortigen hohen Vergewaltigungsrate und dass immer wieder sogar Babys vergewaltigt werden, weil noch an Magie geglaubt wird, der zufolge Sex mit einem Baby Aids heilen würde. Es ist ein sehr düsteres Bild, das Ruth zeichnet und auch wenn ich nicht in allem zustimme, wird für mich verständlich, warum sie vor dem Hintergrund ihres südafrikanischen Lebensalltags Israel als weitaus weniger unsicher empfindet.

Auch mit anderen Reisenden ergeben sich kurze Gespräche und eine junge Hamburgerin teilt meinen Eindruck, dass hier viel mehr ältere Reisende unterwegs sind als in anderen Ländern, wie zum Beispiel in Südostasien. Ich mache mir Gedanken über die möglichen Gründe. Mein Eindruck ist, dass ein Teil der Israelreisenden sehr geschichtsinteressiert ist und ein weiterer Teil das Land wegen der christlichen Stätten bereist. Leute, die einfach nur Fun haben wollen, wie man sie manchmal in Thailand oder Bali trifft, findet man hier hingegen weniger. Dies liegt mit Sicherheit auch daran, dass Israel ein enorm teures Reiseland ist, das das Budget von Studenten schnell übersteigt. Allerdings wird auch hier in Israel jede Menge Unterhaltung geboten, wie zum Beispiel auch hier in Jaffa, dessen Restaurantzeile mich an das Szeneviertel der Hamburger Schanze erinnert. Als äußerst angenehm empfinde ich die Musik, die hier gespielt wird. Weder Techno noch House, stattdessen Blues- und Rockraritäten.

Wider Erwarten habe ich doch ein paar Stunden fest durchgeschlafen und freue mich auf die schöne Dachterrasse auf der ich meine letzten Stunden vor dem Abflug verbringen werde.

Noch ein paar Worte zu Jaffa: genau wie in Jerusalem gibt es eine kleine Altstadt, die aus vielen kleinen Treppen und engen Gassen besteht. Allerdings ist hier erfreulicherweise nicht alles mit Souvenirshops übersäht, sondern es gibt kleine Galerien und echtes Kunsthandwerk. Viel zu teuer zum Kaufen, aber wunderschön anzusehen. Jaffa liegt direkt am Meer und es gibt einen kleinen Hafen und beim Schlendern stoße ich auf die St. Peters Church. In der Kirche, deren Wände aus rötlichem Marmor bestehen und deren Fenster bunt schillernd Heilige darstellen, werden Choräle gespielt und ich bleibe mindestens eine halbe Stunde, um diese meditative Atmosphäre zu genießen.
Fortsetzung Israel (6) hier